Aufklärung | 29
Ich warte auf das Gefühl der Überraschung, aber es kommt nicht. Auch wenn wir nicht darüber gesprochen haben - Diskretion und das Ganze -, ich habe sogar fast erwartet, sie hier anzutreffen. Vielleicht, weil Violet auch hier ist. Genau wie Connor und ich. Dass das so ein Mitbewohner-Ding ist. Aber woher hätte ich das auch wissen sollen?
Peyton ist jedenfalls auch da. Das stelle ich nach einem allumfassenden Blick durch den Raum fest. Außerdem ist da so ein Typ mit langen Haaren, der versucht, verstecken zu spielen, ohne, dass jemand nach ihm sucht. Der Gedanke daran macht mich traurig und ich muss den Blick abwenden.
„Nicolas", hebt Miss Strathairn ab, aber was sie danach sagt, geht in meiner Gleichgültigkeit unter. Es ist wie surfen. Ich gleite mit dem Gefühl mit, ich kann mich nicht gegen die Massen wehren. Und ich will es auch nicht. Zu viel Kraftaufwand für wenige Resultate.
Ich starre diesen Nicolas-Kerl an. Er ist ein richtiger Bibliothekar: Der Anzug ist maßgeschneidert, aber nicht modern, sondern mehr so retro-mäßig. Seine Haare liegen glatt auf seinem Kopf, fehlen nur Mittelscheitel und Brille. Ich glaube, ich muss mich mit so kleinen Sachen ablenken, um Daleyza nicht ansehen zu müssen. Oder Connor. Den kann ich jetzt auch nicht anschauen.
Der Raum, in dem wir uns befinden, ist schön und alt. Anders lässt er sich nicht beschreiben, außer, dass er offensichtlich als Arbeitszimmer gedacht und eingerichtet ist. Ich kratze mich am Kopf; vielleicht versuche ich zu erfühlen, ob ich noch existiere. Mein Körper fühlt sich nämlich nicht sonderlich lebendig an, aber das kann auch daran liegen, dass ich plötzlich taub bin und mich an meinen Traum erinnert fühle. Wenn dann jetzt bitte noch Flammen über meine Haut tanzen würden, wäre ich sehr zufrieden, vielen Dank.
Aber stattdessen werde ich in die Realität gerissen - und nicht etwa, weil ich anfange, tatsächlich zu brennen, wie ein Vampir, der der Meinung war, Sonnenbaden sei lustig, sondern weil Nicolas seine Stimme erhebt. „Sie kennen sich", erklärt er, als wüssten wir das nicht selbst. Ich habe das kindliche, aber äußerst präsente Bedürfnis, die Augen zu verdrehen, aber ich lasse es. Wenn ich schon in einer anderen Dimension vor mich hinvegetiere, kann ich wenigstens einmal ordnungsgemäß zuhören.
Ehrlich gesagt hasse ich es manchmal, dass ich immer alles ins Lächerliche ziehen muss. Irgendwann ist der Spaß nämlich auch mal vorbei - das zeigt mir der Ausdruck auf den Gesichtern der Anderen. Vergebens versuche ich, mich daran zu erinnern, was Nicolas so Weltbewegendes gesagt hat, was ich verpasst haben könnte, aber mit Ausnahme seiner sensationellen Erkenntnis ist da nichts. Oder zumindest nichts, woran ich mich erinnern kann.
Es ist kalt. Keine Ahnung, woher diese glorreiche Erkenntnis kommt, es ist mir einfach so aufgefallen. Aber nicht so klimaanlagenkalt, sondern mehr so wie ein August in der Antarktis. Kann man Konzentrations-Training machen? Wenn ja - immer her damit! Ich könnte sowas echt mal gebrauchen.
Aber inzwischen ist mir sogar ziemlich egal, was Nicolas da vor sich hin redet. Ich verstehe sowieso nicht, was das ist. Als hätte er sich stumm geschaltet.
Komischerweise werde ich angesehen, als sich die Schwärze aufklart, die meine Sicht hat verschwimmen lassen. Wurde ich angesprochen? Mir wird schwindelig, als ich über die Vielzahl an Möglichkeiten nachdenke, die es an Tathergängen gibt und ich lenke meine Gedanken lieber in eine andere Richtung.
„Jasiah?", fragen Connor und Daleyza gleichzeitig. Ersterer wirkt vorsichtig, Letztere vollkommen irritiert. Ich kneife angestrengt die Augen zusammen und als ich sie wieder öffne, steht alles Kopf. Schatten durchziehen mein Blickfeld, sie kommen auf mich zu und ich glaube, sie wollen mich mit in ihr Reich nehmen.
