Abschied | 82
Ich finde Connor in einem vollkommen verspiegelten Raum mit geöffneter Tür vor, als hätte er auf mich gewartet. Niemand hält mich auf, als ich durch die geöffnete Metalltür in den von einer einzigen Glühbirne beleuchteten Raum trete. Aber es gibt ja auch niemanden weit und breit, der mich aufhalten könnte. „Was ist das hier?", frage ich, mit dem Rücken zur Tür. Nicht meine beste Idee, aber durch den riesigen Spiegel, der mir gegenüber hängt, kann ich genau beobachten, was hinter mir vor sich geht.
Connor sieht mich an, als hätte ich ihm ins Gesicht geschlagen. Einen Moment lang vergesse ich alles, was passiert ist, gehe einen Schritt auf ihn zu und will ihn in den Arm nehmen. Dann fällt mir wieder ein, was er getan hat und ich entziehe mich aus seiner Gehirnwäsche. Meine Hände zu Fäusten ballend erstarre ich auf der Stelle, an die mich meine Füße zuletzt gebracht haben - etwa zwei Meter von Connor entfernt.
Dieser schließt kurz die Augen und wischt sich über das Gesicht. Er macht Anstalten, sich auf den Boden zu setzen, seine Knie zittern heftig, aber er entscheidet sich letztendlich wohl doch dagegen. „Ein Raum, in dem die Experimente starken Schmerzen und ihren größten Ängsten ausgesetzt werden. Na ja ... einer der Räume." Er beißt auf seiner Lippe herum und es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren.
Vor meinem inneren Auge sehe ich das Blut, das in Rinnsalen über den Felsen läuft und Violets toten Körper mit dem gebrochenen Genick. Mit einem Mal fällt es mir wieder sehr viel leichter, Connor als das, was er nun einmal ist, zu sehen: Ein Verräter. Mehr als das. Er ist ein Mörder, auch wenn er nicht selbst auf Peyton geschossen hat.
Die Tür fällt mit einem Mal ins Schloss, aber ich habe niemanden gesehen, der sie zugemacht hat. Dann bemerke ich eine Kamera, an deren oberer Ecke ein kleines Licht rot blinkt. Wahrscheinlich wurde die Tür automatisch geschlossen und dadurch hat sich die Kamera angeschaltet. Anders kann ich es mir nicht erklären.
Als hätte das Geräusch der zufallenden Tür mich aus einem Albtraum aufgeweckt, sehe ich Connor kalt an. Was sich vor meinen Augen abspielt, als ich ihn anschaue, erschreckt mich, obwohl er von außen nicht anders aussieht, als sonst. Ich habe sogar leichte Kopfschmerzen, aber die sind schon seit längerer Zeit nicht mehr so stark wie die, die ich ganz am Anfang hatte. Wenn ich es könnte, würde ich das Band, das laut Nicolas zwischen uns besteht und mir diese Kopfschmerzen bereitet, eigenhändig zerschneiden.
Connor erwidert meinen Blick nur vorsichtig. Wenn er weiß, wie sehr es mich verletzt, dass er der Verräter war, wieso hat er uns dann erst verraten? Das ergibt doch gar keinen Sinn! "Wo zur Hölle ist Peyton?!", belle ich Connor an, der durch meinen schroffen Ton zusammenzuckt. Aber ich kann mich nicht beherrschen und werfe ihm nur einen vollkommen wutentbrannten Blick zu. "Wo ist er?!" Inzwischen kann ich nicht anders, als zu schreien, was wahrscheinlich ein Schutzmechanismus ist. In allen anderen Fällen würde ich mich vor seine Füße erbrechen.
"Ich weiß es nicht", flüstert Connor erstickt. Immer noch wütend sehe ich mich um. Dass ich mit ihm in diesen verdammten Raum mit den viel zu weißen Wänden und den sauberen Spiegel, die überall herumhängen, gesperrt bin, verheißt nichts Gutes, auch wenn es meine eigene Idee war. Aber als ich hierhergekommen bin, war die Tür auch noch offen.
"Denk nach, Connor!", fordere ich ihn auf. Er wimmert und ihm laufen Tränen über die Wangen. Ich muss den Blick abwenden, weil ich sonst schwach geworden wäre. Mein Herz tut mir weh und ich muss mir die Brust halten, damit es nicht zerbricht. Als er auch nach gut drei Minuten nicht antwortet, schließe ich die Augen, da ich große Angst davor habe, die nächste Frage zu stellen. Aber ich muss. „Warum?"
