Ihres oder meines?
„Fühlst du dich denn dazu verpflichtet, das alles zu tun?"
Mit beiden Händen reibe ich mir über mein Gesicht. Irina und ich reden seit Stunden, doch es fühlt sich so befreiend an. Ich habe ihr alles erzählt. Von meiner Geburt an, über meine Krankheit, meine Kindheit, Schule bis hin zur Transplantation und meinem Umzug hierher. Auch von Abbys Brief und ihrer Liste habe ich ihr erzählt. Denn nur so konnte sie verstehen, was heute Morgen geschehen ist. Oder vielmehr gestern. Die Uhr zeigt mittlerweile halb drei und obwohl ich sie immer wieder gefragt habe, ob es nicht noch andere Patienten gäbe, winkte Irina jedes Mal ab und bat mich darum, weiter zu reden.
Und nun stellt sie mir diese Frage. Empfinde ich so? „Keine Ahnung... Ich bin gerne auf der Ranch, bei den anderen. Sie sind in der kurzen Zeit alle zu Freunden geworden. Eine Verpflichtung habe ich darin bisher nicht gesehen... Eher..." Ich stocke, denn wie soll ich Irina etwas erklären, dass ich mir selbst nicht erklären kann. Sie lässt mir alle Zeit der Welt, doch mir fallen keine Worte ein, um meine Gefühle zu beschreiben.
„Also keine Verpflichtung. Was ist es dann?", fragt sie und wartet geduldig, bis ich mich gesammelt habe. „Ich habe kein Wort dafür. Es fühlt sich manchmal einfach... einfach falsch an. Ich bin so gern dort. Die Arbeit mit den Pferden macht mir Spaß, erfüllt mich irgendwie mit Ruhe. Auch die Gesellschaft von Mika, Sarah und den anderen ist toll. So wohl habe ich mich unter Menschen noch nie gefühlt! Laura und Marshall behandeln mich, als sei nichts gewesen. Als hätte ich nicht..." Wieder halte ich inne, denn genau das ist doch der Gedanke, der mich im Bad in Panik verfallen ließ.
„Als hättest du nicht das Herz ihrer Tochter in deiner Brust?" Irinas sanfte Stimme spricht das aus, was in meinem Kopf festsitzt und so kann ich nur nicken. „Ist es das? Hast du das Gefühl, es sei immer noch ihres?", hackt sie nach und ich kann nur nicken. Ich dachte eigentlich, ich hätte dieses Gefühl abgeschüttelt und das Herz als das meine akzeptiert. Doch dem ist offenbar nicht so. Und genau das versuche ich auch, Irina zu erklären. Allerdings bekomme ich dabei einen großen Kloß in meinem Hals, der es mir kaum noch ermöglicht, klare Worte hervorzubringen.
„Es ist doch auch ihr Herz. Und alles was ich jetzt erlebe, sollte sie erleben. Abby sollte sehen, wie ihre Tochter aufwächst. Sie sollte mit ihrem Mann und ihrer Tochter am Frühstückstisch sitzen und Amylias erste Worte hören. Nicht ich! Meine Gefühle für Grayson... sie sind falsch! Es ist doch das Herz seiner Schwester..." Heftig versuche ich zu atmen, doch mein Hals wird immer enger und mir kommen erneut die Tränen.
Ich spüre ihre Hand auf meiner Schulter und höre ihre Worte, die mich beruhigen sollen. Doch es kostet mich enorm viel Kraft, mich vor einem erneuten Zusammenbruch zu bewahren. „Tief ein und wieder ausatmen, Olivia. Mach es mit mir zusammen, ok?", spricht sie ruhig neben mir und mich allein auf unsere Atmung zu konzentrieren hilft tatsächlich. Der Kloß löst sich langsam auf und ich bekomme wieder Luft. Irina ist so nett und reicht mir mein Wasserglas, das ich in kleinen Schlucken leere. Erst als mein Hals sich nicht mehr anfühlt, als bestünde er aus Sandpapier, lehne ich mich in meine Kissen zurück und spiele mehr unbewusst mit dem Lederband an meinem Handgelenk.
„Grayson also...", ist es Irina, die schließlich die Stille durchbricht. Ich kann ihr nicht antworten aus Angst, dass ich wieder anfangen muss zu weinen. Doch Irina sitzt geduldig neben mir und ich kann ihren Blick auf mir spüren. Es kostet mich viel Kraft, ihr alles über Grayson zu erzählen, angefangen bei unserer ersten Begegnung, über all die Male, in denen er mich mit Hass und Trauer erfüllten Augen angesehen hat und auch die Sache mit dem Sturz erzähle ich ihr. Unsere gemeinsame Nacht lasse ich auch nicht aus. Schließlich ende ich bei dem geplanten Frühstück am Morgen.
„Also das ist wirklich einiges, was du da zu verarbeiten hast.", setzt sie an und ich schnaube leise. Das ist wohl die Untertreibung des Jahres. „Warum denkst du, dass deine Gefühle für Grayson falsch sind?", fragt sie schließlich und geht einfach über mein Schnauben hinweg. „Ich weiß ja nicht einmal genau, was das eigentlich ist! Aber egal was, es ist falsch. Ich trage das Herz seiner Schwester in meiner Brust!", rufe ich etwas zu laut aus, kann aber nicht mehr an mich halten. Erst jetzt schaue ich die Therapeutin an und sie nickt, in ihren Augen kann ich so etwas wie Verständnis erkennen.
„Ok. Ich denke als erstes müssen wir herausfinden, warum es für dich nicht dein Herz ist. Und auch, wenn ich dir als Therapeutin eigentlich eher helfen soll, deinen Weg selbst zu finden, sage ich dir jetzt etwas." Sie setzt sich auf und stützt sich mit den Ellbogen auf ihren Knien ab. Ihr Blick ist immer noch sanft, doch es liegt eine Spur mehr Ernst darin als zuvor. „Dieses Herz schlägt in deiner Brust, in deinem Körper. Dein Blut fließt hindurch. Du lebst. Und deine Gefühle bringen es dazu, schneller zu schlagen. Es klingt jetzt hart aber... Abby ist nicht mehr hier. Du schon."
Ihre Worte hängen schwer in der Luft, schweben über mir. Irina lässt meinen Blick nicht los, ganz so, als wolle sie sehen, wie es in mir arbeitet. Und wie es arbeitet! Ich wiederhole ihre Worte in meinem Kopf. Worte, die ich auch schon zuvor zu mir selbst gesprochen habe. Worte, die mir begreiflich machen sollten, dass es mein Herz ist. Doch da ist so viel mehr. Grayson, Amy, Tyler, ihre Eltern... die Liste. Jemand muss das alles doch tun.
Warum habe ich nur das Gefühl, dass ich das alles tun muss, denn sonst habe ich dieses Herz nicht verdient. „Du denkst also, du müsstest Abby irgendwie ersetzten?" Irinas Frage lässt mich kurz zusammenfahren. Habe ich meine Gedanken ungewollt laut ausgesprochen? Aber irgendwie scheint es genau das zu sein. Amy braucht eine Mutter. Grayson eine Schwester. Laura eine Tochter. Die Ranch eine neue Abby.
Also kann ich nur nicken. Irina schenkt mir ein Lächeln und greift nach meiner Hand, deren Finger immer noch nervös an dem braunen Band herumzupfen. „Du kannst Abby nicht ersetzten. Niemand kann das. Und du musst das auch nicht. Niemand würde das je von dir verlangen, außer vielleicht du selbst." Langsam nicke ich, doch so ganz bin ich noch nicht überzeugt. Es ist, als stünde ich vor einer Mauer mit einer verschlossenen Tür. Und ich kann den Schlüssel nicht finden. Irina scheint mein Hadern zu bemerken, denn nun nimmt sie meine Hand mit beiden und drückt sie. „Olivia. Denk einfach in Ruhe darüber nach. Mach dir selbst klar, dass es dein Leben ist. Es ist dein Weg und wo der dich hinführt entscheidest allein du. Nicht ich, nicht deine Mutter, nicht Abby. Allein du. Und wenn du Abbys Liste weiterführen möchtest, ist das in Ordnung. Wenn du mit Grayson herausfinden möchtest, was das zwischen euch ist, dann lass dich darauf ein. Wenn du stattdessen aber lieber in das nächste Flugzeug nach Europa springen und den Eiffelturm besichtigen möchtest, ist auch das vollkommen in Ordnung!"
Ich muss leicht lachen, aber ich nicke. Sie hat recht. Ich muss herausfinden, wo mein Weg mich hinführt. Doch so einfach, wie Irina es beschreibt, ist es für mich nicht. „Du glaubst also... es wäre nicht schlimm, wenn ich Abbys Brief und ihre Liste..." Irina drückt erneut meine Hand. „Du sollst sie ja nicht verbrennen! Wenn du sie aber beiseitelegen und dich erst einmal dir selbst und deinem neuen Leben widmen möchtest, dann tu das. Möchtest du lieber deine eigene Liste machen? Auch OK. Olivia, es ist noch kein Jahr her da dachtest du, du würdest streben. Und nun sie dich an! Du lebst! Du strahlst! Und so wie du mir dein neues Leben beschrieben hast, bist du glücklich. Das muss jetzt nur noch in deinem Kopf ankommen."
