Kapitel 39 ࿐ dead iris
FLORENTINA
Leere. Unendliche Leere, wie ich sie noch nie verspürt hatte, erfüllte meinen Körper, meine Seele und mein Herz.
Meine ältere Schwester war tot.
Es hatte lange gedauert, bis nach meinem hilflosen Schrei einige Wachen und wenig später auch der restliche Hofstaat in das Gemach Adelinas gestürmt worden war. In der Zeit dazwischen war ich alleine mit dem leblosen Körper meiner Schwester gewesen.
Ihr Mund hatte leicht offen gestanden, die Lippen waren bläulich verfärbt gewesen und ihre Augäpfel hatten rote Blutfäden durchzogen.
Man hatte mich geradezu aus dem Zimmer zerren müssen. Ich hatte es nicht gewollt. Ich wollte meine Schwester nicht gehen lassen, sie konnte nicht tot sein - sie war doch erst 18 Jahre alt und stand kurz vor ihrer Hochzeit. Wie eine Klette hatte ich mich an ihre kühle Hand geklammert und immer wieder ihren Namen gemurmelt.
Erst viel später als ich auf meinem Bett gesessen hatte, war es dann es wie ein Blitzeinschlag in mir eingeschlagen und Tränen waren durchgehend über meine Wangen geflossen. Ich hatte mich vor Schmerz gekrümmt, vor Angst und vor Verachtung vor mir selbst.
Gerade die Angst hatte meinen Kopf bis heute, an dem Tag ihrer indirekten Beerdigung immer noch nicht verlassen. Erst vor einigen Tagen erfuhren wir, dass meine ältere Schwester vergiftet worden war. Das Blau an ihren Lippen hatte darauf hingedeutet; ein Arzt hatte die Vermutung später bestätigt.
Diese Nachricht war schließlich wie ein Lauffeuer herumgegangen. Giftmorde - die gab es doch nur in Romanen und Legenden. Vor einigen Jahrhunderten noch töteten sich viele Personen gegenseitig mit diversem Teufelszeug. Aber hier im 19. Jahrhundert und dann Adelina? Meine Lina... Unsere Lina.
Schniefend und mein Gesicht mit einem schwarzen Schleier bedeckt, sah ich zu, wie der aufgearbeitete Körper meiner Schwester in einem Sarg eingeschlossen wurde. Ein letztes Mal konnte ich ihr hübsches Gesicht ansehen, das, obwohl sie schon vor über eine Woche ihren letzten Atemzug getätigt hatte, makellos aussah.
Ihre Hände umklammerten einen Strauß von mehreren Iris, ihren Lieblingsblumen. Meine Mutter, meine Schwester, Aliénor, ihre Mutter, Geschwister und ich hatten sie zusammen gepflückt und sorgfältig ausgewählt, auch wenn ich wusste, dass Adelina sich über jeder Blume dieser Art gefreut hätte. Es spielte keine Rolle wie groß oder klein, knallig oder blass sie waren.
Tausend Erinnerungen kamen mir in den Sinn. Unsere noch lockere Kindheit und wie ich stets als jüngere Schwester zu ihr aufblickte. Wie wir zusammen gelacht hatten, wie sie mir geholfen und stets versucht hatte, das beste in allem zu sehen. Nun würde nie wieder ein Mensch ihre Güte erfahren können.
~*~
Es war schon spät, als ich mit tränenüberströmten Gesicht durch mein Fenster blickte. Die Beine an meinem Körper gezogen, saß ich zusammengekauert auf dem dunklen Parkett und sah den Wolken zu, wie sie in unterschiedlichen Violett- und Orangetönen den Himmel zierten.
Noch vor einigen Stunden hatte ich Friedrich August hier beobachten können, wie er mit seiner Gefolgschaft abgereist worden war. Ich hatte mit ihm reden wollen, doch er hatte mit niemanden zu Hofe ein Wort gewechselt. Wahrscheinlich wollte der Sachse einfach alles, was ihm mit Adelina verband, hinter sich lassen und diesen Ort, an dem er sie verloren hatte, nie wieder sehen.
Sie waren so glücklich gewesen. Und nun hatte ihr einfach jemand ihr Leben, ihre Zukunft genommen. Und Friedrich Augusts noch gleich dazu.
Oft schon hatte ich mich gefragt, ob man, nachdem man eine Person so stark geliebt und diese anschließend verloren hatte, überhaupt irgendwann wieder in der Lage sein konnte, jemanden auf dieselbe Art und Weise lieben zu können. Auch wenn ich es mir in dieser Situation gar nicht ausmalen wollte, konnte ich mir ebenso kaum vorstellen, dass ich zu einem Menschen solch eine Liebe - wenn Charles sterben würde - jemals wieder aufbauen könnte.
Schniefend schloss ich meine Augen und ließ meine Wangen erneut mit Tränenflüssigkeit benetzen, bevor ich aufkeuchte.
