8. The mercy of a child
Ophelia
Es ist unordentlich in diesem Unterschlupf und ich frage mich ernsthaft, wie der Streuner mit seiner Schwester hier hausen kann, denn es muffelt stark nach saurem Wasser, Staub und nassen Socken.
Aber immerhin ist es warm.
Dank des Heizgases — musste ich beim Hereinkommen feststellen. Links neben dem Sofa haben sie drei Gasflaschen gelagert und beim Bett steht ein rostiger, wackeliger Heizkörper. Ein wahrer Luxus, auf welchen ich nur liebend gerne zurückgegriffen hätte, als der Blizzard vor zwei Wochen über Boston rollte.
Das dünne Mädchen vor mir schluckt schwer.
„Weisst du was? Du kannst die Erdnussbutter behalten", krebst sie plötzlich zurück. „Ich mag das sowieso nicht so sehr." Ihre Stimme bebt.
Eine Lüge.
Sie schiebt sich rückwärts von mir weg, setzt ein merkwürdig gepresstes Lächeln auf. Eine vermeintlich unauffällige Veränderung in ihrem Verhalten, aber ich erkenne Unsicherheit und Angst, wenn sie vor mir stehen.
Die geborene Telepathin hast du mich genannt, weil ich immer spürte, wie es dir ging. Dabei warst du mein Bruder, mein Spiegel in Fleisch und Blut. Unsere Verbindung konnte nicht einmal die Wissenschaft erklären.
Man braucht keine besonderen Fähigkeiten, um in den Kopf eines anderen Menschen zu sehen. Wir tragen unsere innersten Empfindungen wie ein quietscheenten-gelber Mantel um die Schultern. Alles, was es braucht, ist jemand, der die Augen auf hat.
„Das ganze Glas?", hake ich nach und hebe die Erdnussbutter in ihr Blickfeld. „Wirklich?"
Das Mädchen schaut weg, nagt an ihrer Unterlippe. Sie ist viel zu dürr, um wählerisch zu sein und jegliche Chancen auf Essen einfach zu verschenken. Ihre Augen huschen an mir vorbei auf etwas, das hinter mir stehen muss. Nur für eine Millisekunde, dann schaut sie mich wieder an.
Sie nickt.
Ich brauche mich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass wir zwei nicht mehr alleine im Quincy Market sind.
„ZUHAUSE, JUN-OPPA, ZUHAUSE!", bestätigt der Papagei meinen Verdacht in voller Lautstärke.
Nari duckt sich und schnappt sich den Vogel mit beiden Händen. „Ruby, still!", scheltet sie.
Das ist meine Gelegenheit. Ich wirbele herum, das Erdnussbutter-Glas fest in einer Hand und schlage zu, mit voller Wucht.
Leider treffe ich bloss seine Schulter und nicht seinen Schädel.
Das Glas fällt mir aus der Hand, es ist viel zu gross, viel zu schwer und landet auf dem Boden. Es zersplittert in tausend Stücke. Erdnussbutter verteilt sich platschend auf die Dielen. Ich habe gar keine Zeit, den Verlust zu beweinen, denn jäh wird mir eine Schlinge um den Hals gebunden und festgezurrt.
Shit!
Die Luft ist weg, mein letzter Atemzug verschwendet. Wütend blicke ich dem Streuner direkt in die Augen. Oh, er ist ausser sich.
„Nari, umdrehen!", donnert er.
Meine Finger krallen sich in das Seil, ziehen und reissen daran, um meine Kehle zu befreien. Ich winde mich, drehe mich, schlage um mich — aber vergebens. Er ist schneller, weicht meinen Fäusten und Fusstritten aus, hält mich in Schach wie ein Köter an der kurzen Leine.
Aus den Augenwinkeln sehe ich das Mädchen. Sie starrt uns entgeistert an, bewegt sich keinen Inch von uns weg.
„Sie hat gar nichts getan!", ruft sie. Warum mich die Kleine verteidigt, verstehe ich nicht.
Das Seil wird gestrafft. Es zerdrückt mir die Luftröhre. Ich falle auf die Knie und hebe keuchend den Kopf. Sein Gesicht ist in Hass und Abschaum getaucht. Ein fürchterliches Monster, das ich da geweckt habe — oder einfach ein grosser Bruder, der für seine Schwester kämpft.
