"Du musst dich jetzt nicht mehr verstecken." | 71
„Jasiah? Kann ich kurz mit dir reden?", spricht Violet mich an, direkt nachdem Connor geendet und Peyton und er sich auf den Weg ins Jungenwohnheim gemacht haben, um ihre Koffer tatsächlich zu packen. Da der Raum, den Nicolas uns neben seinem Arbeitszimmer zur Verfügung stellt - von dem wir aber jetzt erst erfahren haben, da Alondra uns mit der Information, dass Nicolas gerade beschäftigt ist, den Schlüssel überreicht hat -, im Wohnheim von Daleyza und Violet ist und unser Wohnheim auf der ziemlich anderen Seite des Campus liegt, ist es verständlich, dass die beiden schon so früh losgehen.
„Dann gehe ich schon mal hoch auf unser Zimmer", erklärt Daleyza mit einem Fast-Lächeln in unsere Richtung und wirft Violet einen Blick zu, als würde sie genau wissen, was diese vorhat und sie aufs Dringlichste davon abhalten wollen. Ich runzele die Stirn, aber bevor ich hätte nachfragen können, ist Daleyza schon auf dem Flur verschwunden.
„Ja, klar. Was ist denn los?" Ich lächele sie an, auch wenn ich nach Daleyzas Blick nichts Gutes ahne. Sie klopft neben sich auf das Sofa, auf dem sie direkt sitzen geblieben ist, als die Jungen schon aufgesprungen und los gestiefelt sind. Zögerlich setze ich mich hin und erwidere dann ihren Blick, der lange Zeit auf mir liegt.
„Es ist alles okay mit dir, Jasiah." Mehr sagt sie nicht, mehr braucht sie nicht zu sagen. Sie muss es wissen, wahrscheinlich hat Daleyza ihr davon erzählt. Mein Atem wird schwerfälliger, aber sie sieht mich immer noch stumm an. Ich muss meinen Blick abwenden; ist sie jetzt zu meinem spirituellen Guru geworden? „Das weißt du." Sie nimmt eine meiner Hände in ihre, als müsse sie ihre Worte bekräftigen.
Ich kann nichts sagen und fühle mich wie gelähmt. Wenigstens kann ich mit zitternden Lippen nicken, zu mehr bringe ich es nicht. Violet scheint mich besser zu kennen, als jeder sonst - vielleicht abgesehen von Connor, aber es geht um das Prinzip. Wir kennen uns gerade einmal einen einzigen Monat und es kommt mir vor, als wäre sie mein ganzes Leben lang bei mir gewesen.
Sie streicht mir über den Rücken, dann verweilt ihre Hand auf einer Stelle. „Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich es wusste. Und ich möchte dir für den Fall, dass ich es vielleicht doch gewusst oder wenigstens geahnt habe, versichern, dass du dich nicht verstecken musst. Ich weiß, dass man sich vor den Menschen - wenn auch unterbewusst - oft verstellt. Meistens sogar vor denen, die man über alles liebt. Wenn man dann zu hören bekommt, dass das Versteckspiel unnötig war, hat das nicht den erleichternden Effekt, den geliebte Personen erzielen wollten." Ich bedecke mein Gesicht mit meiner Hand - und lasse ihre somit los -, da mir sonst die Tränen gekommen wären, aber Violet nimmt meine größere Hand wieder in ihre und verschränkt unsere Finger diesmal ineinander. Bei ihr hat das keinesfalls die gleichen Auswirkungen, als würde Connor das tun, es ist rein freundschaftlich und das wissen wir beide. Trotzdem fühlt es sich fast genauso gut und irgendwie beruhigend an.
Violet zwingt mich mit dem Druck ihrer Hand in meiner dazu, sie anzusehen, was ich auch tue. Meine Augen müssen wohl gerötet aussehen, aber sie lächelt mich nur sanft an. „Du musst dich jetzt nicht mehr verstecken, Jasiah. Ich will nur, dass du das weißt." Jetzt kommen mir tatsächlich die Tränen. Ihre Worte gehen mir tief unter die Haut.
