21. The refuge
Nari
„Jetzt kannst du die Augen wieder öffnen", höre ich Knox sagen.
Es ist sehr hell. Wir sind nicht mehr unter der Erde.
Knox setzt mich auf den Boden ab. Ihr Atem geht schwer und sie schwitzt. Wahrscheinlich, weil sie mich lange getragen hat. Ich habe mich so fest wie ein Koala an sie geklammert und die Augen zugepresst, bis ich Farben sah.
Knox holt die Thermosflasche hervor und reicht sie mir. Ich trinke daraus. Sie selbst nimmt nur einen kleinen Schluck, dann schraubt sie alles wieder zu.
Bevor wir weitergehen, streckt sie mir die M&Ms-Packung hin. „Die kannst du essen, während wir gehen, okay?"
„Okay."
Weiter geht's.
Knox macht keine Pausen. Sie läuft schnell. Ich habe Mühe, mit ihr Schritt zu halten. Die Holzbretter auf den Gleisen sind uneben und an manchen Stellen bleibe ich mit meinen Stiefeln hängen und stolpere. Knox streckt mir die Hand hin und zieht mich zu sich, ohne aber langsamer zu werden.
Ich habe das Gefühl, dass sie es eilig hat.
Sie will nur noch weg von hier.
X X X
Wir gehen, bis mir die Füsse schmerzen.
Knox drosselt die Geschwindigkeit erst, als wir an einen grossen, runden Teich stossen. Das dunkle Wasser ist komplett eingefroren. Man könnte darauf Schlittschuhlaufen. Das Eis sieht dafür dick genug aus.
„Komm", höre ich Knox sagen. „Es ist nicht mehr weit."
Wir umkreisen den Teich, bis wir einen alten Checkpoint erreichen. Autos wurden hier vor langer Zeit quer auf die Strasse gestellt, um die Durchfahrt zu blockieren. Das nützt jetzt auch nichts mehr, denn niemand fährt mehr Auto.
Wir bleiben vor dem Tor stehen, das Teil einer Mauer aus Maschendrahtzaun, Sandsäcken und Holz ist. Ein Turm aus Baugerüsten wurde dahinter hochgezogen. Darauf stehen zwei Männer. Sie bewachen diesen Eingang mit ihren Armbrüsten.
Knox legt den Kopf in den Nacken.
„Wenn ihr noch eine Sekunde länger auf ein Kind zielt, klettere ich zu euch hoch und reisse euch eure Arschlöcher auf!"
Die Männer heben die Köpfe von den Zielfernrohren und selbst ich kann ihr verwirrtes Stirnrunzeln sehen.
Dann wird das Tor quietschend geöffnet. Ein dünner, grosser Mann mit grauer Mütze schlüpft heraus. Knox spannt sich an, aber der Mann ist unbewaffnet. Das zeigt er, indem er uns seine leeren Handflächen entgegenstreckt. Er trägt eine dicke Winterjacke. Die Art von Jacke, die mit Gänsefedern gefüllt ist.
Er bleibt mehrere Schritte vor uns stehen. Ein sicherer Abstand für ihn.
„Wir bewachen unsere Tore zwar mit Waffen, aber Gewalt wird nicht nötig sein", lautet seine Begrüssung. „Das Chestnut Hill Refugium ist eine friedliche Gemeinschaft."
Knox formt ihre Augen zu Schlitzen. „Das glaube ich erst, wenn ich es sehe."
Der Mann lässt die Arme sinken und schiebt sie in die Seitentaschen seiner Daunenjacke.
„Unser Frieden basiert auf dem Tausch. Es ist die bewährte Art des Überlebens – unsere Vorfahren wussten das schon lange, wir müssen es neu lernen. Gleiches für Gleiches. Die Logik der Reziprozität."
Über das letzte Wort stolpere ich und während der Mann weitererzählt, versuche ich, es in meinem Kopf zu buchstabieren.
R-E-Z-I-P-R-O-Z-I-T-Ä-T
„Wir lassen nur Leute rein, die einen Beitrag zur Gemeinschaft leisten können", spricht er weiter. Knox' Griff um meine Hand verstärkt sich. „Wenn ihr beitreten wollt, dann müsst ihr uns zeigen, was euer Wert ist."
Er macht eine Pause und spricht nicht weiter.
„Dein Ernst?", faucht Knox. Sie scheint ihn überhaupt nicht zu mögen.
„Mein voller Ernst."
„Das fragst du ein Kind?" Sie deutet auf mich.
Der Mann blinzelt, dann huscht sein Blick zu mir und für einen Moment scheint ihm die Antwort im Hals steckenzubleiben. Dann räuspert er sich.
„Es sind seit Langem schon keine Kinder mehr hier angekommen", lautet seine Erklärung. Er verfällt in ein Schweigen, als müsste er nachdenken.
„Ich kann buchstabieren", verrate ich. Knox schaut verwundert zu mir runter. „Und ich kann Wasser in einer Plastikflasche zum Kochen bringen."
Ich überlege weiter, welche Dinge, die ich kann, denn sonst noch für diese Gemeinschaft nützlich sein könnten. Jun hat mir vieles beigebracht. Das könnte ich ihnen auch alles beweisen, nur fällt mir nichts mehr ein.
„Ah!", stosse ich aus und drehe mich seitlich um, sodass der Mann meinen Rucksack sehen kann. „Ich habe einen Papagei dabei. Ruby. Sie ist wirklich lieb zu jedem. Bestimmt habt ihr noch keinen Papagei!"
Es wäre ein riesengrosser Zufall, wenn das so wäre.
Die Augen des Mannes glitzern, als würde er gleich zu weinen beginnen. Ich weiss nicht, was an all den Sachen, die ich aufgezählt habe, so traurig sein soll.
Knox nimmt ihre Hand aus meiner und legt sie mir auf die Schulter. „Und sie kann unfassbar schön zeichnen."
Der Mann sagt nichts dazu. Allmählich kriege ich Angst. Ich hoffe, dass meine Fähigkeiten ausreichen und dass wir nicht weggeschickt werden, weil ich nicht so viel kann wie eine Erwachsene.
Er fährt sich mit der Hand übers Kinn und dann sehe ich ein klitzekleines Lächeln, das seinen Mund verformt. Es ist kaum sichtbar, aber es ist da und ich glaube, dass das gut ist.
„Um ehrlich zu sein ...", beginnt er, „... haben wir auf so jemanden gewartet." Er lacht heiser auf. Es ist ein warmes, angenehmes Geräusch. „Wir brauchen nämlich eine Künstlerin, die die Wände des Schulzimmers hübsch bemalt."
Mein Mund klappt auf. „Ein Schulzimmer?"
Der Mann nickt. „Mit Spielplatz — obwohl es im Moment etwas kalt ist, um draussen zu spielen." Er reibt sich die Oberarme, um seine Worte zu betonen.
Ich muss bei der Vorstellung kichern. Jun hat mich nie auf Spielplätzen toben lassen, einfach weil es zu gefährlich war.
„Andere Kinder?", höre ich Knox fragen.
Der Mann richtet seine braunen Augen wieder auf sie. Sein Gesichtsausdruck wird dabei härter.
„Andere Kinder", bestätigt er. „Seit dem Aufbau des Refugiums leben die hier. Sie sind unter Anderem der Grund, warum wir nicht jedem Eintritt gewähren."
Der Mann mustert Knox von Kopf bis Fuss. Es ist kein guter Blick.
„Die Kleine können wir reinlassen", meint er, „aber was bringst du der Gemeinschaft ausser Tod und Verderben?"
Das hat Knox weh getan, das merke ich sofort. Ihr Kiefer spannt sich an, dann macht sie einen drohenden Schritt auf den Kerl zu. Sie lässt sich das nicht gefallen.
„Ich bringe euch einen Arzt", knurrt sie.
Als hätte sie ein Zauberwort gesagt, fällt die abweisende Haltung des Mannes von ihm wie abgeschnittene Haare von einem Kopf. Juns Arbeit wirkt wie ein Wunder.