Ich zucke zusammen und reiße die Augen auf. Dann räuspere ich mich und sehe mich einmal in der Runde um. Sämtliche Augen sind auf mich gerichtet, sogar die des Langhaarigen. Das Grinsen fällt zittrig aus, also unterdrücke ich es. Es gibt einfach nichts, über das ich lachen könnte. Und dabei weiß ich ja noch nicht einmal, wieso dem so ist.
„Hast du zugehört?", will Nicolas dann wissen, seine Tonlage die eines besorgten Vaters. Mir steigen Tränen in die Augen; woher soll ich bitte wissen, wie ein besorgter Vater klingt? Ich habe ja keinen richtigen. Und selbst wenn Viele darüber froh wären, Sergio ihren Vater nennen zu können, würde ich meinen leiblichen Vater doch gerne kennen. Würde gerne wissen, was er in dieser Situation tun würde.
Meine Fingernägel schürfen die gebräunte Haut um meine Ellenbogen auf und es tut weh, aber ich verziehe keine Miene. „Nein, ich war mit dem Brennen und in Selbstmitleid Versinken beschäftigt. Worum ging es?" Die letzten Worte müssen gepresst klingen, denn ich beiße meine Zähne fest aufeinander, um das Zittern meiner Lippen zu unterdrücken.
„Ich wollte euch darüber aufklären, warum ihr hier seid", erwidert Nicolas noch immer verständnisvoller, als er in seiner Position sein sollte. So langsam beginne ich daran zu zweifeln, ob er wirklich ein einfacher Bibliothekar ist. Bei diesem Gedankengang runzele ich die Stirn, aber das bemerkt niemand. Alle haben ihre Augen mittlerweile auf den braunhaarigen Mann gerichtet, der sich durch seinen getrimmten Bart fährt. „Um das zu verstehen, müsst ihr aber erst einmal wissen, wer wir sind." Dabei weist er auf unsere Englischlehrerin, den langhaarigen Typen und sich selbst. „Mein Name ist Nicolas. Bevor ich hier hergekommen bin, habe ich in einem Labor ein paar Stunden entfernt gearbeitet, das zur damaligen Zeit eng mit dieser Schule kooperiert hat.
Auch Alondra - nennt sie doch bitte außerhalb des Unterrichtes so - hat in diesem Labor gearbeitet und dort haben wir uns kennengelernt. Als sie gefragt wurde, ob sie nicht lieber als Professorin hier anfangen will, hat sie zugestimmt und jetzt sind wir hier.
Der junge Mann in den Schatten - du kannst gerne herkommen - ist Silver. Sprecht ihn bitte nur so an. Alles andere wäre zu diesem Zeitpunkt noch zu kompliziert. Er und Alondra arbeiten mit mir zusammen, verschaffen mir Informationen für meine Forschungen, die ich außerhalb des Labors, in dem ich gearbeitet habe, angefangen und hier schließlich fortgeführt habe.
Nun zu euch. Um eines festzuhalten: Ihr könnt jederzeit aussteigen. Wenn ihr sagt, dass euch das alles zu riskant ist, sagt das, geht und kommt nie wieder." Er wartet einige Sekunden, vielleicht darauf, dass sich jemand dazu entscheidet, lieber unwissend zu bleiben. Aber da wir scheinbar alle von unserer Neugier getrieben werden, wagt es niemand, sich auch nur zu bewegen. „In Ordnung, hätten wir das auch geklärt. Ich möchte, dass ihr mit mir zusammenarbeitet. Miteinander arbeitet. Eure Aufgabe wird sein, mir den Rücken freizuhalten - es gibt nämlich so einige Leute, die der Meinung sind, meine Arbeit könnte auch für das Böse genutzt werden. Wie das auf der Welt eben ist.
Eigentlich weiß so ziemlich jeder von euch, was er kann. Aber ich möchte das noch einmal kurz zusammenfassen, denn ihr sollt alles übereinander wissen, damit ihr nicht nur mich, sondern euch auch gegenseitig entlasten könnt. Konkretere Anweisungen kann ich euch zu diesem Zeitpunkt noch nicht erteilen, aber ihr werdet so einiges zu tun kriegen - ziemlich viel illegales Zeug, also ist es wichtig, dass ihr euch eine Tarnung aussucht. Beispielsweise eine Lerngruppe oder eine AG unter meiner Leitung." Nicolas sieht jeden von uns durchdringend an.
