3. Red or blue
Ophelia
Du hattest recht.
Ich hätte wirklich nicht wieder hierher kommen sollen.
Die Wand, welche die Küche vom Wohnzimmer trennt, verwandelt sich in eine reissende Wolke aus Feuer, Holzspänen und Isolationsflocken. Das Fenster zerberstet von der Druckwelle, Glassplitter schleudern durch die Luft, mischen sich mit der Kälte des Winters.
Die Explosion röhrt in meinen Ohren, fegt mir deine Kappe vom Kopf. Ich mache mich hinter dem Kühlschrank kleiner.
„Rein da!", brüllt jemand.
Etwas Zweites fällt auf den Boden und rollt in meine Richtung, vor meine Füsse. Eine Rauchpatrone. Zischend befreit sie ihre weissen, stinkenden Schwaden.
Ausräuchern wollen die mich wie eine Pest.
Meine Zähne fest aufeinander gepresst, halte ich die Luft an. Nicht noch einmal. Sie werden mich nicht noch einmal kriegen.
Ich höre das Zischen von Atem, der durch das Ventil einer Gasmaske strömt. Darth Vader ist gekommen, um mich zu holen. Knirschende Schritte über Glas und Schutt.
Wie sehr ich gerade deinen Baseballschläger brauchen könnte! Aber der liegt zerbrochen im Hauseingang.
Der Sammler ist in unserer Küche, aber eines hat er vergessen: Der Rauch nimmt nicht nur mir die Sicht, sondern auch ihm. Gasmaske hin oder her.
So schnell, wie ich mich verkrochen habe, springe ich auf die Beine, mein Messer halte ich fest in meiner Hand. Hierfür werde ich Kraft brauchen.
Ich stürze mich auf die Silhouette, die sich im weissen Rauch abzeichnet und dann brülle ich. Ich brülle lauter als eine Löwin und ramme meine Schulter mit voller Kraft in den Mann, stosse ihn zurück.
Der Kerl ist kleiner und schmächtiger als erwartet. Er verliert das Gleichgewicht. Das Gewehr fällt ihm aus den Händen, dabei löst sich ein Schuss und jagt an mir vorbei durch die Decke.
Rücklings kracht er zu Boden. Ich setze mich sofort auf seine Brust. Vor Überraschung schreit er — und vor Angst, denn mein Messer glänzt zwischen Rauch und Tageslicht.
Seine Hände strecken sich nach mir aus. Eine erbärmliche Abwehr. Finger gegen Messer. Seine Augen sind hinter der Maske weit aufgerissen.
Blau.
Bald nicht mehr.
„Nein! Nicht!", lauten seine letzten Worte.
Nur leider hat er die falsche Ratte ausgasen wollen. Erbarmen kenne ich nicht.
„Fahr zur Hölle!"
Meine Klinge schnellt herunter und ich vergrabe sie tief in seiner Kehle.
Manche brauchen länger, um zu sterben. Der hier nicht. Er ist sofort tot. Das Blau wird trüb und sein Körper erschlafft unter mir.
Ich bleibe in der Hocke, ziehe ihm die Gasmaske ab und stülpe sie mir selbst über, atme mehrmals ein, um meinen Körper mit dem frischen Sauerstoff zu versorgen, den er braucht. Dann wische ich die blutige Klinge meines Messers an seiner Kleidung ab.
Mein Blick fällt auf den roten Kapuzenpulli, die dunkle Hose und die Militärstiefel, die er trägt. Ein Red Eagle. Höchstens sechzehn, oder fünfzehn.
Der hier war ein Anfänger. Ein Neuer. Womöglich einer, der gar nicht hier sein wollte. Einer, der gezwungen wurde.
Genau wie du.
Ich beisse auf die Zähne und zügle den Hass, der sich in meiner Brust ausbreiten will. Am Ende der Menschheit gibt es keinen Platz fürs Gewissen. Der Junge tut mir nicht leid. Er hat sich für die falsche Seite entschieden.
Wer zwischen rot oder blau wählen muss, hat sowieso bereits verloren.
Ich habe gar keine Zeit, seinen Leichnam nach Nützlichkeiten zu durchsuchen, da erklingen schwere Schritte aus dem Wohnzimmer. Seine Kumpels.
„Thomas, warum dauert das so lange?", ruft ein zweiter Kerl, deutlich älter.
Ein grosser, breiter Schatten erscheint im Türrahmen. Der Dunst des Rauchgases wabert um seine Beine. Er scannt den Raum ab.
„Was zum Teufel?", stösst er bei meinem Anblick aus.
Ich hebe den Kopf. Mein Blut gefriert zu Eis, als ich die waldgrünen Augen und die blonden Strähnen unter der Gasmaske erkenne.
Er ist es. Der Einzige, der mich auf den Rücken gedreht hatte, damit ich ihm ins Gesicht blicken musste. Der Name auf seinem Brustschild hat sich in mein Gedächtnis geätzt wie Säure.
Tate King.
In seinen Händen liegt ein angerostetes Maschinengewehr, zwei Granaten baumeln von seinem Gurt.
„Das ist ja eine nette Überraschung", begrüsst er mich. „Blondie."
Diese Zärtlichkeit in seiner Stimme dreht mir den Magen um. Mein Messer gehört in sein Herz gepflanzt. Ich will zum Sprung ansetzen, doch etwas schlägt von hinten auf meinen Schädel.
Die Welt zerfällt vor meinen Augen.
X X X
Ich wollte schon immer auf der Ladefläche eines Pickup-Trucks mitfahren. Bei dem Sedan unserer Eltern war das aber nie möglich. Der Anhänger, auf welchem ich jetzt liege, kommt dem jedoch ziemlich nahe.
