Kapitel 42 ࿐ the last day
FLORENTINA
Kalt und miefig war es in dem kleinen, dunklen Raum, in welchem der Sarg meiner Schwester aufbewahrt wurde. Einige Kerzen erleuchteten die Szenerie und sorgten neben der unerträglichen Stille für eine gruselige Atmosphäre. Wenn Aliénor nicht dabei gewesen wäre, hätte ich höchstwahrscheinlich noch mehr als allgemein schon gezittert.
Ich spürte, wie die Blondine meine Hand nahm, als ich mit zwei Fingern zaghaft über das geschliffene, schwarze Holz des Sarges strich.
„Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee ist, hier einzudringen", wisperte sie leise. Leichte Angst schwang in ihrer Stimme mit.
Dann wandte ich meinen Kopf zu ihr und sah in ihr besorgtes Gesicht, ohne eine Antwort zu erwidern. Wie ihr war mir bewusst, dass es mich kränken würde, dem Leichnam meiner Schwester so nahe zu sein und es nicht gut war, immer und immer wieder weiter zu trauern.
Jedoch war es mein Wunsch, ein letztes Mal den Ort zu besuchen, an dem ihr toter Körper lag. Und nicht Adelina selbst.
Erst hatte ich gedacht, dass es für mich kein Problem darstellen würde, bevor wir abreisen würden. Bei Aliénor hätte ich eher gedacht, dass sie sich weigerte. Denn auch sie hatte der Tod Adelinas schwer getroffen. Die beiden waren Freunde gewesen, und so temperamentvoll und euphorisch Aliénor auch sein konnte, konnte sie eine immense Trauer verspüren und wie ein Schlosshund heulen.
Doch nun war ich diejenige, die sich noch unwohl fühlte und nicht recht wusste, ob es mir wirklich etwas helfen würde, diesen Ort zu besuchen.
Ich schluckte schwer, ehe ich mich kreuzigte und meine Hände ineinander verschränkte, bevor ich begann mit meiner tote Schwester zu reden: „Hallo... Lina, ich hoffe du kannst mich jetzt hören..."
Ich legte eine kleine Pause ein, als würde ich eine Antwort erwarten, die ich selbstverständlich niemals erhalten würde, ehe ich fortfuhr: „Es war nicht fair, dass du starbst... das hätte alles nicht passieren sollen. D-Du wurdest ein Opfer der Launen meines Verlobten, welche auch durch mich ausgelöst wurden. Es tut mir so unendlich leid, Lina..."
Ich brach ab und vergrub mein Gesicht in den Händen. „Ich liebe dich und werde es immer... bitte verzeih mir..."
Schluchzend sah ich meine Freundin an, welche mich keine Sekunde später in eine innige Umarmung zog. Lange weinte ich in ihre Schulter, während mir Aliénor alle Zeit der Welt ließ und sanft über meinen Rücken streichelte.
„Lass uns gehen...", flüsterte sie dann leise.
„Nein...", murmelte ich und löste mich am ganzen Körper zitternd von ihr, bevor ich mich ruckartig zu dem dunklen Sarg drehte und wie durch ein magisches Band gezogen auf diesen zuging. „Ich will sie nicht verlassen..."
Meine Stimme war ein einziges untergehendes Krächzen, und ich spürte, wie sich mein Herz vor Schmerz und Verzweiflung zusammenzog.
„Es ist nicht Adelina, die dort liegt, Flora." Aliénors Stimme war ruhig und sanft. Jedoch wollte ich nicht auf sie hören und glitt krampfhaft weinend auf die kalte Erde.
„Flora..." Schnell war sie bei mir und streckte eine Hand nach mir aus, die ich aber nicht entgegennehmen wollte. Die einzige Hand, die ich in diesem Moment hätte spüren wollen, wäre die Charles' gewesen. Und genau diese Hand würde ich nie wieder berühren können.
Er stand unter Hausarrest, solange so viele Punkte für seine Schuld sprachen. Adelinas Tod und die Trennung von Charles hatten mich innerlich zerbrochen; ich fühlte mich hilflos und tot.
„Das ist nur ihr Körper, Flora... Ihre Seele ist längst entschwunden... bitte, lass mich dir helfen..." Meine Augenlider fielen zu und ich legte meinen Kopf in den Nacken, bevor ich unregelmäßig ausatmete. „Ob sie mir verziehen hat?"