Nachdem Irina gegangen ist, versuche ich zu schlafen. Doch ihre Worte hallen in meinem Kopf wider und ich kann mich nur von einer zur anderen Seite wälzen. An Schlaf ist jetzt absolut nicht zu denken. In nächster Zeit werde ich öfter herkommen und mit Irina sprechen. Wir beide haben das Wort Therapie weitestgehend vermieden und so fühlt es sich tatsächlich weniger wie ein Arztbesuch für mich an. Das heutige Gespräch läuft in meinem Kopf in Dauerschleife und ich versuche, meine Gedanken dazu zu ordnen.
Vielleicht hätte ich nicht herkommen sollen.
Das ist ein Gedanke, der mir immer wieder durch den Verstand zuckt. Wenn ich Laura, Marshall, Grayson und die anderen nie kennengelernt hätte. Und vor allem, wenn ich nicht jeden Tag mit ihnen verbringen müsste... Leise lache ich über mich selbst. Als würde ich nicht gerne Zeit mit allen verbringen! Endlich habe ich Menschen um mich herum, die mich nicht nur als das kranke Mädchen sehen, mit dem man vorsichtig sein muss.
Ja, ich bin nur hier, weil ich Abbys Herz bekommen habe. Aber mögen sie mich auch nur deshalb? Grayson hat mir eindeutig gezeigt, dass sie mich alle eigentlich hassen müssten. Immerhin ist Abby tot und ich lebe.
Abby ist tot.
Worte, die ich mir bisher in Gedanken und Worten verboten habe. Aber so ist es doch. Abby ist gestorben und sie hat vorher, im Besitz all ihrer geistigen Gesundheit beschlossen, dass sie ihre Organe nach ihrem Tod nicht mehr braucht. Abby wollte anderen Menschen helfen und ihnen eine Chance auf ein Leben geben, wenn ihres vorbei ist. Es war ihre Entscheidung! Aber immer, wenn ich kurz davor bin mir zu sagen, dass ich alles erstmal auf mich zukommen lasse und an mich denken sollte, schießt mir wieder der Gedanke durch den Kopf, dass Abby mein Leben gerettet hat und ich ihr etwas schuldig bin.
Stöhnend rolle ich mich auf den Rücken. Um mich auf etwas andere Gedanken zu bringen, greife ich nach meinem Handy. Auf dem Display werden mir unzählige Nachrichten angezeigt. Zuerst lese ich die Nachrichten meiner Mutter. Sie schreibt mir bloß, dass sie morgen Mittag vorbeikommt, bis dahin sollten alle Untersuchungen durch sein und auch klar sein, ob ich nach Hause darf. Außerdem, dass ich mich sofort melden soll, wenn etwas nicht stimmt. Schnell antworte ich ihr, dass alles in Ordnung ist. Das entspricht vielleicht nicht ganz der Wahrheit, doch nach dem Schrecken, den ich ihr eingejagt haben muss, möchte ich sie nicht noch mit meinen sich im Kreise drehenden Gedanken belästigen.
Die nächsten Nachrichten sind natürlich von Sarah, Mika, Riley und den anderen. Kurz antworte ich allen im Prinzip dasselbe. Dass es mir gut geht und sie sich keine Sorgen machen müssen. Riley allerdings schreibe ich etwas mehr, hoffe fast schon, dass er vielleicht schon wieder wach ist und mir antwortet. Doch ich hoffe vergebens. Wie gerne würde ich mich mit ihm hinsetzten und in Ruhe über das reden, was am Wochenende geschehen ist. Denn auch das belastet mich. Da Riley mich aber am Morgen nicht vollkommen ignoriert oder gar abgewiesen hat, bin ich mir sicher, dass wir das hinbekommen.
Die letzten Nachrichten, die ich öffne, sind von Grayson.
Ein Flattern geht durch meinen Körper, als ich seine Worte lese:
„Geht es dir gut? Bitte sag mir, dass es dir gut geht!"
„Sie lassen mich nicht rein... Sagen bloß, dass es dir gut geht... Aber ich muss es von dir hören. Du hast mir solch einen Schrecken eingejagt, Liv"
„Ist es meine Schuld? Habe ich etwas getan? Etwas falsch gemacht? Bin ich dir zu viel?! Bitte, melde dich"
„Eigentlich ist es total bescheuert, dir diese ganzen Nachrichten zu schreiben... wahrscheinlich schläfst du. Sollst du auch, du musst dich erholen! Es tut mir so leid. Wenn ich schuld daran bin... dann sag es mir! Wenn du nicht in meiner Nähe sein willst... ich würde das verstehen. Aber ich werde nicht gehen, ehe ich sicher bin, dass es dir wirklich gut geht."