Nur hallt kein Motor durch die Strassen, sondern die Hufen eines ausgehungerten Pferdes.
Als ich mein Bewusstsein wieder vollständig erlange, fällt mir als Erstes der weisse Kabelbinder auf, der meine Handgelenke im Schoss schmerzhaft eng zusammenhält. Als Zweites registriere ich eine männliche Person, die vor mir kauert und eine weitere, die auf dem Pferd reitet, welches uns durch die Strasse zieht. Der Anhänger wackelt stark.
Stöhnend hebe ich den Kopf, stütze mich auf einem Ellbogen ab und blicke um mich. Ich musste eine Weile weg gewesen sein.
„Guten Morgen, Blondie", begrüsst mich Tate. Er sitzt mir gegenüber.
Ich erwidere nichts, versuche mich zu orientieren. Die gläsernen, dunklen Hochhäuser des Business Districts türmen sich über uns, werfen lange, kalte Schatten.
Es hat begonnen zu schneien.
Ein Fluchwort verlässt meine Lippen. Der Kerl auf dem Pferd lacht auf.
„Things will be great when you're downtown!", beginnt er leise zu plärren. „No finer place for sure ... downtown! Everything's waiting for you."
Wir sind in der blauen Zone. Downtown. Der letzte Ort, an dem ich sein will.
„Warum?", frage ich nur.
Was haben die Roten bei den Blauen zu suchen? Es ist genauso wenig ihr Territorium, wie es meins ist.
Tate grinst. „Die zahlen die letzten Monate beachtliche Summen für solche Fänge wie dich."
Für solche Fänge wie mich — für Frauen meint er. Die blauen Sammler sind genauso beschissen wie die roten. Nur weniger gewalttätig, aber dafür systematischer. Wissenschaftlicher.
„Geht es euch so mies, dass ihr euren alten Beschäftigungen wieder nachgehen müsst?", zische ich. „Harter Winter, oder was?"
Ein gleichgültiges Schulterzucken von meinem Gegenüber.
„Ich mochte euch besser mordend und vergewaltigend", schnaube ich und blicke die Strasse hoch.
Wir biegen in die Congress Street ab und passieren das alte State House. Die Strasse führt uns in einem leichten Gefälle zum Government Center. Von Weitem sehe ich die schwarzen Uniformen und blauen Mützen der Blue Jays, die augenscheinlich auf dem grossen Platz auf uns warten.
Die Roten tauschen Waren mit den Blauen.
Rot oder blau? Blau oder rot?
Für mich kommt keins von beiden in Frage und das wird auch immer so bleiben.
Ich richte meinen Blick wieder auf den Kerl vor mir und rutsche auf meine Knie. „Hey, ich will dir was verraten."
Tate legt den Kopf zur Seite. Dieses ekelhafte Lächeln zieht seinen Mund schief. Dann lehnt er sich vor, kommt mit seinem Gesicht näher.
Köder gefressen.
Nun grinse auch ich, als wir uns Nase an Nase niederstarren. Ich die Hände verbunden, er nicht. Ein vermeintlicher Vorteil.
Wir passieren die Statue von Samuel Adams — dein Lieblingspatriot und Namensvetter.
Sam. Lange ist es her, seit ich deinen Namen laut ausgesprochen habe. Noch tut es zu sehr weh.
Die verschränkten Arme und der starre Blick der Statue scheinen mir etwas sagen zu wollen, als stündest du dort versteinert und würdest mich zum Aufstand anstacheln.
Du warst schon immer der kleine Revolutionär.
„Ja, was denn, Blondie?" Tate pustet mir ins Gesicht.
Ich blinzle nicht, als ich sage: „Du hattest von allen den Kleinsten."
Sein schmutziges Lächeln erlöscht. Er packt mich am Hinterkopf, dort, wo sich eine Beule bereits abzeichnet. Ich beisse den Schmerz hinunter, breche den Blickkontakt nicht ab. Tate fletscht die Zähne, als wäre er ein Tier.
Sein Kumpel auf dem Pferd lacht. Er scheint meinen Humor zu mögen.
„Du Schlampe!", knurrt mir Tate ins Gesicht und ehe ich mich versehe, zerrt er mich zu sich und drückt meinen Kopf in seinen Schoss. Seine Hand krallt sich in meine Haare, während er mich zwischen seine Beine presst. „Schau nochmal genauer hin!"
Mit meinen verbundenen Händen versuche ich mich von ihm zu stossen, aber er drückt fester zu. An meinen Fingerspitzen spüre ich Metall. Ich halte mich daran fest, bis es leise klickt. Keuchend schiebe ich meinen Kopf zur Seite, um nach Luft zu schnappen.
Sein spöttisches Lachen geht mir durch Mark und Bein. „Plötzlich nicht mehr so vorlaut, was?"
Die Kälte des Metalls berührt meine Zähne.
Tate lehnt sich zu mir runter, streichelt über meinen Hinterkopf und murmelt in meinen Nacken: „Wenn wir dich nicht zu den Blues bringen würden, dann würde ich mich nochmals mit dir vergnügen. Es hat dir gefallen, nicht wahr? Du bettelst ja fast darum!"
Und mit diesen Worten schmeisst er mich zurück auf die andere Seite des Anhängers. Der Metallring zwischen meinen Zähnen blitzt auf und lässt ihn erstarren.
„Was—?" Sein Blick schiesst zu seinem Gurt an der Hüfte.
Den Sicherungsstift der Granate spucke ich ihm vor die Füsse und hebe meine Hände vors Gesicht. Ich winke.
„Bye, bye", sage ich und bevor die vier Sekunden gänzlich verstreichen, lasse ich mich rücklings vom Anhänger fallen.
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Author's Note:
Was sind eure Gedanken zu den Red Eagles und den Blue Jays?
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