Eine Hand fand den Weg auf meine rechte Schulter und ich erkannte Charles' Geruch. „Florence..." Seine Stimme war sanft und beruhigend und ich atmete schwer, ehe ich spürte, wie er mir einen Kuss auf den Scheitel hauchte.
„Charles..." Ich drehte mich zu ihm um und schloss ihn augenblicklich in meine Arme. Er war in den letzten Tagen kaum von meiner Seite gewichen und hatte jede freie Minute mit mir verbracht. Ich war so glücklich, dass er gekommen war.
Eigentlich wollte ich niemanden in diesem Moment sehen. Keine Aliénor, keinen Herzog Louis, nicht meinen Vater, schon gar nicht João und noch nicht einmal Amalia oder meine Mutter.
Bloß Charles ließ mich besser fühlen. Er gab mir Kraft und so viel von seiner unverwechselbaren Liebe.
„Danke", säuselte ich hicksend und zog mich schließlich an seinem Ärmel zu ihm auf, um ihm in die Augen sehen zu können.
„Ich wünschte, ich könnte mehr für dich tun...", hauchte er und sah mich niedergeschlagen an, ehe er mit seinem Daumen eine Träne von meiner Wange schob.
„Du tust schon genug..." Ich schniefte und legte meinen Kopf an seine Brust, während ich seinen vertrauten Geruch und seine Wärme genoss. „Dies ist eine der vielen Eigenschaften, die ich so an dir schätze... du bist immer für mich da..."
„Ich kann es nicht ertragen, dich traurig zu sehen... ich muss bei dir sein", sagte er tonlos und seufzte. „Und ich wünschte, ich hätte nicht noch weitere schlechte Nachrichten für dich, Mignonne..."
„Schlechte Nachrichten?" Ich ließ erschöpft meinen Kopf hängen. „Was meinst du damit?"
„Ich habe den Brief entschlüsselt." Vorsichtig hob ich meinen Kopf an. „Bitte?"
„Ich habe mich die ganze letzte Woche daran versucht. Als ich es geschafft hatte, musste ich ihn noch übersetzen. Er war auf Portugiesisch."
„König João", schlussfolgerte ich sofort und sah mit großen Augen zu ihm auf.
„Er ist wieder an seinen Geliebten, Philippe de Toulouse, gerichtet. Dieses Mal scheinen sie jedoch etwas vorsichtiger gewesen zu sein - falls das Schreiben in die falschen Hände gerät", erklärte er mir.
„Auf jeden Fall ist auf diesem Papier sein ganzer Plan in Schwarz auf Weiß abgebildet. In einer Woche ist die Abfahrt geplant... dann wirst du mit ihm zwei Tage in Neapel verbleiben, n-nachdem du ihn geheiratet hast. Anschließend reist ihr ab. Er schwängert dich, und nachdem du einen Jungen das Leben geschenkt hast..." Er schüttelte mit dem Kopf und rieb sich die Augen.
„... bringt er mich um", beendete ich hauchend seinen Satz.
„Er ist so krank, Florence...", stieß Charles schließlich hervor und legte seinen Kopf in den Nacken.
„A-Aber nun haben wir einen Beweis gegen ihn!", meinte ich aufgeregt und schaffte es für kurze Zeit den Tod meiner Schwester zu vergessen. „Wieso bist du dann so betrübt?"
„Es ist ein Brief, Mignonne. Ein Brief, der mir sagt, dass ich Euch bald nie wiedersehen werde! Es ist nur ein Stück Papier. João wird abstreiten, je etwas von ihm gewusst zu haben!"
Ich hatte Charles noch nie so verzweifelt gesehen und ich erschrak, als ich Tränen in seinen Augen glitzern sah. Behutsam legte ich eine Hand auf seine Wange und drehte seinen Kopf zu mir: „Ich bin mir sicher, dass wir den Stempel dieses Siegels in seinem Zimmer finden werden. Wenn du mit deinem Vater redet, wir den Kaiser dazu ziehen und zum Schluss auf seine Anschuldigungen zurückgreifen, wird man uns glauben. Wir werden das schaffen, Charles. Zusammen. Ich weiß es."
„Ich liebe dich so sehr..." Charles presste seine Lippen voller Sehnsucht auf die Meinen, woraufhin mir augenblicklich die Augen zufielen. Als wir uns dann kurzer Zeit keuchend und mit dem Atem des jeweils anderen auf den Lippen spürend lösten, legte wir unsere Stirne aneinander.
~*~
CHARLES
Einige Stunden später verließ ich schließlich Florence' Gemach, nachdem ich sie ins Bett begleitet hatte. Vor dem Tod ihrer Schwester hatten wir es normalerweise nie lange nebeneinander ausgehalten, ohne dass unsere Liebe zueinander mit uns durchgegangen war. In den letzten Tagen verbrachten wir die Zeit jedoch miteinander, indem wir Arm in Arm zusammen saßen oder lagen, ohne viele Worte miteinander zu reden.