Connor schließt auch die Augen und keucht. Er scheint keine Luft zu bekommen, aber ich kann nur dabei zusehen, wie er sich nach Luft ringend auf seine Knie stützt. „Er hat meinen Bruder. Meinen kleinen Bruder." Ich ziehe scharf die Luft ein, als diese erstickten Laute Connors Mund verlassen. „Er ist wie du. Er war auch ein Teil des Experimentes. Aber er ist jünger. Er war das dritte Kind." Connor hustet weiter, er scheint große Schmerzen zu haben.
Geschockt starre ich ihn an. Auch wenn das kein Grund für diese Art von Verrat ist, habe ich ein wenig Mitleid mit ihm. Aber vielleicht erzählt er mir auch nur wieder eine Lüge. Das kann er ja ziemlich gut, wie mir scheint, schließlich hat er mich gut anderthalb Monate lang belogen. Hat mir vorgespielt, mich zu mögen und jemand ganz anderes zu sein, als er eigentlich ist.
Bevor ich jedoch etwas erwidern kann, wird die eiserne Tür wieder geöffnet und mein Vater tritt ein - ein kleines Mädchen hinter ihm, von zwei der Experimente konfrontiert. Deren Blick sieht aus, als hätte es gerade ein Trauma-Erlebnis hinter sich, als es sich von meinem Vater lösen will, um zu mir zu kommen. Scheinbar merken kleine Kinder schnell, wer gut und wer böse ist.
"Hilfe!", haucht die Kleine erstickt und hustet einige Sekunden lang vor sich hin. Was immer sie ihr angetan haben, ich werde dafür jedem Einzelnen die Kehle durchtrennen. Unsagbare Wut erfasst mich und ich werfe Connor einen vernichtenden Blick zu. Mein Vater klatscht in die Hände und ich werfe ihm einen Blick zu, kälter als ein August in der Antarktis. Nach seiner ersten Geste dreht er sich kurz zu seinen Handlangern um und zeigt auf das Mädchen, das laut schreiend und rufend weggebracht wird.
"Endlich weiß er Bescheid." Das Grinsen ist so ekelhaft, dass ich ihn am liebsten gefoltert hätte, bis er langsam verblutet, um ihn dann wiederzubeleben und das Gleiche nochmal zu tun. Immer wieder. Bis er so gebrochen wie ich ist. Meine Atmung wird schneller und ich kann mich nicht kontrollieren. Die Fingernägel der einen Hand bohren sich in den Unterarm des anderen Arms und ich fühle mich, als würde ich mich wie eine Zelle immer und immer weiter teilen. Ich zerspringe in meine Einzelteile.
"Er weiß noch nicht alles", erwidert Connor leise und ich lache ironisch, fast hysterisch auf. Meint er mit noch nicht alles, dass da noch etwas kommt? Abgesehen davon, dass er im Endeffekt dafür gesorgt hat, dass Violet stirbt, indem er dem Scharfschützen gesagt hat, wo Peytons Schwachpunkt ist? Abgesehen davon, dass er gesagt hat, er würde Silver bewachen, dass der Nicolas nichts sagt? Woher kann ich wissen, dass der nicht auch tot ist? Gibt es da wirklich noch mehr?
Tränen der Wut steigen mir in die Augen, als ich daran denke, was für ein glückliches Leben wir zusammen hätten haben können. „Was kommt denn noch?! Was hast du noch zu sagen, hm?! Willst du meine Seele haben?! Nimm sie gerne, mein Herz habe ich ja auch schon verloren! Wieso die nicht auch noch?" Ich packe Connor aus einer unverständlichen Gefühlsmischung heraus am Kragen seines Shirts. „Du hast mich verraten, wer weiß, wie oft. Was willst du mir denn noch antun?" Ich hätte ihm vielleicht sogar das mit Violet verziehen, weil er wohl das Gleiche für mich getan hätte - aber der Connor, den ich kenne, existiert eigentlich gar nicht, wieso sollte ich diesem Scheinbild also hinterhertrauern? Vielleicht ist die Tatsache, dass ich mich in dieses Scheinbild verliebt habe, ein plausibler Grund.
Mein Vater lacht ätzend, aber ich kann ihn nicht einmal ansehen. Er ist mir so egal, so gleichgültig, dass mein Blick kalt wird. Connor zuckt wieder zusammen, aber auch das ist mir vollkommen egal. "Er hatte die Aufgabe, dich zu zerstören, mein Sohn. Und er hat diese Aufgabe mit Bravour gemeistert." Ich sehe ihn immer noch nicht an, auch nicht im Spiegel, sondern durchlöchere Connor stattdessen mit meinen Augen. Damit zwinge ich ihn auch fast dazu, seinen Blick auf mir zu halten.
