11. When shit hit the fan
Ophelia
Ich bewege mich wie auf Eierschalen durch den Raum. Hinter mir schnaubt der territoriale Streuner laut seinen Frust durch die Nase. Er wollte mich sowas von nicht reinlassen, denn er hat etwas zu verlieren.
Seine Schwester, die so dünn ist, dass sie aussieht als könnte sie jeden Moment zerbrechen.
Ich kenne das Gefühl von saurem Atem auf der Zunge und das ziehende Loch im Bauch, weil man tagelang nichts gegessen hat.
Nari scheint das auch zu kennen. Viel zu gut für ihr Alter. Ebenso der Streuner, der mich nicht aus seinen Augen lässt und jede meiner Bewegungen genauestens mitverfolgt.
Den Rucksack befördere ich auf den Esstisch und lasse ihn dort stehen. Ich entferne mich mit erhobenen Händen davon, als befände sich darin eine Bombe. Ich will Jun damit verdeutlichen, dass ich mein Angebot ernst gemeint habe.
Das Zeug wird geteilt.
Während wir beide uns einfach anstarren, hören wir Nari schmatzen. Sie hat sich wieder in ihr Bett gesetzt und stopft sich den viel zu grossen Schokoladenriegel in den Mund, beisst kleine Stücke ab und kaut sie lange.
Sie hat gelernt, mit Vorsicht und Geduld zu geniessen. Immerhin etwas, das der Typ ihr richtig beigebracht hat. Das rechne ich ihm hoch an — mal abgesehen von der Tatsache, dass er seine Schwester in einer Todesfalle gefangen hält.
Jun bewegt sich nicht. Diese mandelförmigen, rabenschwarzen Augen lassen keine Sekunde von mir ab. Er scheint mich analysieren, mich durchleuchten zu wollen.
„Das ist soooo lecker!", hören wir Nari stöhnen.
Und dann kichert sie. So fröhlich und aus vollstem Herzen, dass sich Juns düstere Gesichtszüge entspannen. Dagegen kommt keine Körperbeherrschung an.
Ich lasse meine Hand in den Rucksack gleiten und ziehe ein zweites Snickers hervor, gebe Jun kaum die Möglichkeit, zu registrieren, was ich tue und werfe ihm den Riegel an. Er knallt ihm gegen die Brust, doch er fängt ihn auf.
„Für den Piekser", sage ich und zeige auf seine Rippe — etwa dort, wo ich ihn erstechen wollte. Direkt ins Herz.
Er fletscht die Zähne.
„Sorry", füge ich mit einem Katzengrinsen hinzu und werde Zeugin davon, wie ihm für einen Moment die Gesichtszüge entgleiten. „Bist mir an einem etwas schlechten Tag über den Weg gelaufen."
Jun beäugt mich, dann den Schoko-Riegel in seiner Hand und endlich beschliesst er, ihn aus seiner Plastikverpackung zu befreien. Ich reisse die M&Ms-Tüte auf und greife eine Handvoll heraus.
„Was du nicht sagst", schnaubt er und schmeisst sich aufs abgesessene Sofa.
Er lässt ein tiefes Brummen hören, als seine Zähne sich in den zähen Schoko-Erdnuss-Karamell-Riegel vergraben. Ich werfe mir drei gelbe M&Ms in den Mund und streife meine Jacke ab. Sie ist schwer und trieft vor Nässe. Der Schnee hat sich in den Stoff gesogen.
Mit den Augen suche ich nach einer geeigneten Stelle, an welcher ich die Jacke aufhängen kann, ohne dass sie alles volltropft.
„Wo kann ich die trocknen?", frage ich Jun und deute in die Richtung des Heizkörpers, welcher neben Naris Bett steht. Er würde mich niemals zu nahe an seine Schwester lassen, das weiss ich, darum benehme ich mich so brav wie ein gut erzogenes Hündchen.
Jun schaut mich einfach nur an und kaut an dem Snickers herum, das ich ihm gegeben habe. Er denkt nach.
Als er schluckt, sagt er: „Wirf rüber."
Ich tue es. Er fängt meine Jacke und steht vom Sofa auf, schlurft in eine dunkle Ecke und kommt mit einem Kleiderbügel zurück.
Einem Kleiderbügel.
Dann schiebt er eine Kiste mit dem Fuss neben den Heizkörper, springt darauf und streckt sich. Erst jetzt erkenne ich, dass dort über dem Heizkörper ein Haken in die Decke eingelassen wurde. Meine Jacke findet ihren Platz daran.
Jun klettert von der Kiste und lässt ein Ächzen hören.
„In der Tasche sind übrigens deine Tomatensamen", sage ich und zeige auf die baumelnde Jacke. Die wollte er ja bestimmt auch wieder haben.
„Kannst sie behalten", brummt er zu meiner Überraschung und zuckt mit den Schultern. „Ich kann eh nicht gärtnern."
Ein trockener Lacher löst sich von meiner Kehle, was sich aufgrund meiner malträtierten Luftröhre allerdings gleich in einen kurzen Hustenanfall verwandelt.
Nari betrachtet mich besorgt von der Seite. Sie ist noch nicht einmal zur Hälfte mit ihrem Snickers durch und fährt erst dann mit dem Schlemmen fort, als mein Husten komplett verstummt ist.
Jun setzt sich zurück auf die Couch und macht sich wieder über seinen eigenen Riegel her. Er schliesst genüsslich die Augen, während die Schokolade und das Karamell auf seiner Zunge schmelzen.
Ich schütte mir selbst eine Ladung M&Ms in den Rachen und grummle in mich hinein.
Bitteschön, Sam. Da hast du, was du wolltest.
X X X
Die Wärme im Quincy Market tut mir gut. Ich spüre meine Zehen wieder.
