10. Zurück!
Ein Uhr morgens.
Freitagabend.
Die Männer der britischen Einheit standen bereit und warteten auf Niall's Signal.
Der junge Offizier stand am Rand des Schützengrabens und zog die Pfeife aus seiner Hosentasche.
Dann der Pfiff.
Die Männer stürmten aus den Schützengräben und rannten voll bewaffnet durch das Niemandsland auf den Gegner zu.
Harry's Herz klopfte ihm bis zum Hals.
Er hielt sein Gewehr fest umklammert, während er das etwa dreißig Meter breite Niemandsland überquerte.
Er hatte es voll geladen.
Er konnte nur hoffen, dass Louis sich an sein Versprechen gehalten hatte.
Er sah aus dem Augenwinkel, wie Henry, ein Kamerad, eine Granate zündete, um sie direkt in die deutschen Schützengräben zu werfen.
Dann fielen Schüsse.
Auf der deutschen Seite.
Sein Kamerad kippte zur Seite und ließ die Granate fallen.
Harry rannte, so schnell er konnte, zerrte Niall mit sich und die beiden Männer landeten zusammen im kalten Matsch.
Die Deutschen waren vorbereitet.
Sie feuerten aus ihren Schützengräben und die Briten waren dem Kugelhagel schutzlos ausgeliefert.
Der Schrecken spiegelte sich in Niall's Augen; er stand auf und sah, wie seine Männer fielen wie Zündhölzer.
Dabei hatten die Deutschen noch nicht einmal schwere Artillerie, sondern lediglich ihre Gewehre verwenden müssen.
„Zurück!", rief Niall, so laut er konnte, doch seine verzweifelte Stimme verklang unter dem lautstarken Gefecht. „Rennt zurück!"
Einige Männer versuchten, die Stellung zu halten und feuerten zurück, doch es war vergebens.
Harry rappelte sich auf und folgte Niall. Zu seinen Füßen die Leichen seiner Kameraden.
Bei einigen war er sich nicht sicher, ob sie noch lebten, als er seine Beine in die Hand nahm und so schnell wie nur irgendwie möglich zurück rannte, links neben ihm schlug eine Kugel ein, die seinen Tod hätte bedeuten können.
Er sprang in den britischen Schützengraben, hinter ihm Niall und zwei andere Soldaten.
Sie hörten eine Explosion hinter sich und wussten: Wer jetzt nicht bei ihnen im Schützengraben war, hatte keine Chance gehabt.
Niall schluckte und legte den Kopf in die Hände.
Von den etwa 300 Soldaten, die an dem Angriff beteiligt gewesen waren, saß nur noch ein Bruchteil in den Schützengräben.
Die, die es überlebt hatten, saßen zusammengekauert im Matsch, immer in der Erwartung einer neuen Explosion oder eines Gegenangriffs.
Doch es blieb still an der Front.
Niemand wagte auch nur zu atmen.
Fast eine ganze Minute lang sagte niemand etwas, bis Niall seine Männer ernst ansah. „Wir müssen die Verletzten bergen."
„Da draußen gibt es keine Verletzten mehr", sagte ein Soldat, völlig außer Atem. „Nur Tote."
Niall hielt Ausschau nach seinem Bruder. „Wo ist Greg? Hat er es geschafft?"
Noch ehe er eine Antwort erhielt, bemerkte er, dass Harry neben ihm zitterte und um Luft rang. „Ich krieg keine Luft mehr."
Niall packte seinen Freund bei den Schultern und suchte ihn nach Verletzungen ab. „Hast du eine Kugel abbekommen?"
Harry schüttelte den Kopf und hatte das Gefühl, jeden Moment zu ersticken. „Ich glaube nicht", presste er hervor und spürte, wie sich ihm die Kehle weiter zuschnürte.
Er presste die Lippen zusammen und stieß die Luft aus, und Niall schüttelte ihn einmal kräftig durch. „Dreh jetzt nicht ab, Harry, okay?"
Harry kniff die Augen zusammen und versuchte, zu atmen, doch es fühlte sich an, als hätte er eine bleierne Last auf dem Brustkorb.
Er zitterte am ganzen Körper, und Niall war machtlos.
„Wir werden alle sterben", wisperte Harry, und dicke Tränen kullerten seine Wangen nach unten. „Ich will nicht sterben."
„Du wirst nicht sterben", hörte er Niall's Stimme, wie aus weiter Entfernung. „Sieh mich an, Harry."
Als sein Freund nicht reagierte, nahm Niall das schweißnasse Gesicht in seine Hände und sah ihm tief in die Augen. „Konzentrier dich auf deine Atmung."
Er atmete mit ihm ein- und aus, Harry presste die Luft aus seinen Lungen, nur um im nächsten Moment panisch nach Luft zu schnappen.
Ihm wurde schwindlig, Kopfschmerzen und Übelkeit breiteten sich in seinem Körper aus. Er hatte das Gefühl, jeden Moment zu sterben.