Connor schaut so gequält drein, dass ich nur noch wütender werde. Was verdammt ist nur los mit ihm? Noch vor ein paar Stunden war er der liebevolle, etwas schüchterne, aber trotzdem irgendwie dominante junge Mann, den ich mit Herz und Seele begehrt habe - so sehr, dass es wehtut. Aber jetzt? Jetzt ist er ein größerer Verräter als die Person, die man mit dem Verrat assoziiert: Judas. Ich kann es einfach nicht glauben.
So langsam verstehe ich, was mein Vater damit meint, dass Connor mich zerstören soll. Verdammt, er hat mich ihn lieben lassen, er hat dafür gesorgt, dass ich ihm vertraue. Ich habe ihm so viel erzählt, meine Ängste, meine Träume, weil ich ja nicht wissen konnte, dass er mich auf diese Weise hintergehen würde. „War das von Anfang an dein Plan?! Mich zu verführen, damit ich auf seine Seite komme?! Du mieser Verräter!" Meine Stimme bricht und mir fehlen die Worte, aber das interessiert mich nicht. Mir läuft eine Träne über die Wange, die ich verärgert mit dem Saum meines Ärmels wegwische. „Was davon war wirklich echt?!" Diese Frage ist ganz einfach zu beantworten: Nichts. Nichts von dem, was er mir vorgeheuchelt hat, war echt. Rein gar nichts.
Das Gefühl, mir würde jemand die Luft aus den Lungen pressen und mich so vom Schreien abhalten, wenn ein Messer mein Herz entzweit, wird immer stärker. Mein Atem geht nur noch flach und kurz und ich würde jetzt lieber ersticken, als hier zu stehen und in Connors schuldbewusste Augen zu starren.
Sein Gesicht ist schmerzverzerrt und obwohl ich inzwischen weiß, was ich nun mal weiß - dass er uns alle an meinen Vater verraten hat und außerdem einen Teil der Schuld an Violets Tod trägt - würde ich am liebsten alles vergessen, ihn in den Arm nehmen und küssen. Ihn bedingungslos lieben, wie ich das ja sowieso tue. Auch, wenn das ein riesiger Fehler ist.
„Nun, er hat das Tagebuch für mich gestohlen und dich für mich darauf aufmerksam gemacht, dass ich existiere. Er hat dich netterweise auch auf die Idee gebracht, hierherzukommen - und du bist ihm wie ein Schoßhund nachgelaufen, ohne zu wissen, dass er dich nur benutzt hat." Er geht aus der Tür, wahrscheinlich, um das kleine Mädchen umzubringen oder dafür zu sorgen, dass es krank, kalt und kaputt wird. Vielleicht passe ich ja ganz gut in seine Experimente-Sammlung.
Er hat dich nur benutzt.
Ich gehe zwei Schritte auf Connor zu, um das zu erledigen, was ich eigentlich schon die ganze Zeit tun musste - auch wenn ich mir zwischendrin unsicher war, ob ich das wirklich durchziehen kann. Aber nach diesem Gespräch fühle ich mich so bekräftigt in meinem Handeln wie noch nie - auch wenn ich es nicht will. „Jasiah ...", will Connor beginnen, aber ich halte ihn auf, indem ich meine Lippen auf seine lege. Es ist ein Abschiedskuss, aber das muss er jetzt ja noch nicht wissen. Sein leises Stöhnen geht im Rauschen meines Blutes unter und ich fühle mich zurückversetzt zu dem Tag, an dem ich ihn das erste Mal geküsst habe.
Bevor ich nostalgisch werden kann, löse ich mich von ihm und sein Blick wird noch gequälter. „Ich liebe dich wirklich, Connor." In dem Moment, als er etwas erwidern will, ramme ich ihm das Messer, mit dem ich eigentlich Seven hätte umbringen sollen und das ich glücklicherweise vor meinem Vater verstecken konnte, in die Brust. Noch während ich ihn im Arm halte, als das Leben aus seinem Körper entweicht, wünsche ich mir, dass ich auch so richtig sterben könnte.
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Dieser Moment, wenn man 'The One That Got Away' von Katy Perry hört, während man das hier schreibt und einfach nur heult.
Was soll ich denn noch sagen, damit ihr mich nicht hasst? Da gibt es wahrscheinlich nichts, oder? Aber ich stehe eben nicht auf Happy Ends, tut mir ja leid. Auch wenn ich mir mit diesem Ende hier echt ins eigene Fleisch geschnitten habe, weil ich Connor echt vermissen werde. Wenigstens ist das noch nicht das richtige Ende. Ich hoffe, dass ihr, nachdem der Epilog und noch ein (vielleicht auch zwei) Zusatzkapitel draußen sind, trotzdem noch Lust auf die Fortsetzung habt.
Die richtig langen Worte hebe ich mir für das Nachwort und oder die Danksagung auf, denke ich.
Habt einen nicht allzu schrecklichen Tag :)
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