24. Let's go
Ophelia
Jun joggt in einer angenehmen Geschwindigkeit neben mir her.
Die vier Meilen von Fenway Park bis zum Chestnut Hill fühlen sich wie eine Unendlichkeit an.
An mir zerrt die Erschöpfung und zudem plagt mich ein Seitenstechen. Ich habe keine Lust mehr, zu rennen. Ich will die frische Luft Neuenglands einatmen, die Kälte auf meiner Haut spüren und durch meine Stadt schlendern. Ich will nicht mehr hetzen, davonrennen, mich verstecken. Ich will gehen, das Hier und Jetzt geniessen.
Meine Füsse verlangsamen sich.
„Jun", bringe ich hervor und halte an.
Er blickt besorgt zurück, aber ich winke ab. „Keiner verfolgt uns", sage ich und klinge dabei etwas atemlos. „Ich brauche eine Pause."
Das viele Töten hat an meiner Substanz gekratzt. Mehr, als mir bewusst war. Mein Arm ist taub, meine Bauchmuskeln brennen und meine Beine schlackern.
Auch Jun schwankt. Der Schlag, den er verpasst bekommen hat, hat sein Gehirn einmal mächtig durchgeschüttelt. Er sollte einen Gang runterschalten.
„Na schön", willigt er ein.
Wir spazieren die Beacon Street hoch, bis wir das Chestnut Hill Reservoir erreichen und in den kleinen Pfad einbiegen, der um den Teich führt. Die Sonne scheint über die Wasseroberfläche und lässt sie golden flimmern.
Als wir an einer Bank vorbeigehen, kann ich dem Drang nicht widerstehen.
Ich muss mich setzen.
Jun bleibt stehen, stützt die Hände in die Hüfte und schaut skeptisch um sich.
„Komm, chill einen Moment", bitte ich ihn.
Ich tätschle den Platz neben mir auf der Bank, woraufhin er die Augen rollt und sich dann seufzend neben mir niederlässt. Er ist vom ganzen Rennen und Flüchten noch aufgekratzt, das sehe ich ihm an, aber ich hab wirklich keine Energie mehr für diesen Stress.
Ich will einfach nur noch Ruhe.
Um ihm die Sorge zu nehmen, deute ich mit dem Finger auf ein hohes Gebäude, das wir von hier aus gut erspähen können.
„Siehst du das Haus dort mit der dunkelgrauen Fassade? Dort liegt das Refugium."
Jun folgt meinem Blick.
Es ist zum Greifen nahe.
„Nari wartet auf einer Schaukel auf dich, damit du sie anstösst."
Jun lacht heiser auf.
„Ich habe ganze zwölf Kinder gezählt", fahre ich fort. Bevor ich Nari dort lassen konnte, hatte ich mich versichern müssen, dass es wirklich ein sicherer Hafen war und keine Falle. „Die Wohnhäuser sind sauber und wirken von aussen zumindest gepflegt. Die Leute scheinen vertrauenswürdig und freundlich zu sein. Ihre Prinzipien sind sehr einfach, aber, ich denke, sie sind gut. Es gibt sogar eine Schule ... und einen Pizzaofen haben sie auch, mit welchem sie frisches Brot backen können. Frisches Brot, Jun."
Jun blickt mich von der Seite an. Seine Augen glänzen, als hätte ich ihm soeben ein Märchen erzählt. Ich beginne zu grinsen.
„Und sie haben Duschen."
Seine Augen werden riesig. Er sieht dabei so dämlich aus, dass ich laut kichern muss und es sich schnell in ein Gackern verwandelt. Dann stimmt auch Jun mit ein und seine überraschte Miene weicht einem entspannten, glücklichen Ausdruck.
Für einen Moment lachen wir gemeinsam und vergessen die Grausamkeit der letzten Stunden. Der Eiswind wirbelt dabei um unsere Füsse und lässt die Schneeflocken in der Luft tanzen. Es fühlt sich fast wie ein normaler Tag im Winter an. Als wäre das hier ein Date.
„Siehst du", sagt er, als unser Lachen verstummt. „Manchmal lohnt es sich wirklich, zu träumen. Das solltest du öfters tun, Ophelia."
Ich schnaube und richte den Blick auf den kleinen See vor uns, antworte ihm nicht mehr.
Mein Körper fühlt sich schwer an. Die Müdigkeit breitet sich in mir aus.
Es waren anstrengende Tage.
„Was gibt es da noch – im Refugium?", will Jun weiter wissen.
„Wirst sehen", erwidere ich. „Es ist ein wirklich guter Ort."
Jun schüttelt ungläubig den Kopf und lehnt sich zurück. Er breitet beide Arme auf dem Rücken der Bank aus und blickt mit mir über den Teich. Ohne, dass ich das bewusst getan hätte, schiebe ich meinen Körper näher zu ihm und lege meinen Kopf auf seine Schulter. Ein merkwürdiger Instinkt ist das.
„Du bist unglaublich, weisst du das?", höre ich ihn sagen.
Ich antworte nicht.
Er lehnt seinen Kopf an meinen und so verharren wir zu zweit einfach so, geniessen für einen Moment den Frieden, der uns überkommen hat. Er weiss, dass ich diese Art von Nähe nur ertragen kann, weil er es ist. Jun hat die hässlichste Seite von mir kennengelernt und trotzdem mag er mich.
Dafür hätte er eine Trophäe verdient.