Niall schüttelte ihn abermals kräftig durch, machte es dadurch noch schlimmer, und es dauerte knapp zwanzig Minuten, bis der junge Brite sich wieder beruhigt hatte.
Harry war nicht der einzige Soldat, der in dieser Nacht eine Panikattacke erlitt.
Niall hatte vor dem Krieg noch nicht einmal gewusst, dass solche Dinge gab.
Greg saß nur wenige Meter entfernt, und drängte sich eilig durch die wenig übrig gebliebenen Soldaten und griff nach der Hand seines Bruders. „Niall", sagte er, während dieser Harry's Schultern fest umklammert hielt. „Sie haben aufgehört zu schießen."
Niall sah seinem Bruder erleichtert entgegen. „Du glaubst gar nicht, wie froh ich bin, dich zu sehen."
Greg sah zu Harry, der wie ein Häufchen Elend an seinem Bruder lehnte. „Kann ich irgendwie helfen?"
Niall schüttelte den Kopf und stand auf, riskierte einen Blick über den Rand des Schützengrabens.
Es war still.
Rauch quoll in dichten Schwaden vom Boden nach oben und versperrte ihm die Sicht. „Können wir unsere Verletzten bergen?", rief er mit zitternder Stimme über das Niemandsland hinweg.
Auf der anderen Seite der Front erkannte Louis Niall's Stimme.
Er schluckte. „Kommt ihr unbewaffnet?"
„Ja", hörte er ihn rufen, in seiner Stimme spiegelte sich die Verzweiflung der letzten Stunde.
Louis hatte bemerkt, wie hektisch alle gestern Abend gewesen waren, as er von seinem Treffen mit Harry zurückgekehrt war.
Aber er konnte sich nicht erklären, woher die anderen von dem Nachtangriff erfahren hatten.
„Dann geht!", rief er und sah, wie sich der Qualm langsam legte.
Die Briten stiegen mit erhobenen Händen aus den Schützengräben.
Greg blieb neben Harry hocken und redete ihm gut zu, während Niall und einige andere vergeblich nach Überlebenden suchten.
Nichts fanden sie, nichts als meterlange Spuren von Leichen, losen Körperteilen und kaputter Ausrüstung.
Niall schloss für einen Moment die Augen.
Er wusste, diese Bilder würden ihn, wie so vieles in diesem Krieg, bis an sein Lebensende verfolgen.
Sie fanden insgesamt zehn Verletzte.
Zehn, von knapp 250 Männern, die Niall nach dem Angriff vermisst hatte.
Die Überlebenden trugen die Verletzten auf Tragen durch die Schützengräben ins britische Hinterland, wo sie im Lazarett aufgenommen wurden.
Harry hatte seit Stunden kein Wort mehr gesprochen, weder mit Niall, noch mit einem anderen Kameraden.
Sein Blick war leer, sein Gehirn versuchte, wie schon so oft, mit dem Erlebten klarzukommen.
Aber er schaffte es einfach nicht.
Er hatte so viele Freunde sterben sehen - und wozu?
Was war mit dem schnellen Krieg, von dem man ihnen erzählt hatte?
Die Motivation in den Truppen ließ nach.
Drei Tage später fragte sich Niall noch immer, wie das hatte passieren können.
Harry hatte sich gerade einigermaßen gefangen, als sein Freund ihn vorwurfsvoll ansah. „Du hast ihm davon erzählt, nicht wahr?"
Harry, der sich in den vergangenen Tagen pausenlos gefragt hatte, wie Louis ihm das nur hatte antun können, wich dem Blick seines besten Freundes aus. „Er hat versprochen, es niemandem zu sagen."
„Sei doch nicht so dumm, Harry!", rief Niall aus und sah ihn eindringlich an, „Er war der einzige, der es wusste, und jetzt sind so viele unserer Freunde tot!"
Harry zuckte zusammen. Die Enttäuschung war nicht in Worte zu fassen.
„Denkst du nicht, ich hätte dich auch sofort gewarnt, wenn ich eine solche Information gehabt hätte?", wollte Niall von ihm wissen und fuhr sich mit beiden Händen über das erschöpfte Gesicht. „Er will doch auch nur das Leben seiner Männer retten, verdammt, das ist sein Job!"
Harry sah ein, was Niall zu ihm sagte.
Er war dumm und naiv gewesen zu glauben, Louis würde seiner Einheit den geplanten Nachtangriff verschweigen. Er fühlte sich schuldig und wäre am liebsten an der Stelle seiner Kameraden in dem Massengrab gelandet, das sie in der Nähe ausgehoben hatten.
Doch er wusste, dass er noch einmal mit ihm reden musste, um diese Sache zu klären.
Ein letztes Mal.
_______________
Hallo meine Lieben,
sorry dass es hier so lange so still war.
Das Buch ist ja schon fertig, ich hab es nur irgendwie in letzter Zeit etwas aus den Augen verloren, weil ich an zwei anderen Projekten arbeite.
Ich hoffe, ihr versteht das:)
Was sagt ihr zu dem Kapitel?
All the love,
Helena xx
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro