Kapitel 2
Mein Geist regte sich erst langsam wieder. Am liebsten wollte ich mein restliches sinnloses Leben für immer in dieser Dunkelheit verbringen und einfach nur vergessen. Doch das war mir nicht vergönnt. Die Finsternis, die mich umhüllte, fing langsam an, sich zu lichten, bis ich ein grelles Licht wahrnahm, welches mich fast erblinden ließ. Ich blinzelte gegen das Licht an und langsam erschien in meinem Sichtfeld ein weißer Raum. Es war alles sehr karg und steril eingerichtet, es gab einen kleinen Holzschrank, einen Sessel vor dem Fenster und das Bett in dem ich lag. Ein Krankenhaus. Ich vernahm einen leichten Druck an meiner rechten Hand und drehte meinen Kopf in diese Richtung. Meine Mutter saß neben meinem Bett und sah mich aus traurigen Augen an. "Ich hab es schon gehört. Es tut mir so leid, mein Schatz", sagte sie und strich mir eine blonde Strähne hinter mein Ohr. Ich sah sie mit verschleiertem Blick an. "Ich konnte es ihm nicht sagen, Mama. Ich hab es versäumt. Jetzt wird er es nie erfahren, weil er- weil er-", ich konnte es einfach nicht aussprechen. Alles was ich konnte, war zu verstummen. Wenn ich es nicht aussprach, dann war es auch nicht war. "Schhhh... alles wird gut... Hauptsache du bist unverletzt." Meine Mutter nahm mich in die Arme und strich mir über die Haare. Ja, ich war unverletzt und hatte nur einen kleinen Kreislaufzusammenbruch. Doch er... er war... Er wird es nie erfahren. Niemals.
Tarek. Er war ein wundervoller Mensch. Das wusste ich einfach, auch wenn ich niemals mit ihm gesprochen hatte. Ich redete mir ein, dass er nicht tot war, solange ich es leugnete. Solange ich es leugnete war er noch da. Er war nicht einfach weg. Nein. Ich hatte nie mit ihm gesprochen, aber ich hatte ihn geliebt. Aus der Ferne habe ich ihm zugeschaut, habe mich manchmal sogar in der Bibliothek neben ihn gesetzt, doch ich hatte nie den Mut ihn anzusprechen. Mehr als ein kleines Lächeln hatte ich nie zu Stande gebracht. Ich war mir nicht einmal sicher, ob er wusste, dass ich existierte. Vermutlich wusste er nicht mal meinen Namen. So viele Male hatte ich es mir vorgenommen, mit ihm zu sprechen, doch jedes Mal bekam ich weiche Knie. Meine Freunde waren schon ziemlich entnervt von meiner Schwärmerei und sagten mir, ich solle ihn endlich ansprechen, bevor es zu spät war und er Abitur gemacht oder eine andere Freundin hatte. Doch ich- ich war einfach nur feige. Sogar mit unserem Vertrauenslehrer, Herrn Engel, hatte ich darüber gesprochen. Er versuchte mir Mut zu machen, doch auch das brachte nichts. Ich war einfach unfähig. Und jetzt hatte ich verloren, hatte ich ihn verloren. Für immer. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals, doch ich weinte nicht. Ich konnte nicht.
In mir war nur Leere und Finsternis. Das Einzige, was ich spürte, war mein schnell pochendes Herz. Es fühlte sich an, als ob es aus meiner Brust springen wollte. Ich konnte es ihm nicht verübeln. Meine Mutter strich mir noch ein letztes Mal über das Haar, bevor sie sich erhob. Ich sah sie nicht an. Ich hatte nur einen Gedanken. Er war nicht tot. Er war nicht tot. Er war nicht tot. Ich weigerte mich, dass zu glauben. "Die Ärzte haben gesagt, dass sie dich noch beobachten wollen und du deshalb morgen erst entlassen wirst. Sie meinen, unter Schock stehende Patienten bräuchten erstmal ein bisschen Ruhe. Ich komme dich dann morgen früh abholen. Ruh dich aus. Schlaf ein bisschen." Meine Mutter gab mir einen Kuss auf die Stirn und verließ dann das Zimmer. Ich sank in mein Bett zurück und starrte an die weiße Decke. Sie war genauso leer wie ich.
Ich war total erschöpft, doch ich konnte nicht schlafen. Der Schweiß rann mir über meine Stirn und ich wischte ihn mit einer Hand beiseite. Ich legte mich auf eine Seite, doch auch das nützte nichts. Ich seufzte. Sollte ich keine Ruhe finden? Die Gedanken flogen wie Düsenjets durch meinen Kopf und immer wenn ich einen zu fassen bekam, war es als würde er eine Bombe explodieren lassen. Die Erinnerungen an den heutigen Morgen waren noch zu frisch und schmerzhaft. Ich wollte mich nur in meine Decke einkuscheln und schlafen. Vielleicht war das alles auch nur ein schrecklicher Alptraum. Wenn ich einschlief, würde ich in meinem Bett aufwachen und alles wäre gut. Doch tief in meinem Inneren wusste ich, dass dies kein Traum war. Nein, dies war die eiskalte Realität. Ich schwang die Beine über die Bettkante und stand in meine Decke gehüllt auf. Ich schlüpfte in meine pinken Hasenpuschen, die meine Mutter mir mitgebracht haben musste, und schlurfte zum Sessel am Fenster. Ich ließ mich hineinsinken und starrte hinaus.
Mittlerweile war es später Abend und der Schein des Vollmondes und der Glanz der Sterne fielen auf mein Gesicht. Ich liebte den Mond. Er hatte immer etwas Geheimnisvolles an sich gehabt, um was ich ihn beneidete. Schon albern, einen Mond zu beneiden. Aber er hatte etwas ungemein Tröstliches an sich, so wie er dort strahlend am Himmel stand, in diesem Meer aus Sternen. Ich würde am liebsten alles hinter mir lassen und zum Mond fliegen, so wie ich es als kleines Kind immer mit meinem Vater gespielt hatte. Er hatte mir aus einem großen Pappkarton eine Rakete gebaut. Sie hatte sogar ein Schaltpult mit einem beweglichen Hebel. Es war einfach wunderbar gewesen. Diese kindliche Unbeschwertheit, als man sich noch um nichts Sorgen machen musste und die Welt noch in Ordnung war. Doch heute war alles anders. Trotz seines faszinierenden Lichtes konnte ich mich nicht wie sonst fallen lassen und alle schlechten Dinge vergessen. Heute schien nicht mal er durch meine innere Leere zu dringen. Nichts vermochte diese Leere zu füllen. Gar nichts. Und mit diesem Gefühl der unendlichen Verlassenheit in meinen Eingeweiden übermannte mich doch noch der Schlaf.
Ich befand mich auf einer scheinbar endlosen Landstraße. Die Sonne schien mir ins Gesicht und ich ließ mich ins weiche, grüne Gras mit dem Rücken an einen Baum sinken. Es war ein wundervoller, Mittsommertag und ich genoss die Wärme. Eigentlich hätte ich hier noch Stunden verbringen können, mit der lauwarmen Brise in meinem Gesicht, doch plötzlich frischte der Wind auf. Ich schlang die Arme eng um meinen Körper und sah mich um. Von dem königlichen Blau des Himmels war nichts mehr zu sehen und auch die Sonne war verschwunden. Stattdessen sah ich mich nun einer Sturmfront gegenüber und die Bäume krümmten sich im Wind. Auch ihre Blätter waren nun kein saftiges Grün mehr, sondern hatten ein schmutziges Braun angenommen. Der Wind peitschte mir meine langen blonden Haare ins Gesicht. Ich wollte nach Hause, doch als ich loslaufen wollte, bewegten sich meine Beine keinen Zentimeter. Ich strengte mich noch mehr an, doch es war nichts zu machen. Mittlerweile hatte es auch noch angefangen zu regnen. Jeder Tropfen fühlte sich wie ein Nadelstich auf meiner nackten Haut an. Ich begann gerade zu verzweifeln, als ich auf die Straße sah. Und was ich da erblickte, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren.
Von links kam ein Auto angefahren. Ein kleiner, schwarzer VW Polo. Nein. Das wollte ich nicht sehen! Es war Tareks Auto. Von rechts kamen zwei Autos, eines wollte gerade überholen. Nebel zog urplötzlich auf und ich sah, wie sich die zwei Scheinwerfer immer näher kamen. "Haaaaaalt!", brüllte ich und streckte die Hand mit der Handfläche nach vorne aus, als ob ich den Autos signalisieren wollte, anzuhalten. Doch sie sahen mich nicht. Und ich kam nicht weg. Ich wollte die Augen schließen, doch auch dies blieb mir versagt. Ich hatte komplett die Kontrolle über meinen Körper verloren. Das Einzige was mir blieb, war der Anblick, als die beiden Autos aufeinanderprallten. Ich hörte quietschende Bremsen und zersplitterndes Glas. Dann sah ich Flammen. Überall Flammen. Mein Körper begann, mir wieder zu gehorchen, doch es kam mir vor, als würde ich mich in Zeitlupe bewegen, als ich zu Tareks Auto hastete. Es war mir egal, dass ich in Glasscherben trat und meine Fußsohlen zerschnitten wurden. Alle meine Gedanken galten einzig und allein Tarek. Ich lief zur Fahrertür und versuchte sie zu öffnen, doch sie klemmte. Ich rüttelte und hämmerte gegen das gesplitterte Fenster. Erst als ich mich mit ganzer Kraft mit den Füßen gegen das Auto stemmte und an der Tür zog, gab sie nach und den Blick auf Tarek frei.
Ich stieß ein Keuchen aus und schlug mir die Hände vor den Mund. Der Anblick war grauenvoll. Tarek hatte eine gewaltige Platzwunde am Kopf und sein Schädel sah irgendwie verformt aus. Seine Arme standen in einem komischen Winkel ab, genau wie seine Beine. Und dieses Blut. Überall war Blut! In seinem Gesicht, auf dem Airbag, an seinem Körper, im Auto, einfach überall. Ich versuchte mich zu beruhigen und ging näher an ihn ran, um seinen Puls zu messen. Da! Er war ganz schwach, aber er war da. Ich hakte mich unter seine Arme und schnallte ihn ab. Dann zog ich ihn mit größter Anstrengung aus dem lichterloh brennenden Auto auf die Straße.
Ich wollte ihn gerade in die stabile Seitenlage bringen, als sich seine Augen langsam öffneten. Das Blau hatte immer noch dieselbe Farbe wie der Ozean und seinen Glanz noch nicht verloren. Seine blonden Haare hatten sich aus dem Dutt teilweise gelöst und hingen ihm ihn wirren Strähnen ins Gesicht. Er sah mich an und gab ein schwaches Stöhnen von sich. Ich beeilte mich zu seinem Kopf zu kommen, bettete ihn in meinen Schoß und nahm seine Hand. Er gab etwas Unverständliches von sich und ich beugte mich näher zu ihm, um ihn besser zu verstehen. "Zu... spät...", keuchte er und hustete Blut. "Nein, nein, es ist nicht zu spät! Du lebst, oder nicht? Ich hatte recht, du bist nicht tot! Du lebst!" Ich bekam meine hysterische Stimme kaum noch unter Kontrolle. Mein Kopf wusste, dass es nichts Gutes heißen konnte, dass er Blut hustete, aber mein Herz weigerte sich, das zu akzeptieren.
"Nein... zu... spät...", hustete er. Ich hielt ihm meinen Finger an die blutüberströmten Lippen. "Du darfst jetzt nicht reden. Das macht es nur noch schlimmer. Bleib einfach ruhig liegen. Der Krankenwagen kommt gleich." Ich versuchte mehr, mich davon zu überzeugen, als ihn. Er schüttelte mit letzter Kraft den Kopf. Dann sackte auch dieser zur Seite und seine Hand in meiner erschlaffte. "Nein, Tarek! Wach auf! Stirb mir jetzt nicht weg! Ich wollte doch noch, ich wollte doch noch...", schluchzte ich, als die Tränen überquollen. In heißen Strömen liefen sie über meine Wangen und tropften auf Tareks Gesicht. Auf sein wunderschönes Gesicht. Ich strich ihm die blutverkrusteten Haare aus dem Gesicht und hörte in der Ferne die Sirenen eines Krankenwagens. Mit letzter Willensstärke versuchte ich, ihn wiederzubeleben. Ich beatmete ihn und drückte auf sein Herz. Doch ich vernahm weder Atem noch Puls.
Der Wind hatte sich gelegt und die Sonne schien hämisch auf uns herab. Der erste Sanitäter zog mich von Tareks Körper weg und ich wehrte mich nicht. Er begutachtete den Jungen und schaute dann zu seinem Kollegen. Ich fühlte, wie mich langsam etwas von diesem Ort hinfort zog. Meine Umgebung verschwamm, doch ich wollte nicht weg. Nicht von Tarek. Denn ich wusste, wenn ich jetzt verschwand, würde ich ihn nie wieder sehen. Doch ich wurde unerbittlich von dem Sog mitgerissen und das Letzte, was ich sah, war, wie der Sanitäter den Kopf schüttelte und ein Tuch über Tareks Leiche legte.
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Hallo meine Süßen,
wie versprochen ein längeres Kapitel. Ich hoffe es gefällt euch.
Liebe Grüße Celine
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