„Ich sässe jetzt nicht hier, wenn du nicht wärst und Nari würde nicht im Refugium auf mich warten", spricht er weiter. Seine Stimme hat eine wirklich angenehme Tiefe, die meine Lider schliessen lässt. „Alleine hätte ich das nie geschafft. Danke, Ophelia ... wirklich."
„Ich hab' euch nur den Weg gezeigt", murmle ich und rutsche näher. Mir ist kalt geworden und er ist angenehm warm. Ausserdem habe ich mich an seinen Geruch gewöhnt. „Das ist nichts Besonderes."
Juns Arm legt sich um meine Schulter. Auf meinem Körper bildet sich eine Gänsehaut, aber das sieht er zum Glück nicht.
„Du hast uns beiden das Leben gerettet, Ophelia. Das ist das grösste Geschenk, das man jemandem machen kann."
Ich kriege meine Augen nicht mehr auf. Zu sehr lullen mich die Tonlage seiner Stimme und die Wärme, die er ausdünstet, ein. Hier will ich bleiben. In meiner Stadt. In diesen Armen.
„Ophelia?"
Ich bin zu müde, um zu antworten.
„Ophelia!" Jun bewegt sich, sodass ich meinen Kopf von seiner Schulter nehmen muss. „Hey!"
„Hm?"
Meine Lider sind so schwer wie Blei. Ich glaube, ich will schlafen. Dann träume ich vielleicht wieder von dir, Sam, und von den Walen.
Bei dem Gedanken tauchen tatsächlich die Bilder meines Traumes auf und plötzlich befinde ich mich nicht mehr auf der Bank mitten in der Stadt, sondern auf dem Pier am Hafen. Meine Füsse baumeln über dem Meer.
„Es ist schön hier", flüstere ich. Ich weiss nicht, ob ich es im Traum sage, oder in der echten Welt.
Du sitzt neben mir, Sam. Und du lächelst.
Ich werde gerüttelt, sodass dein Ebenbild in Einzelteile zerfällt.
„Ophelia!"
Es ist Jun, der mich hält und mit einem wilden Ausdruck betrachtet. Er wirkt fern, als wäre er nun der Traum und nicht mehr du, Sam.
Ich spüre Hände an meinem Bauch. Er zieht meinen Pullover hoch, sodass kalte Luft an meine nasse Haut schlägt. Es ist mir egal, dass er meine Nacktheit darunter sieht. Es ist ja Jun.
„Scheisse, du bist verletzt! Warum hast du nichts gesagt?"
Ein Schulterzucken kriege ich noch hin, aber dann jagt der Schmerz, den ich zu ignorieren versucht habe, wie ein heisser Blitz durch meinen Torso.
Aua.
„Keine Zeit", bringe ich hervor. „Ich wollte dich retten, nicht mich."
Juns Hände umschliessen mein Gesicht. Diese tintenschwarzen Augen starren mich entsetzt an.
„Die Kugeln haben dich getroffen, Ophelia! Wir müssen ins Refugium. Die können dir dort helfen."
Ich schüttle den Kopf, lege meine Hände über seine. „Es ist zu spät."
„Labere keine Scheisse!"
Er steht entschlossen auf und zieht mich zu sich hoch. Meine Bauchmuskeln rebellieren von der Qual, unter welche sie gesetzt werden. Ein warmer Schwall Blut strömt über meinen Bauch und tropft zu Boden.
„Lass mich hier, Jun."
Seine Arme schlingen sich um meine Körpermitte und stabilisieren meinen Stand.
„Nein, Mann! Du kommst verdammt nochmal mit ins Refugium!"
„Es ist zu gut für mich", bringe ich gerade noch so hervor. „Und Sam ist nicht da."
Er zerrt an mir, aber meine Beine haben die Kraft zum Stehen verloren. Ich taumle und drohe umzufallen, doch Juns kräftige Arme heben mich in die Luft.
„Ophelia, mach die Augen auf, bitte! Bleib bei mir!"
Ich schaffe es nicht, seinem Wunsch nachzukommen. Juns Rufen ist nur noch ein entferntes Rauschen, das von der Gischt des Meeres übertönt wird.
Die Hafenluft weht mir die Haare aus dem Gesicht und jäh befinde ich mich wieder an unserem Lieblingsort. Die Wale, die du mir gezeigt hast, ziehen durch die Bucht, tauchen auf und ab.
Wir stehen nebeneinander am Pier und blicken gemeinsam übers Wasser.
„Ist das ein Pärchen?", frage ich dich.
Du schüttelst den Kopf. „Geschwister."
„Sie sollten nicht hier sein", stelle ich abermals fest.
Das offene Meer ist so nahe — ich verstehe nicht, warum sie nicht einfach hinausschwimmen.
Ich drehe dir den Kopf zu. Du betrachtest mich mit diesem unfassbar warmen Lächeln im Gesicht, sodass die Sonne in meinem Herzen aufgeht. Es ist alles, was ich brauche.
Du und ich. Wir. Hier.
Du streckst mir deine Hand entgegen. „Lass uns gehen, Oph."
Tränen rinnen mir übers Gesicht, denn ich habe so lange auf diese Worte gewartet.
Ich liebe dich, Sam und weil du die andere Hälfte meiner Seele bist, mein engster Verbündeter, mein bester Freund – weil du mein Zwillingsbruder bist und schon immer wusstest, was gut für mich ist, höre ich auf dich und nehme deine Hand.
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Author's Note:
In 30 Min geht's weiter ...
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