Er hat denselben Ausdruck in den Augen wie du damals, als die Roten mich die Treppe hochgeschleppt haben und du nur zusehen konntest.
Unendliche Wut.
Wut, die dir das Menschsein raubte.
Wut, die zur Selbstzerstörung führte.
Das Bild von dir auf den Knien am Ansatz der Treppe, die Waffe an der Schläfe und diese Unmenschlichkeit in deinen Augen, taucht vor mir auf. Alles nur wegen mir.
Der Schmerz wird allgegenwärtig.
Wie von alleine lösen sich meine Finger von der Schlinge an meinem Hals. Ich ergebe mich der Realität, meinem Richter. Soll er doch machen, was er will.
„Dreh dich um, hab ich gesagt!", herrscht der Streuner seine Schwester an.
Nari hört nicht auf ihn. Sie weint. Sie schaut mich an und weint, als wüsste sie, wenn sie sich jetzt wegdreht, dass es die letzten Momente meines Lebens sein werden.
Selbst mir wird das zu viel. Vor den Augen der Unschuld zu sterben, war nie meine Absicht. Wenn, dann wollte ich möglichst viele Dreckskerle mit mir in die Hölle zerren, oder einfach alleine in einer dunklen Gasse meiner Stadt umkommen.
Aber nicht vor einem Kind.
„Nari!", knurrt der Streuner und postiert sich hinter mich.
Der Druck an meinem Hals verlagert sich nach vorne, auf meinen Kehlkopf. Ich muss würgen.
„Hör auf!", schluchzt das Mädchen. Der Papagei auf ihrer Schulter flattert davon, von unserer Rauferei aufgeschreckt.
„HÖR AUF!", ahmt der Vogel seine Besitzerin nach.
Am Rand meines Sichtfeldes wachsen in rasender Geschwindigkeit schwarze Schlieren an und rauben mir das Augenlicht. Ich schliesse die Lider, lasse den Tod herein. Soll er mich holen. Gerne schreite ich durch seine Pforte.
Vielleicht sehe ich dich ja wieder.
Der Gedanke ist ausgesprochen tröstlich.
Was bleibt mir noch in dieser Welt? Nichts und niemanden. Auf der anderen Seite habe ich immerhin dich. Und Mom und Dad.
Das Mädchen bekommt Schluckauf vom Weinen.
Ihr Schluchzen erfüllt die Stille, während ihr Bruder hinter mir sie noch immer zu überzeugen versucht, sich endlich abzuwenden, damit er es — mich — beenden kann.
Er brüllt über meinen Kopf hinweg: „Bleib verdammt nochmal stehen!"
Dann geschieht etwas Bizarres.
Ich spüre plötzlich Arme, die sich um meinen Oberkörper schliessen und ein nasses, warmes Gesicht, das sich an meins schmiegt. Der Zug am Seil fällt jäh ab, lässt mich nach vorne kippen, in die Umarmung des kleinen Mädchens. In ihre Gnade.
Sie hält mich.
Ganz unwillkürlich lege ich meine Arme um sie. Die Schlinge um meinen Hals lockert sich von alleine und damit flutet der Sauerstoff meine Lungen. Für einen Augenblick brauche ich den Halt der mageren Schultern dieses Mädchens, um wieder anzukommen, um mich von dem dunklen Tor, durch das ich schreiten wollte, abzuwenden.
„Sie hat nichts getan, oppa", schluchzt sie in meine Haare. „Sie hat uns nichts getan!"
Das stimmt so nicht, aber das kann sie nicht wissen.
„Lass sie los!", fährt ihr Bruder sie an.
„Nein", gibt sie zurück. Die Wut ihres kleinen Körpers bebt durch meinen Leib und ich spüre bei den Worten, wie sie mich noch enger an sich drückt. „Du willst ihr sonst nur weh tun!"
Gott, will die mich beschützen?
„Sie ist gefährlich", kommt es von hinter mir.
„Das ist nicht wahr", wehrt das Mädchen abermals ab.
Ich verstehe beim besten Willen nicht, was sie in mir sieht. Eine Heilige war ich noch nie.