Ohne es zu wollen, beginnen meine wässrigen Augen zu brennen. Bevor die Tränen sie aber verlassen können, reibe ich mit einer Hand über meine Augen und atme einige Male tief durch. Es tut mir im Herzen weh, dass Grayson denkt, die Schuld für das alles läge bei ihm. Und auch der Glaube daran, ich wolle ihn vielleicht nicht mehr sehen, versetzt mir einen Stich.
Auch wenn ich nicht im Geringsten weiß, was ich für ihn fühle, was das zwischen uns ist und wie es weitergehen soll. Eines weiß ich sicher: Ich möchte ihn in meiner Nähe haben. Nicht nur um mich, sondern nah bei mir. Zaghaft tippe ich auf den Display, um auf Graysons Nachrichten zu antworten.
„Hey. Entschuldige, dass ich dir einen solchen Schrecken eingejagt habe. Das wollte ich wirklich nicht. Was das war... das weiß ich selbst nicht so genau. Als Amy so gelacht und dann auch noch gesprochen hat... das sollte Abbys Moment sein. Stattdessen war ich da. Das erscheint mir einfach so falsch. Und in diesem Augenblick war wohl alles zu viel. Damit sowas nicht erneut passiert, muss ich mit dem was in meinem Kopf herumspukt fertig werden. Doch das hatte nichts mit dir zu tun! Bitte denk nicht so! Ich habe zwar nicht den leisesten Schimmer, was das zwischen uns ist... wohin das führt. Aber denk niemals, dass ich dich nicht in meiner Nähe haben möchte. Denn das möchte ich. Das wollte ich schon vor der Nacht, in der du zu mir gekommen bist... Bescheuert oder?! Aber ich bin bereit, das herauszufinden. Genauso wie ich herausfinden möchte, was ich mit mir anstellen soll und wie ich mit dem Herz in meiner Brust zurechtkommen soll. Aber das wichtigste ist: Dem Herzen und auch dem Rest meines Körpers geht es gut. O."
Ohne nochmal zu lesen, was ich getippt habe, sende ich die Nachricht an ihn. Hätte ich nochmal über meine Worte nachgedacht, wäre die Nachricht nie abgeschickt worden. Doch Irina hat mir bereits eines klar gemacht: Es ist mein Leben und ich kann es leben, wie ich es möchte. Ich sollte es zumindest. Und wenn es nur kleine Dinge sind, wie eine Textnachricht abzuschicken, die mit Worten von Wahrheit gefüllt ist, dann ist das doch schonmal ein Anfang.
Mittlerweile ist es fast vier Uhr in der Früh und mit Sicherheit schlafen sie alle noch. Ich rechne also nicht mit einer Antwort. Deshalb lege ich mein Handy wieder auf der Kommode ab und rolle mich unter der Decke zusammen. Langsam aber sicher bin ich doch müde oder besser gesagt erschöpft. In der Hoffnung, bis zur Visite wenigstens noch ein wenig Schlaf zu bekommen, ziehe ich die Decke bis unter mein Kinn und schließe die Augen. Dabei versuche ich, an nichts zu denken, meinen Kopf zu leeren. Gar nicht so einfach, weshalb ich mir Mühe gebe, nur an schöne Dinge zu denken.
Dabei kommen mir meine Großeltern in den Sinn, die uns trotz Mums Einwende, an Thanks Giving nächsten Monat besuchen wollen. Grandma hat ihr klar gemacht, dass sie entscheidet, wann sie zu alt ist, um eine lange Reise mit dem Auto zu machen. „Wenn ich meine Mädchen besuchen möchte, dann tue ich das auch!", waren Grandpas Worte gewesen. Als Mum mit der Tatsache kam, dass wir kein Gästezimmer haben, hörte ich aus dem Hörer nur Grandmas lautes Lachen. „Dein Vater schläft doch sowieso jeden Abend vor dem Fernseher n seinem Sessel ein! Würde ich ihn nicht aufwecken und ins Bett schicken, würde er da die ganze Nacht sitzen!" So war es also beschlossene Sache, dass die beiden uns Ende November besuchen würden. Meine Freude darüber, kann ich kaum in Worte fassen. Ich vermisse die beiden wirklich sehr.
Während ich an all die schönen Momente mit Grandma und Grandpa denke, höre ich das leise Klicken der Türklinke. Ich zucke leicht zusammen und schaue vorsichtig über meine Schulter zur Tür. Im schwachen Licht, das aus dem Flur in mein Zimmer fällt, kann ich bloß eine große Gestalt erkennen, die sich hineinschleicht und die Türe wieder schließt. Von Innen. Kurz überkommt mich Panik, doch als ich seine Stimme höre, ist sie wie weggeblasen und wird durch ein sachtes Kribbeln in meinem Bauch ersetzt.
„Hey, bist du noch wach?"
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