15. The Green Line
Jun
Zu dritt stürzen wir auf die Feuertreppe zu. Hinter uns wird geschossen und gebrüllt. Ich bete, dass die Blauen das Gebäude nicht bereits umzingelt haben und wir ihnen gleich in die Arme rennen werden.
Wir erreichen die letzte Treppenstufe und der Platz ist zum Glück leer. Die Kerle sind jetzt alle im Quincy Market.
Wir rennen weiter. Ich habe keine Ahnung, wohin wir sollen.
Mein einziges Versteck, unser Zuhause war hier. Seit über einem Jahr. Wir sind nicht darauf vorbereitet, lange Zeit, ja gar Nächte draussen in dieser Kälte zu verbringen.
Wir mussten den verdammten Heizkörper zurücklassen.
Und mein Fahrrad.
Mein Kopf schwirrt von all den Gedanken, die gleichzeitig auf mein Gehirn einprasseln, während ich zu fassen versuche, was wir als Nächstes tun sollen.
Knox führt uns zur Congress Street. Sie scheint eine Idee zu haben.
„Wohin?", frage ich zwischen zwei Atemstössen.
Sie dreht ihren Kopf in meine Richtung. „Zum Government Center."
Ich bleibe augenblicklich stehen.
Nein.
„Da kannst du alleine rein", sage ich und will den Arm meiner Schwester nehmen, um sie an mich zu ziehen.
Knox stellt sich dazwischen und bleckt die Zähne. „Sei nicht bescheuert. Wir nehmen die grüne Linie!"
Die grüne U-Bahn-Linie hält beim Government Center und führt direkt aus der Stadt. Im Untergrund. In absoluter Dunkelheit. Ein direkter Fluchtweg aus dieser Hölle, aber viel zu gefährlich.
„Nein."
Knox verdreht die Augen und wedelt hektischer in die Richtung der Station, die auf der anderen Strassenseite liegt.
„Das, oder Nari und ich landen im Zuchthaus und du im Schredder, wenn die Sammler uns hier auflesen", faucht sie mich an. „Willst du das etwa für deine Schwester?"
Ich knirsche mit den Zähnen. „Das blüht uns auch, wenn sie uns bei Fenway Park erwischen!"
Knox lässt Nari los und packt mich am Kragen. Eine unbeugsame Entschlossenheit glüht da in diesen hellen Augen.
„Werden sie nicht!", knurrt sie mir ins Gesicht. „Und jetzt sammle deine Eier wieder vom Boden auf und mach hin, sonst sehen sie uns noch!"
Ich entreisse mich aus ihrem Griff, weiche einen Schritt zurück und schüttle den Kopf.
„Es ist zu riskant", bleibe ich bei meiner Meinung.
Ich kann Nari nicht in diese Gefahr bringen. Die grüne Linie zu nehmen ist absoluter Wahnsinn. Kein Tageslicht, stickige Luft und ein Labyrinth aus Gängen, in denen man sich verirren kann, bis man verhungert.
Wer weiss, wer sich dort unten sonst noch so versteckt. Alles, was sich nicht mehr an die Oberfläche traut. Das Gesindel der Stadt. Die Kanalratten der Apokalypse.
Knox' Gesicht verzieht sich vor Wut.
„Dann bleib halt hier, Mimose!", haut sie mir an den Kopf, nimmt Nari an der Hand und rennt einfach weiter.
Meine Schwester schaut verwirrt zurück, aber sie folgt Knox, anstatt bei mir zu bleiben.
„Hey, stopp!", rufe ich den beiden hinterher.
Da explodiert eine Bombe hinter mir im Quincy Market und zerberstet die Scheiben. Der Knall ist so laut, dass ich für einen Augenblick taub werde und nur ein lautes Piepsen meine Sinne durchsticht.
Die Mädchen rennen geduckt weiter.
Fuck!
Mir bleibt nichts anderes übrig, als ihnen über die Congress Street zu folgen.
In einer geraden Linie sprintet Knox auf den klaffenden Eingang der U-Bahn-Station zu, meine Schwester an der Hand, die kaum mit ihrer Geschwindigkeit mithalten kann. Naris Füsse fliegen förmlich über den Boden.
Die beiden erreichen den Eingang. Sie will da wirklich rein.
Ich bremse automatisch ab, als ich den Treppenansatz erreiche.
Mein Herz beschleunigt sich, als Knox und Nari von der Dunkelheit verschluckt werden. Sie blicken nicht zurück, sehen nicht, dass mein Körper zu Stein erstarrt ist.
Ich kann das nicht. Sie müssen ohne mich gehen, denn nichts wird mich dort runterbringen.
„Hey!", höre ich Knox zischen. Sie kommt aus der Dunkelheit wieder die Treppe hochgerannt, bleibt keuchend vor mir stehen. „Sind wir dir zu schnell, oder was?"
Der genervte Ausdruck weicht von ihrem Gesicht. „Warum atmest du so schnell?"
Ich kann ihr nicht antworten.
„Jun?"
Ich spüre ein Schütteln an meinen Schultern, was meinen Geist aus seiner Angststarre holt.
„Jun?", wiederholt Knox und blickt mich ernst an. „Was ist los?"
„Ich ... kann nicht."
Sie kommt eine Treppenstufe näher, so nahe, dass sie ihr Gesicht direkt vor meines postiert und sie mich anfunkeln kann. Ich schliesse die Augen, mein einziger Ausweg in dem Moment.