Langsam schiebe ich mich aus der Umarmung. Ein verheultes Mädchengesicht kommt zum Vorschein, mit schwarzen Haaren die an den Wangen kleben. Meine Hand lege ich auf ihre Schulter ab. Unter meinen Fingerspitzen spüre ich Knochen, die hervorstechen.
„Danke, Nari", krächze ich. Meine Stimme klingt merkwürdig zerdrückt. „Aber dein Bruder hat recht."
Schwankend hieve ich mich auf die Beine. Nari hilft mir dabei. Dann drehe ich mich zu ihm um – der verfluchte Streuner, der mich beinahe erlöst hätte und nur aufgehört hat, weil seine Schwester es wollte. Er hätte es durchgezogen, wenn sie nicht gewesen wäre.
Angespannt steht er da, wie unter Strom, die Hände zu Fäusten geballt, die Schultern breit und massiv. Neben uns hat sich die Erdnussbutter zu einem hellbraunen grossen Klecks geformt. Die ist dahin. Ein See voller verlorenen Kalorien.
„Ich bin gefährlich", bestätige ich und entferne die Schlinge von meinem Hals.
In dem Moment realisiere ich, dass das Seil bloss halb so lang ist, wie jenes, welches ich für seine Falle verwendet hatte. Es wurde durchgeschnitten. Ich lege neugierig den Kopf schief. Der Streuner muss irgendwie losgekommen sein, bevor die Blauen ihn gefunden haben.
Interessant, dieser Jun. Habe ich ihn doch unterschätzt?
Er folgt meinem Blick und scheint meine Gedanken lesen zu können. Seine Augen formen sich zu schmalen Schlitzen.
„Ich werde euch in Ruhe lassen", verkünde ich und schwanke an ihm vorbei in Richtung Ausgang.
Nari macht einen Schritt auf mich zu, als wolle sie mich aufhalten. „Du kannst bei uns bleiben", bietet sie an. „Zu dritt sind wir stärker. Viel stärker."
„Nein", lehnt Jun sogleich ab. „Sie geht."
„Ich gehe", bestätige ich. Ich muss hier raus.
Bevor ich an Jun vorbeikomme, packt er mich am Oberarm. Seine Augen funkeln.
„Du hast da noch etwas, das mir gehört."
Meine Hand gleitet in meinen Hoodie und zieht das Messer hervor. Ich reiche es ihm wortlos. Es ist zwar eine gute Waffe, aber ich komme auch ohne zurecht.
„Wir sind quitt", befinde ich.
Seine Hand schliesst sich um meine, die den Knauf des Messers noch nicht losgelassen hat. Ich ziehe ihn näher zu mir heran. Sein Bizeps spannt sich an, aber er lässt es zu. Obwohl er mich um mindestens einen Kopf überragt, stehen wir Gesicht an Gesicht so nahe beieinander, dass keine Luft mehr zwischen uns passt.
Ein paar dunkle Strähnen hängen ihm in die Augen. Er blinzelt sie weg und schüttelt den Kopf, den Blick unablässig auf mich fixiert. Noch immer auf der Hut und so territorial wie ein Alphawolf.
„Quitt", knurrt er.
Er denkt, das wäre alles, was ich von ihm verlange. Da hat er sich aber geschnitten. Ich recke mein Kinn so weit in die Höhe, dass sich unser Atem beinahe zu einem vermischt. Er weicht nicht zurück.
„Sie verhungert", heische ich so leise, dass nur er es hört. Seine Nasenflügel beben, was Zeichen genug für mich ist, dass er sich dieser Tatsache sehr wohl bewusst ist. „Wenn das so weitergeht, verliert sie bald ihre Zähne. Besser du tust was dagegen."
Er reisst mir das Messer aus der Hand und schubst mich von sich.
„Raus!", zischt er und deutet zum Ausgang.
Ich starre ihn einige Sekunden einfach nur an.
„Wenn du nichts unternimmst, werde ich es tun", werfe ich ihm vor die Füsse und gehe.
Die Tür des Quincy Market knalle ich jedoch nicht zu.
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Author's Note:
Ein bisschen intensiv die Szene. Ich hoffe, es hat euch gefallen. Jun und Oph scheinen sich nicht verstehen zu wollen... mal sehen, ob sich das noch ändert ;-)
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