Selbst wenn man mich jetzt als Heulsuse darstellen will - ich habe im letzten Monat mehr geweint, als irgendwann sonst in meinem Leben -, kann ich rein gar nichts dagegen tun. Ich fühle mich befreit. Als hätte ich die Wasseroberfläche durchbrochen und könnte nun endlich wieder atmen. Meine Hand wandert zu meiner Brust, an die Stelle, an der sich mein Herz befinden sollte.
„Danke", erwidere ich, als ich mich zumindest ansatzweise wieder beruhigt habe. Sie sagt nichts, sondern lächelt mich nur sanft an. Dann reicht sie mir ein Taschentuch - wo sie das hergezaubert hat, weiß ich nicht - und streicht mir eine Weile über den Rücken.
Ich erwidere ihr Lächeln, als ich mich dazu in der Lage fühle und es fällt nicht so zittrig aus, wie sich vielleicht vermuten ließe. „Ich habe selten erlebt, dass Daleyza und Connor einer Meinung waren, aber die beiden haben sich jetzt ja wirklich hervorragend verstanden." Violet scheint zu versuchen, mich auf andere Gedanken zu bringen und das ist genau das, was ich jetzt brauche - vor allem, wenn es in diesem Gedanken um Connor geht.
Ich nicke, leicht lächelnd bei dem Gedanken daran, dass auch die beiden miteinander klarkommen, wo sie sich vorher noch gefühlt gegenseitig die Pest an den Hals gewünscht haben. Und so leid es mir für ihn tut - Connor war bei dieser ganzen Sache nicht unschuldig. „Ja, das ist wahr. Es freut mich, dass sie ihren Krieg endlich beendet haben."
Violets Hand hält in ihren Bewegungen inne und sie pikt mir in meinen Oberarm, als müsse sie betonen, dass sie bei ihren nächsten Worten von mir redet. „Eigentlich hast du ja ihren Krieg beendet." Da ich nicht ganz verstehe, was sie mir damit sagen will, ziehe ich meine Augenbrauen in die Höhe, aber sie versteht wohl das internationale Zeichen für Wie meinst du das? oder auch Wie bitte? nicht.
Aus diesem Grund stelle ich die Frage noch einmal laut, damit sie nachvollziehen kann, was ich von ihr will: „Wie meinst du das, Violet? Inwiefern habe ich denn ihren Krieg beendet?" Sie grinst mich an und irgendwie glaube ich, dass sie mich gerade für vollkommen bescheuert hält. Vielleicht bin ich das auch oder ich bin einfach nur blind. Möglicherweise ja auch beides zusammen.
Als sie meinen Blick bemerkt, beginnt sie, laut loszulachen. Dann wird sie jedoch schnell wieder ernster und klärt mich auf: „Indem du dich vor Daleyza geoutet hast. Connor empfindet Daleyza jetzt nicht mehr als Bedrohung und Daleyza Connor andersherum genauso wenig, da sie weiß, dass sie eh keine Chance bei dir hätte." Violet zuckt mit den Schultern, dann scheint ihr noch etwas einzufallen. „Wobei sie das wahrscheinlich nicht einmal gehabt hätte, wenn Connor nicht existieren würde."
Ich runzele meine Stirn und überlege über ihre Worte. Vor allem der letzte Satz macht mir sehr zu schaffen, genau weiß ich auch nicht warum. „Auch wenn ich mir ein Leben ohne Connor nicht gerne vorstellen möchte: Wie meinst du das? Warum hätte sie in diesem Fall keine Chance gehabt?" Definitiv blind und dämlich. Da hilft gutes Aussehen auch nicht weiter.
Violet scheint schon wieder nicht zu verstehen, warum ich so schwer von Begriff bin - ich weiß es ja selbst nicht. „Weil du schwul bist?"
Ich lache, obwohl mein Herz um einiges schneller schlägt, als noch vor ein paar Sekunden. Das Lachen klingt in meinen eigenen Ohren nervös. Es ist wirklich neu für mich, dass Leute das ansprechen. „Ja, schon, aber warum sollte das ihre Chancen verschlechtern?"