„Sie gibt dir noch nicht einmal die Schuld, Flora. Hör auf Charles und mich... deine Schwester hasst dich nicht, du kennst sie doch! Ihr seid Schwestern..."
Mein Herzschlag schien sich etwas zu normalisieren und ich spürte, wie schlapp ich plötzlich wurde. Beinahe so, als sei ich entspannt. Es war das Gefühl zu wissen, dass der Mensch, den man glaubte verletzt zu haben, nicht erzürnt über die eigene Person war. Ich dachte noch einige Zeit nach und versuchte eine Situation zu finden, in der meine ältere Schwester mir nicht verzeihen würde. Dann verstand ich: Sie war zwar nicht länger körperlich unter uns, würde mich dafür jedoch stets begleiten, auch wenn ich sie nicht hören oder sehen konnte.
Langsam öffnete ich meine - und sah in die hellblauen und erwartungsvollen Augen Aliénors.
„Ich bin froh, dich kennengelernt zu haben, Aliénor." Schwach lächelte sie und fuhr sich durch die blonden Locken, ehe sie mir erneut eine Hand reichte. „Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass wir es schaffen können."
Ich erwiderte traurig ihr Lächeln und legte ihre Hände in Meine, ehe ich schniefte: „Vielleicht findest du ja einen Weg in den Palast in Lissabon hinein. So wie ich dich kenne, würdest du bestimmt einen verrückten Geheimgang ausfindig machen können..."
„Ich soll dich besuchen?", schlussfolgerte sie entsetzt. „Nicht, dass ich dies nicht augenblicklich versuchen würde... aber ich denke nicht, dass der liebe Gott dieses verdammte Schicksal für dich ausgewählt hat! Du wirst schon sehen... irgendetwas wird geschehen!"
~*~
Am letzten Abend vor unserer Abreise war es still im Schloss Valençay. Keine rauschenden Feste, kein Gelächter. Nach wie vor war jedes Geräusch seit dem Mord an meiner Schwester verstummt und ich saß alleine am Fenster und blickte in den Himmel, der durch die untergehende Sonne in die verschiedensten Farben getaucht wurde.
Die ganzen Wochen, die ich hier verbracht hatte, erschienen mir plötzlich so, als seien sie ruckzuck vorbeigegangen. Und doch hatte ich in dieser Zeit so viele Dinge lernen können. Ich hatte erfahren, was Liebe bedeutete - für die Familie, für die Freundschaft und für die reine Liebe zwischen zwei jungen Menschen.
Ebenfalls hatte ich am eigenen Leib erfahren müssen, was es hieß, wahrhaftig zu leiden.
Alle möglichen Bilder tauchten ich meinen Kopf auf: Wie ich mit meinen Schwestern lachte, von João geschlagen wurde; daraufhin wieder, wie Aliénor mich umarmte und ich mit ihr über alle möglichen Dinge reden konnte; wie ich eifersüchtig Charles mit seiner Cousine beobachtete. Wie ich Ausflüge unternahm, etwas anderes als Neapel zu Gesicht be- und wenig später beinahe dem Tod entkam.
Anschließend hatte meine Schwester diesem ins Augen blicken müssen. Zum Schluss war da Charles, wie er mich küsste, mich beschützte, mir half und für mich da war.
Doch alle Bemühungen hatten zu nichts geführt. Ich war nun João ausgeliefert.
Im tiefsten Inneren hatte ich es eigentlich schon immer gewusst, dass es so kommen würde. Zwar war es bemerkenswert von Aliénor, dass sie nach wie vor daran festhielt, dass sich das Blatt zu unseren Gunsten wenden würde. Aber für mich war es vorbei.
Ich würde Charles nie wieder sehen können.
„Meine Kleine?"
Mama war durch ein Nebenzimmer in unseren Salon geraten und blickte mich überrascht an. Ich war mir sicher, dass sie noch etwas hatte sagen wollen. Doch das einzige, was sie bei meinem Anblick tat, war, sich schließlich neben mich zu setzen und einen Arm um mich zu legen.
Seufzend schauten wir beide gemeinsam in die Ferne und warteten darauf, dass uns mein Vater hier auffinden und schreiend fragen würde, weshalb wir auf dem Boden saßen, und dass sich dies nicht schicken würde.
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- Wie steht ihr zu Aliénors Vermutung?
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Übersetzungen
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( TITEL ) → Der letzte Tag
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