„Also sind wir eigentlich ein verdammtes Syndikat", stelle ich fest und Connor versteckt sein Lachen hinter einem gekünstelten Huster. Nicolas findet das nur halb so lustig wie er, aber mindestens doppelt so sehr, wie ich. Die Proportionen sind daher durchaus vorstellbar, denke ich.
„Nein", betont Nicolas nachdrücklich. „Wir kämpfen für die Guten." Ich schnaube verächtlich und lasse mich auch nicht davon irritieren, dass Daleyza mich leicht am Ellenbogen berührt. Ich muss nicht auf sie hören, wir sind gar nicht zusammen.
Dass jeder das trotzdem denkt, macht mich in diesem Moment unsagbar wütend und so schmettere ich zurück: „Genau das denken die Bösen auch. Richtig muss nicht gut sein, falsch nicht schlecht. Selbst wenn wir für die Guten kämpfen, verstoßen wir scheinbar dabei gegen das Gesetz. Ich glaube nicht, dass sich Gesetzeshüter gegen dieses stellen sollten." Ich kneife verärgert die Augen zusammen und beobachte, wie Nicolas und Alondra einen Blick austauschen, als hätten sie diese Reaktion meinerseits bereits erwartet. Dieses Mal halte ich einfach den Mund, weil es wahrscheinlich das Beste ist. Ich wollte ja auch keinen Stress anfangen oder so, ich wollte sie praktisch gesehen nur darauf aufmerksam machen, dass ihre Gerechtigkeits-Tour keinen Sinn ergibt, wenn sie gegen das Gesetz handeln.
„Du hast recht", erwidert Nicolas überraschenderweise und nickt mir zu. „Wir wissen nicht, ob das, was wir tun, richtig ist. Woher auch? Es geht nur darum, dass wir andere davon abhalten, die gesamte Menschheit zu vernichten." Das ist doch ein ganz alltäglicher Job, ich weiß gar nicht, warum er daraus so ein Drama macht.
„Warum sollten wir dir vertrauen?", will ich wissen und blicke mich um. Keiner der anderen scheint gewillt zu sein, irgendetwas gegen Nicolas zu sagen. Sie schweigen und schweigen weiter, als würden sie das Gespräch gar nicht hören. „Du sagtest, wenn sie deine Technologien oder Erfindungen oder was auch immer stehlen, könnten sie damit die Menschheit vernichten. Wie können wir wissen, dass du das nicht tust?"
„Ich verstehe, dass du dich darum sorgst und es ist in Ordnung, mir nicht zu vertrauen. Wenn du nicht mitmachen willst, kannst du, wie gesagt gehen." Er muss wissen, dass ich nicht einfach gehen werde. Dafür bin ich viel zu neugierig, was das alles zu bedeuten hat. Ein paar Sekunden herrscht Schweigen, während dem er wahrscheinlich darauf wartet, dass ich den Raum verlasse oder etwas sage. Zumindest starrt er mich so an, als würde er das tun. „Okay", eröffnet er dann. „Fangen wir an.
Violet. Deine Kraft ist es, wie du vor der Tür schon bewiesen hast, Dinge zu bewegen, die sich nicht bewegen lassen. Telekinese, wenn man das so erklären kann. Außerdem ist es dir ermöglicht, aus der Luft nur mithilfe deiner Gedanken Dinge zu formen und damit Menschen zu helfen - oder sie zu zerstören." Genannte schluckt, als sie von allen Seiten angesehen wird. Bevor wir sie jedoch mit Fragen durchlöchern können, macht Nicolas gnadenlos weiter.
„Connor. Du bist in der Lage, Erinnerungsbruchstücke von Personen einzusehen, sobald du sie berührst und ohne Körperkontakt kannst du Auren sehen. Manchmal bemerkst du, dass Leute eine dunkle Ausstrahlung haben - das hilft uns, um zu erkennen, wer böse Absichten hat und wer nicht.
Peyton. Deine Kraft besteht aus einer enorm hohen Geschwindigkeit sowie wahnsinniger Kraft. Du kannst so gut wie alles heben, verschieben und woanders hinbringen - aber du musst die Dinge tatsächlich bewegen und nicht wie Violet deine Gedanken benutzen. Deine ‚Achillesverse', wenn man das so nennen kann, ist ein Punkt auf dem Rücken, der dich, im Gegensatz zum Namensgeber, nicht tötet, sondern für ein paar Minuten deine Kräfte und dich selbst ausknockt.
