Kapitel 4
Als ich am nächsten Morgen erwachte, taten mein Rücken und mein Nacken furchtbar weh. Ich sah mich um. Anscheinend hatte ich auf der Fensterbank geschlafen, das erklärte wenigstens die Schmerzen. Mein nächster Gedanke war, warum mein verdammter Wecker nicht geklingelt hatte! Ich sah auf der Uhr an der Wand, dass es bereits 8:45 war und ich schon zur zweiten Stunde zu spät kam! Ich war zwar nicht gerade begeistert, zur Schule und mich dem ganzen Mist stellen zu müssen, doch mir blieb wohl nichts anderes übrig. Schnell sprang ich auf und sprintete unter die Dusche. Das kalte Wasser tat mir gut. Nachdem ich mir schnell eine Jeans anzog und ein schwarzes T-Shirt überwarf, beeilte ich mich, nach unten zu kommen, damit meine Mom mich zur Schule bringen konnte. Warum zum Teufel hatte sie mich eigentlich nicht geweckt? Ich kam schlitternd in der Küche zum Stehen, in der meine Mom zeitungslesend und kaffeetrinkend am Tisch saß. Sie sah auf und schaute mich mit besorgtem Blick an.
"Was machst du denn um diese Zeit schon hier? Es ist doch grade mal kurz vor neun", meinte sie. Ich stutzte. "Weil ich zur Schule muss?", fragte ich langsam. Verlor hier jetzt jeder den Verstand? "Schatz? Heute beginnen die Ferien, das weißt du doch", antwortete sie mit hochgezogener Augenbraue. Ferien? Ach ja! Freitag war der letzte Schultag gewesen! Das hatte ich total vergessen. Offensichtlich verlor nur ich den Verstand. "Hast du das wirklich vergessen?", wollte meine Mutter besorgt wissen. "Nein, nein natürlich nicht, ich war nur...", murmelte ich. Meine Mom stand auf, kam auf mich zu und nahm mich in den Arm. "Schhh, Baby, alles gut, das kann mal passieren, du hattest in den letzten Tagen viel um die Ohren... alles ist gut... schhhh...", sie strich mir beruhigend über den Kopf. Ich starrte nur perplex vor mich hin. Wie konnte ich das vergessen? Ich vergaß nie etwas. Niemals. Meine Mom löste sich von mir und hielt mich leicht von sich weg. "Hast du Hunger? Ich mach dir auch Pfannkuchen und Rührei, wenn du willst", sie lächelte mich aufmunternd an. Ich schüttelte den Kopf. "Nein, ich hab keinen Hunger, ich geh wieder nach oben und... leg mich hin", murmelte ich mit gesenkten Schultern und ging nach oben. Ich schlüpfte in eine Jogginhose und ein Schlabbershirt und kuschelte mich in mein Bett. Ich konnte nicht schlafen, aber die Stille tat mir gut.
Nach einiger Zeit klopfte es an meiner Tür. Meine Mom stand davor, mit einem Tablett mit heißer Schokolade mit Marshmallows und Sahne. Und hinter ihr... Nico! Ich sprang auf und warf mich ihm in die Arme. Meine Mom stellte das Tablett auf den Tisch in meiner kleinen Sofaecke und ging wieder aus dem Zimmer, aber nicht, ohne mir vorher noch einmal über den Rücken gestrichen und Nico auf die Schulter geklopft zu haben. Ich sah hoch in seine braunen Augen und bemerkte mal wieder, wie gut er aussah. Er war ein bisschen größer als ich, hatte braune Haare und Augen und war gut gebaut. Außerdem hatte er kleine Lachfältchen um die Augen. Er sah wirklich gut aus, aber seitdem wir in der Grundschule mal "zusammen" gewesen waren, sah ich ihn nur noch als meinen besten Freund, an den ich mich immer wenden konnte, wenn es mir schlecht ging. Ich lenhte mich an ihn, was gar nicht so einfach war, weil er so klein war, und atmete seinen Geruch ein. Das beruhigte mich ein bisschen. Doch dieser erinnerte mich auch daran, wie oft ich so bei Nico gestanden hatte, als ich mal wieder zu großen Liebeskummer wegen Tarek hatte. Gott, ich war so dumm und einfältig gewesen. Als gäbe es nichts Schlimmeres, als meine Schüchternheit. Ich hätte mich selbst ohrfeigen können.
Nico musste meinen Stimmungswechsel gespürt haben, denn er steuerte mich Richtung Sofa und drückte mir eine Tasse Schokolade in die Hand. "Hast du schon was gegessen?", war das Erste, was er sagte. Ich zuckte mit den Schultern. "Claire, die Wahrheit." Er sah mich eindringlich an. Ich sah zu Boden und schüttelte betreten den Kopf. "Hatte keinen Hunger", murmelte ich. Nico seufzte. "Du musst was essen, wann hast du das letzte Mal was gegessen?", fragte er mich besorgt. Ich überlegte, konnte mich aber nicht wirklich dran erinnern, also zuckte ich erneut die Schultern. "Du weißt es nicht mehr?", fragte er mich schockiert. Erneutes Schulterzucken. "Sowas hatte ich mir zum Glück schon gedacht", sagte er und kramte in einer weißen Plastiktüte, die ich noch gar nicht bemerkt hatte. Gott, was war denn mit mir los?
Ach ja, die Liebe meines Lebens war gestorben, hatte ich ja fast vergessen. Himmel, jetzt war ich sogar schon in meinen Gedanken sarkastisch zu mir selbst, ich verlor wirklich den Verstand. Nico holte zwei Boxen hervor, die verräterisch nach thailändischem Essen dufteten. Ich schaute ihn skeptisch an. "Findest du es nicht etwas zu früh, um Asiatisch zu essen?", fragte ich ihn mit hochgezogenen Augenbrauen. "Erstens, es ist nie zu früh, um asiatisch zu essen. Zweitens ist das deine Lieblingsnudelbox. Drittens, hast du mal auf die Uhr geguckt?!" Ich sah zur Uhr und mir blieb der Mund offen stehen. Es war tatsächlich schon halb eins! Ich hatte mehr als drei Stunden in meinem Zimmer gelegen, dabei war es mir wie zehn Minuten vorgekommen! Ich schüttelte den Kopf. Es war zum verrückt werden. Ich merkte echt nichts mehr.
Doch auch der Geruch der gebratenen Nudeln mit dem Hähnchen und der Erdnusssoße brachten meinen Appetit nicht in Gang. Ich schob die Box von mir weg, doch Nico schob sie mir wieder zu. "Du musst essen", sagte er sanft, fügte aber strenger hinzu: "Oder ich flöß es dir ein. Und wenn das nicht klappt, hol ich deinen Bruder." Okay das war ein Argument. Ich nahm die Nudelbox und aß ein bisschen. Mein Magen knurrte und bedankte sich für die Füllung. Ich hatte meinen Hunger nicht bemerkt, genau wie alles andere um mich rum.
Nico musste meinen Magen gehört haben, denn er grinste mich an. "Ich hab's dir doch gleich gesagt." Ich rang mir ein Lächeln ab, doch es war nicht wirklich ehrlich. Das Grinsen verschwand aus Nicos Gesicht und er musterte mich besorgt. "Hör mal Kleines, ich weiß, du warst verliebt, aber du kannst dich doch jetzt nicht für immer in deinem Zimmer verschanzen. Du brauchst Ablenkung, dringend. Wie wäre es, gehen wir wohin? Eis essen oder Kino oder was auch immer du willst?", er sah mich bittend, ja schon fast flehend an. Trotz diesem Blick fühlte ich mich nicht im Stande irgendwas zu tun, also schüttelte ich nur den Kopf. "Nein, ich- ich bin noch nicht soweit."
"Ich hab ja auch nicht gesagt, dass du dir gleich nen Kerl aufreißen sollst", lachte Nico, wurde aber gleich wieder ernst. "Ich will nur nicht zusehen, wie du daran zerbrichst, verstößt du?" Ich zuckte die Schultern. "Du schließt dich hier ein und redest mit niemandem und lässt nicht mal deine Mutter an dich ran und ich soll dabei tatenlos zusehen? Das kannst du nicht im Ernst von mir erwarten!" Er umfasste meine Schultern mit seinen Händen und schüttelte mich. Doch ich sah ihn nur mit ausdruckslosen Augen an. "Claire, du bist wie eine kleine Schwester für mich, ich muss doch auf dich aufpassen! Bitte, ich ertrage es nicht, wenn du traurig bist. Lächle doch bitte, nur einmal, für mich", er sah mich direkt an. Ich konnte nicht, ich versuchte es wirklich, aber irgendetwas tief in mir verhinderte das. Ich hatte das Gefühl, dass ich ausgesaugt wurde, als ob alles Positive aus mir verschwand.
"Claire, das bist nicht du. Das sehe ich doch. Ich will doch nur meine alte Claire zurück, die, die über jeden noch so schlechten Witz lacht, auch wenn sie ihn selber erzählt. Die, die immer Hunger hat, egal auf was. Die, die bei allem was sie tut, mit einer Leidenschaft dabei ist, die ich noch nie gesehen habe. Bitte, du weißt doch, dass es keinen Sinn hat, in Trauer zu versinken, man muss Trauer verarbeiten, man muss-", frustriert brach er ab und raufte sich die Haare. Ich sah ihn weiterhin mit jener Ausdruckslosigkeit an, die sich wie ein Schleier auf mich gelegt zu haben schien. Nico hatte recht. "Ich bin nicht mehr diese Claire. Er hat sie mir genommen, meine Freude", sagte ich mit einer Stimme, die ich nicht als meine eigene erkannte. Nico schaute mich entsetzt an. "Die Claire, die ich kenne, würde sowas niemals sagen." "Die Claire, die du kennst, existiert nicht mehr. Sie ist tot", kam es mit einer Kälte aus meinem Mund, die ich noch nie an mir gehört hatte. Ich erhob mich aus der Sitzecke und setzte mich wieder auf meine Fensterbank. "Ich wäre jetzt gerne alleine, ich muss über ein paar Sachen nachdenken." Mein Gesicht war von Nico abgewandt, aber im Fenster konnte ich seine Reflexion sehen, wie er ebenfalls aufstand und ein paar Schritte in meine Richtung machte, bevor er es sich anders überlegte und Richtung Tür ging.
"Claire", er drehte sich noch einmal um, "du weißt, wo du mich findest, wenn du reden willst. Ich bin nie weit entfernt. Vergiss das nicht, du bist nicht allein." Mit diesen Worten ging er endlich durch die Tür und zog sie hinter sich zu. Ich blieb allein mit meinen Gedanken zurück und starrte nach draußen in die Ferne.
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