„Einen ... einen Arzt?", stottert der Mann.
Knox nickt. „Der Bruder der Kleinen. Er wurde von den Red Eagles gefangen genommen. Ich kann ihn befreien."
Die Hoffnung in seinen Augen erlischt sogleich. Der Mann schüttelt den Kopf. „Wenn die Roten ihn haben, dann ist er bereits tot."
Das will ich nicht hören!
„Nein!", schreie ich entsetzt auf.
Knox zieht mich an ihren Körper, drückt mein Gesicht in ihren Bauch und legt ihre Hände über meine Ohren und meine Mütze, sodass ich nichts mehr hören kann.
Die beiden tauschen sich energische Worte aus. Ich spüre die Vibration von Knox' Stimme gegen mein Gesicht.
Ihr grauer Hoodie riecht irgendwie merkwürdig. Nach Meer und Schmutz. Dann werde ich wieder freigelassen. Knox streckt mir ihre Hand hin und wir folgen dem Mann durch das Tor.
Was auch immer sie ihm gesagt hat, es hat ihn davon überzeugt, uns beide reinzulassen.
X X X
Es ist, als würden wir eine neue Welt betreten.
„Willkommen im Chestnut Hill Refugium", brummt der Mann und breitet die Arme aus.
Mir bleibt die Spucke weg.
Die Strassen sind sauber und voller Menschen! An einer Kreuzung findet gerade eine Schneeballschlacht zwischen mehreren Jugendlichen statt. Die Schneebälle schleudern in hohen Bögen durch die Luft. Es wird gelacht und gekichert. Das Geräusch habe ich so lange schon nicht mehr gehört, dass es mir eine Gänsehaut verpasst.
Die Jugendlichen erblicken uns und hören in ihrem Spiel auf. Sie werfen uns verstohlene Blicke zu, aber einer der Jungs hebt die Hand zum Gruss.
Ich mache es ihm nach.
Dann geht es weiter und wir bewegen uns in die entgegengesetzte Richtung. Der Mann, der sich uns als Noah vorstellt, gibt Knox eine Einführung ins Refugium. Ich höre nur manchmal hin und sauge alles auf, was ich sehe: Häuser, aus deren Kamine Rauch steigt, Fussgänger, die auf der Strasse ein Gespräch miteinander führen, Schneemänner, die sich auf verschneiten Wiesen in die Höhe türmen, ein Mädchen, das mit roten Handschuhen auf einem Fahrrad an uns vorbeifährt.
„Fürs Gemeinschaftshaus haben wir es hinbekommen, die Stromleitungen wieder instand zu setzen", höre ich Noah sagen.
Das ist etwas, das Knox kurzerhand zum Stolpern bringt. Sie strauchelt über ihre eigenen Füsse, doch sie kann sich wieder fangen.
„Nein", haucht sie.
„Doch, doch."
„Wie?"
„Mit einem Fahrrad, das an einen Dynamo gekoppelt ist."
Ich habe keine Ahnung, was das bedeutet, aber es klingt clever. Noah deutet auf die dreistöckigen Häuser, die sich entlang der Strasse reihen.
„Die meisten Wohnhäuser haben fliessend Wasser. Der Wasserdruck bereitet uns jedoch noch etwas Mühe. Im Moment haben nur die Wohnungen im Erdgeschoss funktionierende Duschen. Das Wasser ist kalt. Für die Boiler fehlt uns das Heizgas."
Aus einem mir unerklärlichen Grund lacht Knox heiser auf und schüttelt dabei ungläubig den Kopf.
Wir gehen die Strasse hoch. Eine Frau schlendert an uns vorbei. Sie trägt einen Korb am Ellbogen. Darin erkenne ich etwas, das ich schon lange nicht mehr gesehen habe: einen Brotlaib!
Mein Herz beginnt in meiner Brust zu rasen.
Ich kann die Augen nicht von dem Brot lösen. Es sieht frisch gebacken aus und riecht wahrscheinlich auch noch so! Die Frau lächelt uns freundlich an, aber sie geht weiter. Ich starre ihr hinterher.
„Die Pizzeria um die Ecke verfügt über einen Steinofen, den wir mit Feuer und Kohle anheizen. Damit können wir backen", erklärt Noah.
Das Wasser läuft mir bei der Vorstellung im Mund zusammen und mein Magen beginnt zu knurren.
„Auch Kuchen?", frage ich.
Der Mann grinst. „Kuchen, Kekse, Brot, Aufläufe und Pizza, wenn wir die Zutaten finden oder tauschen können. Am Chestnut Hill muss keiner hungern."
Das klingt wie ein Traum!
„Mit wem tauscht ihr?", will Knox wissen.
„Mit jedem, der etwas Brauchbares zu tauschen hat. Wir diskriminieren im Tauschhandel nicht. Wir glauben fest daran, dass es die Basis des Friedens ist. Es ist der Grundstein der Zivilisation."
Knox fügt nichts dazu an. Wir schlendern weiter und drehen in eine Strasse, an welche ein eingezäuntes Basketball-Feld grenzt. Direkt daneben steht ein Spielplatz – mit einer Rutschbahn und zwei Schaukeln!
Meine Füsse tragen mich ganz automatisch dahin. Ich muss auf die Schaukel. Den Rucksack mit Ruby stelle ich behutsam auf den Boden.
Knox und Noah bleiben stehen und schauen mir zu. Ich beginne zu schaukeln. Die kalte Luft streift meine Wangen, aber es ist ein schönes Gefühl und ich will mich in dem Moment nur darauf konzentrieren. Auf die Kälte, die meine Haut pikst, auf die Schneeflocken, die durch die Luft wirbeln.
Ich will vergessen, dass Jun nicht da ist.
Noah und Knox versinken in einem Gespräch. Sie haben ernste Gesichter. Nach einer Weile nickt Noah und deutet ihr mit einem Handzeichen an, dass sie ihm folgen soll. Bevor Knox das tut, kommt sie noch einmal zu mir.
Ich springe nicht von der Schaukel, denn ich kann nicht. Ich will nicht. Das flatternde Gefühl in meinem Magen ist zu schön, als dass ich wollte, dass es aufhörte. Ich brauche das.
Die Erwachsenen sollen Erwachsenen-Dinge tun. Ich will nur schaukeln.
„Du kannst hier bleiben", verkündet Knox. „Ich muss nochmals raus, okay?"
„Okay", erwidere ich und schwinge höher.
Knox' Augen verfolgen mich, wie ich auf und ab fliege. Sie lächelt. „Ich bringe dir deinen Bruder zurück, okay?"
Die Schaukel befördert mich immer höher.
„Okay!"
Knox legt die Rucksäcke ab und stellt sie zu meinem. „Noah kommt nachher zurück und bringt dich in die Wohnung, die ihr bekommen werdet", erklärt sie weiter.
„Ich bleibe hier, bis Jun da ist", bestimme ich. Vorher will ich nicht von der Schaukel.
Knox akzeptiert das ohne Kommentar. Sie kommt näher und bringt mein Schwingen zum Stoppen, indem sie die Schaukelkette festhält. Sie geht in die Knie, um mir in die Augen zu blicken. Es fühlt sich ernst an, was sie mir sagen will. Etwas, das ich mir merken soll.
„Danke, Nari", flüstert sie und stupst meine Nase mit der Fingerspitze an, „dass du deine Erdnussbutter und deinen Bruder mit mir geteilt hast. Es hat mir gezeigt, was wirklich wichtig ist."
Ich grinse. „Bitte, gern geschehen, eonni."
Dann beginne ich wieder zu schaukeln.
Knox geht die Strasse hinunter und verschwindet in einem grauen Gebäude.
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Author's Note:
Knox und Nari haben es geschafft.
Natürlich hattet ihr recht, Ophelia muss Jun retten gehen. Für diese Rettungsaktion werde ich am nächsten Sonntag, ca. ab 20:00 Uhr eine kleine Lesenacht veranstalten. Insgesamt sind es noch vier Kapitel, die euch erwarten.
Habt bis dahin eine schöne Woche!
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