Daleyza. Du verschaffst dir Informationen, indem du welche aus deinem Verstand in die eines anderen überträgst und im Austausch dafür selbst welche nimmst. Irgendwann kann es dazu kommen, dass du keine Informationen mehr austauschen musst. Bisher hast du nur daran gedacht, sie dafür zu verwenden, anderen zu helfen - aber wenn du eigennützig denkst, wärst du in der Lage, Leute Dinge vergessen zu lassen, wenigstens für kurze Zeit. Noch bist du ein wenig schusselig, sodass du Informationen nicht lange übertragen kannst, daran müssen wir noch arbeiten." Nicolas macht eine Pause und wird angestarrt. Von allen möglichen Seiten. Ich schließe die Augen in der Erwartung, nun zu erfahren, was meine besondere Fähigkeit sein sollte. Denn - um ganz ehrlich zu sein - ich glaube nicht, dass ich auch nur halb so besonders bin, wie die Leute um mich herum.
„Was ist mit Jasiah?", fragt Violet schließlich, als Nicolas nach mehreren Minuten immer noch nichts gesagt hat. Er wirft ihr einen Blick zu, der sie am Schweigen hält.
„Silver ist unser IT-Experte. Er kann sich in sämtliche Computer hacken. Darum müsst ihr euch also nicht kümmern, falls das zu euren Sorgen gehört.
Nun zu mir: Ich manipuliere Menschen. Ich bringe sie dazu, das zu tun, was ich will, was sie tun. Also theoretisch seid ihr nicht so frei, wie ihr denkt. Aber ich lasse euch die Illusion, weil ihr nicht ganz so im Körper eines eingekesselten Tieres stecken solltet. Ich habe an mir selbst experimentiert, nachdem ich das Labor verlassen habe. Dabei wäre es sehr wahrscheinlich gewesen, dass ich sterbe. Ich bin jedoch nicht gestorben und stehe - kerngesund - direkt vor euch." Ein erschrockenes Ausatmen von Connor, geschockte Blicke von den anderen Dreien. Ich weiß nicht, wie ich mich fühlen soll und noch weniger, wie es mir möglich wäre, diese unerkennbaren Gefühle in eine Reaktion zu verpacken.
„Warum erzählst du uns das?", fragt Connor. Die Frage ist berechtigt und die Antwort darauf würde mich ehrlich gesagt auch interessieren, aber ich habe mich, statt die Frage zu stellen, dafür entschieden, zu schweigen. Vielleicht wusste ich ja, dass jemand fragen würde, oder es wäre mir egal, wenn ich keine Antwort auf diese Frage bekommen hätte.
„Weil ich offen mit euch sein will. Es geht mir nicht darum, euch in irgendetwas zu verstricken. Ich brauche eure Hilfe. Ich möchte, dass wir alle als Team zusammen arbeiten." Die grünen Augen leuchten und wirken so ehrlich, dass ich gar nicht anders kann, als ihm zu glauben. Ich denke mal, das meint er damit, dass er Leute manipulieren kann.
„Was ist mit Jasiah?", wiederholt Peyton Violets Frage von vorhin und erntet damit interessierte Blicke, die sich dann direkt auf Nicolas richten.
„Jasiah?", hakt er nach, als würde er diesen Namen nicht kennen. Doch dann sieht er mir direkt in die Seele. „Der ist unsterblich."
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Jetzt ist es raus :D Und ja, ich habe seeehr lange gebraucht, bis es zu diesem Gespräch gekommen ist xD Ich hoffe, es gefällt euch ^^
Das Kapitel ist ein wenig länger, als die Anderen, aber ich wollte nicht einfach irgendwo einen Cut setzen - ich bin nicht immer so fies! :D
Okay, jetzt will ich einen kräftigen Trommelwirbel, denn ich habe wirklich wieder Fragen:
Wem tat Jasiah am Anfang auch leid? Also mir auf jeden Fall ...
Auf einer Skala von eins bis zwei ... ach ne. Auf einer Skala von eins bis zehn, wie sehr feiert ihr Jasiahs Humor? Wie sieht eure Favorite-Character-Rangliste aus? Wer steht ganz oben, wer ganz unten?
Wer ist noch der Meinung, dass Jasiah jetzt einfach aus dem Fenster springt, um es zu testen? Zuzutrauen wäre es ihm auf jeden Fall ...
Was haltet ihr so von den Kräften der ganzen Leute? Also ich bin neidisch :')
Ich wünsche euch allen einen wunderschönen Tag <3
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