Nari ist mittlerweile in ihrem Bett eingeschlafen. Den Riegel hat sie nicht fertig essen können. Sie ist aus Übersättigung und Müdigkeit einfach eingenickt, die Spuren von der geschmolzenen Schokolade überall auf ihrem Gesicht und an ihren Fingern.
Jun hat den Riegel zur Seite gelegt und sie zugedeckt.
Das Wasser in der kleinen Pfanne köchelt leise vor sich hin. Jun steht davor und beobachtet schweigend wie es blubbert, dann dreht er das Gas ab, giesst die heisse Flüssigkeit in eine Thermosflasche und schiebt sie mir über den Tisch entgegen. Er setzt sich mir gegenüber.
Ich stosse sie unbeeindruckt zurück. Erst soll er davon trinken.
Er verdreht die Augen, greift zur Kanne und nimmt einen vorsichtigen Schluck, dann streckt er mir die Flasche wieder hin. Als ich mich mit einem misstrauischen Schnüffeln vergewissert habe, dass er das Getränk nicht mit irgendetwas gespiked hat, wage ich es, davon zu trinken.
Jun schüttelt bloss den Kopf.
Das Wasser schmeckt zwar nach Eisen und sonst nichts, aber es wärmt mich von innen, wirkt beruhigend auf meinen Hals.
Wir schieben uns die Flasche quer über den Tisch zu, bis sie ausgetrunken ist.
Draussen hat sich die Dunkelheit über die Stadt gelegt.
Jun entzündet eine Kerze und stellt sie in die Mitte zwischen uns. Das Misstrauen will nicht aus seinem Gesicht weichen. Ich verstehe ihn. Ich bin schliesslich die Feindin in seiner Mitte.
„Und?", murrt er. „Was ist deine Geschichte?"
„Meine Geschichte?"
„Deine Eltern? Familie? Woher du kommst? Diese Scheisse eben."
Ich runzle die Stirn. „Ist das deine Art, jemanden kennenzulernen?"
„Ich will dich nicht kennenlernen."
„Sondern?"
„Ich will dich einschätzen können."
Die Stuhllehne ächzt, als ich mich in ihr zurücklehne und die Arme vor der Brust verschränke. „Du zuerst", verlange ich.
Er schnaubt und schon wieder funkeln mich diese obsidianschwarzen Augen an.
„Wo sind eure Eltern?", möchte ich wissen.
Jun ballt die Hand auf dem Tisch zur Faust. „Sie waren auf dem Weg nach Seoul."
„Im Flugzeug?"
„Ja."
Well, fuck. Dazu kann ich nichts sagen. Ein Flugzeug ist der letzte Ort, an welchem man sich während eines Sonnensturmes aufhalten möchte. An einem einzigen Tag fielen 100'000 Stahlvögel vom Himmel. Damals.
„Und deine?", fragt er, um von sich abzulenken.
Ich puste die Luft aus meinen Lungen. Eigentlich will ich nicht darüber sprechen, aber er hat mir von seinen Eltern erzählt, also kann ich dasselbe auch tun. Ausnahmsweise.
„Der Herzschrittmacher meines Dads ist in seiner Brust durchgeglüht", antworte ich.
Jun ist für einen Moment sprachlos.
„Und Mom kam später bei der Bombardierung des Krankenhauses ums Leben."
„Sie war Ärztin?", will er wissen.
Ich schüttle den Kopf. „Krankenschwester auf der Intensivstation für Neugeborene."
Mein Gegenüber schluckt schwer. „Wo?"
„Boston Children's Hospital."
Das Beste auf der Welt. Das Krankenhaus, das grundlos dem Erdboden gleich gemacht wurde, als sich die Leader unserer Nationen nicht mehr verstehen wollten. Als Krieg das letzte Mittel zu sein schien, um uns vor dem Untergang zu bewahren.
Wenn die Kinder tot sind, dann stirbt mit ihnen auch die Hoffnung auf bessere Zeiten.
„Immerhin war es für sie schnell zu Ende", sage ich.
Unsere Eltern mussten nicht lange leiden und zusehen, wie viel schlimmer alles wurde. Ein kleiner Trost, aber wenigstens einer.
„Immerhin", stimmt mir Jun zu.
Er erhebt sich und kramt etwas hinter dem Sofa hervor. Es ist eine Wodkaflasche und ein Stück eines zerrissenen Bettlakens oder eines anderen dünnen Stoffes. Die Flasche stellt er mit einem lauten Krachen auf den Tisch, schraubt sie auf und betupft damit das Tuch.
Dann lehnt er sich im Stuhl zurück und krempelt sein T-Shirt hoch. Die Wunde, die ich ihm zugefügt habe, prangt dort auf seiner hellen Haut. Das Blut ist getrocknet. Er zischt die Luft aus seinem Mund, als er den Lappen darauf legt.
Unsere Blicke kreuzen sich für einen Moment und ich wende den Kopf zur Seite. Ich wollte ihn eigentlich nicht dabei beobachten.
„Mein Platz für die Nacht?", frage ich und zeige aufs Sofa.
„Mhm."
Wortlos erhebe ich mich und werfe mich der Länge nach auf die Couch. Sie ist weich und nah genug am Heizkörper gelegen, sodass ich etwas von der Hitze abbekommen werde.
Es ist eine der wärmsten Schlafnischen, welche ich seit langer Zeit wieder einmal hatte und obwohl ich eigentlich nicht schlafen wollte und es in Anwesenheit des Streuners definitiv nicht sollte, fallen meine Augen augenblicklich zu.
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Author's Note:
Ein halbwegs normales Gespräch haben die miteinander geführt! Kann jemand mal bitte für die beiden applaudieren? XD
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