„Schau mich an", verlangt sie.
Ich schüttle den Kopf.
„Schau mich an, Jun."
Widerwillig gehorche ich und hebe die Lider.
Nur sie ist da. Ihr weiches und bleiches Gesicht mit Augen so klar wie Kristall. Die Welt um mich herum wird unwichtig. Die Schüsse, die in der Ferne an den Wänden der Gebäude wiederhallen, die Kälte, die in meine Lungen beisst.
„Rede mit mir."
Ich schaffe es nicht, etwas zu sagen, Worte mit meiner Zunge zu artikulieren. Es geht nicht. Ich bin wie gelähmt. Knox scheint meine Gedanken lesen zu können. Auch wenn das gar nicht möglich ist, aber in dem Moment erkennt sie alles.
Was für ein Feigling ich bin.
Was für ein verdammter Versager.
„Okay", sagt sie, als hätte ich ihr geantwortet. Ihre Hand legt sie auf meine Brust, über mein Herz, das darunter beinahe zu platzen droht. „Hör mir jetzt gut zu."
Ich kann gar nicht anders, als zu gehorchen. Ihre Worte sind wie ein Befehl an mein Gehirn.
„Wir machen das für Nari. Du und ich."
Der Name meiner Schwester sorgt dafür, dass sich mein Herz beruhigt. Das und Knox' kleine Hand auf meiner Brust. Und ihre Augen aus Eis.
Sie hat keine Angst.
Sie weiss, was sie tut.
„Jun", sagt sie und zieht ihre Hand von meinem Brustkorb, nur um sie sodann um meine Finger zu schliessen.
Ich blicke auf unsere Hände herab, die ineinander verkeilt sind. Instinktiv halte ich mich an ihr fest, als wäre sie ein Rettungsseil.
„Wir gehen da zusammen durch und wir finden den Weg auch zusammen wieder raus."
Sie sagt es, als wäre es schon passiert. Eine schlichte Tatsache, kein Wenn und Aber.
Vorsichtig zieht sie mich die Treppe hinunter. Ich folge ihr, meinen Blick fest auf diese hellen, strahlenden Augen gerichtet, die mich nicht loslassen. Sie lenken mich von meiner persönlichen Hölle ab, die dort unten auf mich wartet.
Die verschachtelten und endlosen Gänge der U-Bahn.
Der einzige Grund, warum ich vor dem Sonnensturm immer mit meinem Fahrrad unterwegs gewesen war oder den Bus zur Uni genommen hatte.
Niemals die U-Bahn.
Nie.
Der Gedanke, die Decke könnte einstürzen und uns unter der Erde vergraben, hat mir die schlimmsten Albträume meines Lebens beschert.
Knox' Hand, welche mich bis zum Eingang zieht, ist in diesem Moment meine einzige Sicherheit. Mein Anker.
Dann übernimmt Nari, als wir mit ihr aufschliessen. Sie hält mich mit beiden Händen fest. Durch den Schleier der Angst bekomme ich mit, dass sie Knox erklärt, was mit mir los ist.
Mein Herz und meine Lungen sind so sehr damit beschäftigt, panisch zu pumpen und beinahe zu explodieren, dass ich nichts sagen, anfügen oder erklären kann, obwohl ich es eigentlich möchte.
Es ist mir peinlich.
War es schon immer.
Niemand hat mich je verstanden. Meine Kumpels an der Uni haben mich nur ausgelacht.
Aber Knox nickt einfach, dreht sich um und läuft in die Dunkelheit. Sie hat es akzeptiert, als wäre es das Natürlichste auf der Welt, diese Angst. Gerade sie, die keine Angst mehr zu kennen scheint, zeigt das grösste Verständnis.
Ich verstehe diese Welt nicht mehr.
X X X
Nari hat eine Kerze und ein Windlicht aus Aluminium ausgepackt und überreicht es Knox. Damit läuft sie vor uns und leuchtet in die Finsternis. Der Lichtkegel ist alles, was uns Orientierung gibt, ansonsten fühlt es sich so an, als würden wir durch einen endlosen Irrgarten aus Beton gehen.
An einer Stelle hängt eine verstaubte Bahnstrecken-Karte an der Wand. Knox studiert den Plan in aller Ruhe, während über uns die Decke vibriert.
Noch eine Explosion.
Mein Herz springt mir fast aus der Brust, aber Knox tut so, als befänden wir uns im langweiligsten Teil der Stadt und suchten gerade den nächsten Starbucks. Sie nimmt sich Zeit.
„Hier unten kann uns nichts passieren", sagt sie nebenbei und erstaunlicherweise glaube ich ihr.
Mein Kopf ist im Automatikmodus.
Als sie sich den Weg gemerkt hat, stechen wir nach rechts und folgen dem Fussgängertunnel, bis wir zur Plattform gelangen. Knox springt auf die U-Bahn-Gleise, ich folge ihr und hieve Nari vom Steig.
Das schwache Licht der Kerze schimmert über Knox' Gesicht und zum ersten Mal sehe ich sie lächeln. So richtig.
Es ist wie ein Sonnenaufgang.
Es lässt mich alles um mich herum vergessen.
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Author's Note:
Wir sind unterwegs auf der grünen Linie, juhu. Hoffen wir mal, dass dort unten in der Finsternis nichts schief läuft.
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