„Weil du nicht auf Frauen stehst." Jetzt redet sie auch noch langsam, als wäre ich ein bisschen sehr neben der Spur. Oder als hätte ich einen geistigen Schaden, aber ich bin wahrscheinlich eine Beleidigung für sämtliche psychisch kranke Menschen. Ich sollte vielleicht aufhören, mich selbst in den Dreck zu ziehen, am Ende glaube ich noch daran - auch wenn sich das jetzt so anhört, als wäre das keine plausible Erklärung für mein schwer-von-Begriff-sein, denn eigentlich ist es das.
Dann fällt mir wieder ein, wovon wir hier gerade sprechen und dass Violet augenscheinlich keine Psychiaterin ist. Dazu bräuchte sie schließlich einen Abschluss in Psychologie und noch vieles mehr, mit dem ich mich nicht beschäftigt habe, weswegen ich jetzt lieber nichts weiter sage, als Falschinformationen zu verbreiten. Lieber schweigen, als lügen, hat meine Mutter immer gesagt. Und ich lüge ja sowieso nicht gerne.
„Aber damit hat Connor doch nichts zu tun, Violet." Ich muss leicht lachen. „Wenn er nicht existieren würde, hätte Daleyza genauso wenig eine Chance bei mir gehabt, wie sie es in dieser Realität hat."
Violet runzelt ebenfalls die Stirn, während sie augenscheinlich über meine Worte nachdenkt. „Trotzdem warst du mit ihr zusammen." Sie schaut sich suchend im Raum um, als könnte ihr die halb vertrocknete Zimmerpflanze in der Ecke eine Erklärung für meine Taten liefern. Auch wenn ich selbst viel zu lange daran geglaubt habe, dass es das Richtige war, kann ich im Nachhinein nicht verstehen, wieso ich da überhaupt so lange mitgemacht habe. Ich bin einfach froh, dass es vorbei ist.
Ich druckse kurz herum, da ich nicht weiß, was ich antworten soll, dann erwidere ich: „Das ist ein wenig zu kompliziert, als dass ich es dir jetzt so auf die Schnelle erklären könnte." Entschuldigend lächele ich sie an, aber auch dieses Mal lässt sie nicht locker - im wahrsten Sinne der Worte, denn sie klammert sich an meinen Arm fest, als müsse ich ihr Halt geben. Oder als versuche sie mir Halt zu geben, sicher bin ich mir nicht.
„Irgendwem musst du es aber erzählen, Jasiah. Sonst frisst es dich auf." Mit einem besorgten Blick schaut Violet mich an und hält mich noch ein wenig fester. Sie scheint wirklich wissen zu wollen, auf welchen Drogen ich war, als ich zugestimmt habe, Daleyzas Fake-Freund zu sein - wenn sie es herausfinden sollte, kann sie es mir ja gerne erzählen, denn ich weiß es nämlich nicht.
„Bist du zur Wahrsagerin oder zur Hexe mutiert?" Ich lache, als Schutzreaktion und weil ich nicht weiß, was ich sonst tun soll.
„Nein, ich bin nur eine gute Freundin." Sie grinst mich an und pikt diesmal in meine Seite, wodurch ich zusammenfahre und sie ein wenig böse anschaue. Aber mein Blick stachelt ihr Lachen nur noch weiter an und da ihr Lachen das ansteckendste ist, was es auf dieser Welt gibt, lache ich bald mit. Nach einer Weile ist mir auch egal, worüber wir lachen - eigentlich habe ich es vergessen -, weil es sich gut anfühlt, glücklich zu sein. Nicht jedes Wort, das man sagt, muss einhundertmal überdacht werden. Das nimmt etwas von dem Druck, der auf meinen Schultern lastet, weg.
Als ich ihre Worte noch einmal überdenke, muss ich in mich hinein lächeln. „Ja, das bist du."
----
Ich mag ihre Freundschaft :D
Habt einen schönen Tag <3
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro