Nur ein Märchen
Nach meiner kleinen Auseinandersetzung mit Tom Riddle im Zaubertränkeunterricht schlief ich so schlecht, wie ich es das letzte Mal während der Flucht vor den Todessern getan hatte. Ich litt beinahe unter Verfolgungswahn, drehte mich nachts in meinem Bett hin und her und fand keinen Schlaf. Und wenn ich es doch tat, dann erwachte ich immer wieder aus Albträumen. Das Schlimmste an alledem war, dass ich mich keiner Menschenseele anvertrauen konnte. Trotzdem verfolgte ich weiterhin meinen Plan, mich Tom Riddle gegenüber betont unbekümmert und freundlich zu geben. Doch die Tatsache, dass ich dem jungen Lord Voldemort ein Dorn im Auge war, war beinahe unerträglich. Ich versuchte die Fassade aufrecht zu erhalten, doch jedes Mal, wenn ich Riddle sah und in seine unerträglich kalten und gnadenlosen Augen blickte, begann mein Herz vor Furcht schneller zu schlagen. Ich konnte ihn nicht ansehen und vergessen, was er all diesen Menschen antun werden würde. Und bis jetzt hatte in keine gute Ader in ihm erkennen können - Alles das er tat, war entweder von Gleichgültigkeit oder leiser Boshaftigkeit geprägt. Ich konnte den späteren Voldemort ohne Zweifel in ihm erkennen, doch ich sah nichts das einen ansatzweise normalen jungen Mann in seinem Inneren vermuten ließ. Wahrscheinlich war bereits jede Rettung zu spät.
Ich saß in der Bibliothek und arbeitete an meinen Astronomiehausaufgaben, bei denen Tom Riddle mir als mein Mentor eigentlich hätte helfen sollen. Doch wie zu erwarten hatte er mir nur einen missbilligenden Blick zugeworfen und keine Antwort gegeben, als ich ihn gefragt hatte, ob er sich treffen wollen würde.
Vor den Fenstern tobte ein heftiger Herbststurm, der Regen und Hagel in geraumen Mengen gegen die Scheiben peitschen ließ. Es war erst fünf Uhr, doch der Himmel war von dunklen Wolken verhangen und schluckte jedes Tageslicht. Alles in allem war das Wetter ebenso trist wie meine Stimmung. Kaum einer meiner Mitschüler verbrachte den Nachmittag in der Bibliothek, denn es war noch zu früh im Schuljahr, als dass sie schon viele Gedanken an Hausaufgaben verschwenden würden. Nur das vereinzelte Kratzen von Federn auf Pergament und das gelegentliche Umblättern von Buchseiten ertönte in der Stille.
Ich war vertieft in die Lektüre, als ein Windstoß unvermittelt mein Haar bewegte. Ich drehte mich instinktiv zur Tür um. Im Rahmen stand Tom Riddle, der mir einen kurzen, kalten Blick zuwarf und dann auf mich zukam. Ich schenkte ihm ein einladendes Lächeln, das mir allerdings nur sehr schwer über die Lippen ging.
„Professor Dumbledore hat mich geschickt." erklärte Tom mit gleichgültiger Miene. „Ihm sei aufgefallen, dass du sehr viel Zeit alleine verbringst und ich meine Aufgabe als Mentor ernster nehmen sollte. Hast du ihn etwa dazu angehalten?" In der letzten Frage schwang eine deutliche Drohung mit.
„Nein!" antwortete ich schnell. „Ich habe kein Problem damit, alleine zu sein."
Tom nickte kurz angebunden und nahm gegenüber von mir Platz. Schweigend arbeiteten wir an unseren Hausaufgaben und wechselten für die nächste Stunde kein Wort. Ich traute mich nicht mit ihm zu sprechen, denn ich befürchtete, dass es dafür noch zu früh war. Tom war nur aus Zwang hier, er wollte seinem Ruf bei den Lehrern nicht schaden. Trotzdem bedeutete es, dass er meine Gesellschaft unter bestimmten Vorraussetzungen tolerieren konnte - Ein kleiner Erfolg.
Als ich meine Arbeit beendet hatte und meine Sachen zu packen begann, griff Riddle ohne zu fragen nach meiner ausgefüllten Sternenkarte und korrigierte sie mit seinem Federkiel. Als er fertig war, warf er mir einen unergründlichen Blick zu. Neugierig schaute ich nach, was Tom verbessert hatte, doch er schien nur einen einzigen Fehler gefunden zu haben. Das missfiel ihm, obwohl er es zu verstecken versuchte.
„Danke für die Anmerkung." sagte ich lächelnd und packte Bücher, Federkiel und Tinte in meine Umhängetasche.
Tom nickte kurz angebunden und wandte sich erneut seinen eigenen Notizen zu, als sein Blick auf die Bücher vor mir fiel.
„Was liest du?" verlangte der Slytherin mit unverkennbarer Schärfe in der Stimme zu erfahren.
„Das sind nur Notizbücher..." begann ich zu erklären, doch Tom unterbrach mich umgehend.
„Ich meine das." er deutete mit beinahe angewidertem Gesichtsausdruck auf das Buch, das zu meiner Rechten lag.
Meine Laune verbesserte sich ein wenig, denn ich liebte dieses Buch. Es stammte aus meinen Kindertagen und war mir von meiner Urgroßmutter vererbt worden. „Das ist eine Sammlung von illustrierten Märchen. Die Geschichten erinnern mich an meine Familie und meine Kindheit." Es tat mir beinahe weh, etwas so Persönliches mit Tom Riddle teilen zu müssen.
„Das ist eine Schande." war Riddle's ernüchternde Antwort, die mir augenblicklich das Lächeln von den Lippen wischte.
Normalerweise hätte ich ich mich nun einfach abgewandt, wieder meinen Büchern zugekehrt und einen so unerfreulichen Gesprächspartner gemieden. Doch ich konnte mich auf meiner Mission nicht so verhalten und verschließen, wie ich es unter anderen Umständen getan hätte.
„Du solltest den Geschichten eine Chance geben, ich kann dir mein Buch leihen." Innerlich betete ich, dass er mein Angebot nicht annehmen möge. Ich traute ihm zu, dass er das Buch aus purer Boshaftigkeit vernichten würde. Tom Riddle zog jedoch nur missbilligend die Augenbrauen zusammen und wirkte frustriert und ablehnend zugleich.
„Oh ich kenne diese erbärmlichen Muggel-Märchen, Holmwood." zischte er mir leise zu. "In dem Waisenhaus, in dem ich aufgewachsen bin, wurden uns diese Geschichten immer wieder vorgelesen." Damit niemand ihn hören konnte, hatte er sich näher zu mir gebeugt und ich hatte das augenblickliche Bedürfnis, ein Stück von ihm wegzurutschen - Ich widerstand dem Drang mit aller Kraft.
„Du bist in einem Waisenhaus mit Muggeln aufgewachsen?" fragte ich atemlos und konnte kaum glauben, dass ich etwas Persönliches von Tom Riddle erfuhr.
Doch mein Gegenüber sah nun aus, als würde er seine Zunge verschlucken wollen. „Glaube ja nicht, dass ich mich deinesgleichen zugehörig fühle, Holmwood. Ich habe es dort gehasst."
„Wo waren deine Eltern?" Sprudelte die Frage aus meinem Mund. Ich musste diesen kurzen Moment seiner Schwäche nutzen.
„Tot. Aber sie waren bedeutende Zauberer. Anders als bei dir, oder diesen verunreinigten Mischlingen. In meinen Adern fließt uralte Magie." antwortete Tom selbstüberzeugt, doch er schien sich jede Sekunde mehr über dieses unerfreuliche Gespräch zu ärgern.
„Aber woher willst du das wissen? Weißt du, wer sie sind?" platzte ich hervor und wusste sofort, dass ich nun zu weit gegangen war.
In Tom Riddle's Augen loderte ein Licht auf, dass ihn furchterregend erscheinen ließ. Seine sonst so glatten und perfekt kontrollierten Gesichtszüge verzerrten sich zu einer Grimasse, die ihn nahezu animalisch erscheinen ließ.
Erschrocken rutschte ich so weit wie möglich von ihm weg und wäre beinahe von meinem Stuhl gefallen. „Es tut mir Leid", stammelte ich. „Ich wollte dir nichts unterstellen. Ich war nur neugierig."
Doch Tom's Augen blieben zu schmalen Schlitzen verzerrt. Ich hätte schwören können, dass er unter seinem Umhang seinen Zauberstab umklammert hielt und ich, wenn wir alleine gewesen wären, den Cruciatus-Fluch zu spüren bekommen hätte. Tom schien denselben Gedanken zu haben, denn er sah sich zu beiden Seiten um, zischte wütend als er Madam Pince entdeckte, drehte sich dann auf dem Absatz um und verließ mit langen Schritten und wehendem Umhang die Bibliothek.
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