Wenn Florence über ihre Gefühle reden wollte, hörte ich ihr zu, tröstete sie bestmöglich und versuchte etwas zu tun, sodass sie sich besser fühlte. Ich hatte mich entschlossen, meine Vermutung, dass João ihr den Tod ihrer Schwester angetan hatte, vorerst für mich zu behalten, da sie andernfalls höchstwahrscheinlich noch größerer Angst verfallen wäre.
Ich war mir vorerst nicht sicher gewesen, ob ich ihr zu dieser schweren Stunde überhaupt hatte mitteilen sollen, was ich über das mysteriöse Schreiben herausgefunden hatte. Schließlich hatte mich aber doch dazu entschieden, es ihr zu erläutern.
Aber sie hatte recht: Vorerst war es eine gute Nachricht. Denn nun hatten wir etwas gegen diesen schmierigen Ekel in der Hand.
Dann fragte ich mich wieder, ob sie nicht schon längst dachte oder sogar wusste, dass João für den Mord verantwortlich war. Schließlich war es eigentlich offensichtlich, wenn man bedachte, was für Andeutungen er stets getan hatte. Er scheute sich nicht davor, jemanden zu töten.
Ich schloss die Tür zu meinem Salon auf und legte den Brief vorerst auf dem Kaminsims ab, ehe ich einige Schritte zurücktrat, um das Porträt meines Vorfahren Louis I. von Savoyen-Piemont anzusehen.
Dieser war der Herrscher unserem Herzogtums und der Vater meines Papas, mein Großvater, gewesen. Irgendwann würde ich seinen Posten erben und als Charles I. in die Geschichte eingehen. Doch dafür musste ich etwas tun, sodass man sich an mich erinnerte.
Mein Blick fiel auf das Schreiben. Das würde der erste Schritt sein, dachte ich mir dann. Meine Liebste vor ihrem Verlobten zu beschützen und parallel einen König hinter Gitter zu bringen.
Morgen würde ich einen Boten losschicken lassen, der diesen Brief zusammen mit einer direkten Erklärung meinerseits zur Entschlüsselung und der passenden Übersetzung Kaiser Louis XVII. zugekommen lassen würde.
Ich nahm einen Schluck von dem Bourbon, der auf einem zierlichen Beistelltischchen stand, und wollte mich zu meinem Schlafgemach begeben, als die Tür aufschwang.
Augenblicklich begann es in mir zu kochen, als König João VI. eintrat. „Guten Abend!"
„Was wollt Ihr hier?", unterbrach ich sein aufgesetztes Ich-habe-gute-Laune-Getue und ohne darauf bedacht zu sein, höflich zu klingen. Vor ihm hatte ich jeden Respekt verloren. Ebenso verspürte ich keine Scheu, ihm das auch zu zeigen.
Sein Blick wanderte an mir hinunter und er schnalzte mit der Zunge, ehe sein Blick auf den Boden fiel, auf welchen ausgerechnet der Brief von dem Kaminsims gefallen war: „Na, was habt Ihr denn hier Schönes? Etwa einen Liebesbrief von meiner-"
Er stockte und mir war sofort klar, dass João seinen Brief wiedererkannt haben musste. Innerhalb von Millisekunden handelte ich. Mit zwei Schritten war ich bei ihm angelangt und griff nach dem Schreiben. Doch seine Hand zuckte zurück. „Na, na. Jetzt ist mit bewusst, was Ihr vorhabt! Ihr wollt ihr helfen... aber natürlich!"
Ich antwortete nicht, sondern hechtete auf ihn zu und wenig später lagen wir schon ringend auf der Erde, während ich keuchend versuchte, ihm den Brief zu entreißen. Wenn er ihn jetzt zerstören würde, wäre alles umsonst gewesen... Ich musste ihn bekommen!
„Ihr seid aber plötzlich wild", entgegnete er schelmisch grinsend und ich war überrascht, wie leicht er plötzlich meinen Arm fassen konnte und ihn mit einem Mal drehte, sodass ich vor Schmerz schrie.
João nutzte diesen Moment. Voller Entsetzen musste ich zusehen, wie der Brief mit einem Mal in den lodernden Flammen meines Kamins landete.
„Nein!"
Ich riss mich von diesem stinkigen Portugiesen los und beförderte meine Faust anschließend in sein grinsendes Gesicht, sodass er nach hinten kippte. Panisch sah ich mich nach etwas zum Löschen um, doch das dünne Papier war bereits zu stark beschädigt und rollte sich, während es von den Flammen umwunden wurde.
♚ . ♚ . ♚
┏━━━━━━━━━━━┓
Übersetzungen
┗━━━━━━━━━━━┛
( TITEL ) → Tote Iris
━━━━━━━━━━━━━━━━━
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro