Zeit
Wartest du auf jemanden,
vergeht die Zeit
unendlich langsam.
Es dämmert, als Skip und ich die Stadt am Horizont erblicken. Eine Nacht hatten wir im Freien verbringen müssen, da ein Gewitter uns überraschte. Jetzt tauchen jedoch endlich die Trümmer vor uns auf. Ich bin müde, in der Nacht konnte ich kaum schlafen und auch Skip sieht ziemlich fertig aus. Das Essen haben wir noch nicht angerührt. Es ist kostbar und ich habe keine Lust morgen gleich wieder loszugehen. Dann wird der Weg nämlich sehr viel anstrengender. Es gibt nur noch den Westen, in dessen Richtung ich gehen könnte. Im Osten ist nichts mehr, da bin ich mir sicher. Im Westen könnten wir noch Glück haben und etwas Essbares finden. Sollte ich zurück müssen zur alten Frau, würde ich mich nur schlecht fühlen. Sie weiß es zwar nicht, aber all das Essen von ihr ist heute schon fast so viel wert wie früher Gold und Silber. Noch dazu ist es warm.
Erschöpft lasse ich mich zunächst einmal auf einem Stein kurz vor der Stadt sinken. Skip kauert sich neben mich. Nun greife ich doch zu der Tüte und ziehe eine der Schwaten hervor. Ich habe kein Messer um etwas abzutrennen, also nehme ich einen der Steine zu meinen Füßen. Ich gehe ein paar Schritte zurück und werfe ihn mit voller Wucht gegen den Stein, auf dem ich gerade noch saß. Der kleinere Stein zersplittert beim Aufprall und vom Boden sammele ich ein paar Einzelteile auf. Dann mache ich mich daran, etwas von der Schwate mit der scharfen Kante des Steines abzutrennen. Es ist ein enormer Aufwand, doch letztendlich halte ich ein kleineres Stück Fleisch in der Hand.
„Hier Skip, lass es dir schmecken.", rufe ich und lasse es ihn aus meiner Hand fressen.
Mittlerweile ist es dunkel. Wolken verhängen heute Mond und Sterne, sodass so gut wie kein Licht auf uns fällt. Noch ist die Nacht nicht stockfinster, wir müssen uns beeilen, bevor wir unsere Schatten nicht mehr sehen können. Sonst wird es zu gefährlich, wenn wir über die eingestürzten Gebäude klettern müssen.
Skip und ich gehen weiter, laufen in Richtung des Hauses das vorerst unsere Basis, unser Mittelpunkt in diesem Leben sein wird.
Als wir ankommen, ist es dunkel im Haus.
„Alice, wir sind wieder da!", rufe ich in die Finsternis.
Ich erhalte keine Antwort.
Unsicher stelle ich meine Tüte mit dem Essen und den Kanister ab. Alice scheint nicht hier zu sein.
Kurz darauf renne ich entschlossen hinaus und zum Haufen mit den Ziegelsteinen.
„Alice?"
Noch immer erhalte ich keine Antwort, jedoch erkenne ich die Umrisse ihrer Gestalt als ich mich aufs Dach ziehe.
„Hey, sorry, dass es so lange gedauert hat, aber das Gewitter hat uns überrascht."
Ich weiß nicht genau warum, aber irgendwie fühle ich mich schuldig. Dabei habe ich absolut nichts Falsches getan.
„Was ist schon das bisschen Zeit?", entgegnet sie unerwartet kühl. Ihre Silhouette beginnt zu zittern.
„Was ist schon ein bisschen Zeit, wenn man eh alleine stirbt?"
„Was zum Teufel?", beginne ich, komme jedoch nicht weit.
Ich verstumme, als ich Alice weinen höre. Das ist komisch, sie ist nicht der Typ Mensch, der weint. Was soll ich jetzt tun? Hingehen und sie trösten? Wahrscheinlich wäre das, was man eigentlich tun sollte., aber doch nicht bei ihr! Am Ende weint sie nur noch mehr und schreit mich an, wenn ich versuchen sollte sie zu umarmen!
Ich stehe unentschlossen da und sehe zu, wie sie leise weint.
Statt etwas zu erwidern, entschließe ich mich dazu, mich neben sie zu setzen. Sie starrt in die Dunkelheit und ohne einen Ton zu sagen fließen ihr die Tränen die Wangen herunter. Ich tue es ihr gleich und starre in die Leere.
„Meine Mutter konnte in den Sternen lesen. An manchen Abenden hat sie meinen Vater und mich mit auf den Hügel hinter unserem Haus genommen und uns stundenlang erzählt was die einzelnen Sternenformationen bedeuten. Manchmal hat sie unsere Zukunft vorhergesagt. Wenn es eine Nacht war wie diese, hat mein Vater Geschichte erzählt, während wir auf dem Hügel lagen. Solange bis die Sterne für meine Mutter wieder schienen."
Ich weiß nicht, warum ich das alles erzähle. Irgendwie fühlt es sich richtig an.
Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, dass Alice mir den Kopf ruckartig zuwendet.
„Geht's wie-"
Ich höre zuerst das Klatschen, dann spüre ich den Schmerz an meiner Wange.
„Verdammt, das tat weh!"
„Sollte es auch, du Idiot! Ich hab' mir scheiße Sorgen gemacht! Wenn man den ganzen verdammten Tag hier rumsitzt und keinen Plan hat, was da draußen ab geht, hat man verdammte Angst! Ich weiß von den Wetterextremen, von den wilden Tieren und den anderen Gefahren die die Menschen da draußen auf sich nehmen, ich bin ja nicht blöd! Ich-"
Ihre Stimme bricht ab. Die Tränen gewinnen wieder die Überhand.
Diesmal denke ich nicht erst darüber nach, ob sie es gut findet oder nicht, sondern tue es fast schon instinktiv. Ich nehme sie in den Arm.
„Wir sind wieder da, Alice. Es ist in Ordnung."
Als sie sich beruhigt hat, will ich meine Umarmung lösen, doch sie greift nach meinem Shirt.
„Nicht. Bitte."
Also lasse ich sie nicht los.
„Komm' doch das nächste Mal einfach mit, dann musst du keine Angst haben, dass du alleine zurückbleibst. Skip und ich passen schon auf dich auf."
Sie hebt den Kopf und blickt mich an. Ihre Tränen sind bereits getrocknet.
„Das geht nicht.", sagt sie dann und löst sich von mir.
„Warum?"
„Es-es ist kompliziert."
„Ich habe Zeit."
Sie schweigt eine Zeit lang, dann holt sie einmal laut hörbar Luft und sieht wieder ins Schwarz der Nacht.
„Ich habe Glasknochen. Keine Ahnung ob das vererbbar ist oder so. Das heißt, dass meine Knochen sehr leicht brechen. Vor ein paar Jahren, als ich noch mit meiner Oma und meinem Opa hier gelebt habe, bin ich beim Heben eines Steines ausgerutscht und habe mir den linken Arm gebrochen. Ein anderes Mal wollte die Gruppe, der ich mich nach dem Tod meiner Großeltern anschloss, zur nächstgrößten Stadt wandern, um unsere Vorräte aufzufüllen und andere Menschen zu treffen. Wir wurden überrascht von einem Unwetter. Keinem großen, im Gegenteil, es war vergleichsweise schwach und trotzdem war mein Körper zu schwach. Eine gebrochene Rippe, beide Arme angebrochen und die Füße verrenkt. Ich weiß noch, dass mich ein Junge zurückgetragen hat. Er war nett. Als er mich sicher hierher zurückgebracht und meine Wunden versorgt hatte, schlief ich sofort ein. Die Schmerzen waren groß. Er schrieb einen Zettel auf dem stand, dass er sich der Gruppe wieder anschließen wolle um mir Medikamente zu besorgen und einen Arzt zu finden. Ich habe wochenlang gewartet. Er kam nicht zurück. Die Gruppe bei der er eigentlich sein sollte fand ihm bei ihrer Rückkehr am Rande einer Schlucht. Sie musste sich bei einem der Erdrutsche aufgetan und ihn hinabgezogen haben. Er war nicht mehr zu retten. Siehst du jetzt, warum ich nichts selber machen kann? Entweder ich falle allen zur Last oder sterbe nach den ersten drei Schritten, weil ich mir beim Fallen das Genick breche!"
Sie hat mir den Kopf zugewendet. In ihren Augen spiegelt sich der Hass gegen sie selbst.
„Wäre ich nicht gewesen, wäre er niemals dort langgegangen und wäre nicht gestorben. Sag' es ruhig, ich weiß, dass ich ein schrecklicher Mensch bin. Ich habe dir dein Essen gestohlen, nur um dieses Scheißleben weiterzuführen und jetzt beute ich dich aus, indem ich dich versklave!"
Ich blickte sie verwundert an.
„Bist du dumm?", frage ich sie und bin vollständig überzeugt von meinen Worten.
„Es gab einen Menschen, der dich einen ganzen Weg lang getragen hat, ohne sich zu beschweren! Er hat dich verarztet und war sogar bereit all diese Gefahren allein für dich noch einmal in Kauf zu nehmen! Was für ein Idiot muss man sein, zu denken, dass man selbst ein schlechter Mensch ist, wenn jemand bereit ist all das für dich zu tun! Also wenn du schon nicht auf deine Knochen und deinen Körper vertraust, vertraue wenigstens auf die Menschen in deinem Umfeld. Und glaub mir, dieser Junge war sicher nicht bereit dich einen ganzen Tag lang zu tragen, weil du ein Arschloch bist. Ein Idiot vielleicht, weil du dich selbst nicht wertschätzt und anderer Leute Essen klaust, obwohl du fragen könntest, aber ein schlechter Mensch bist du nicht!"
Nun ist sie es, die mich überrascht anstarrt.
„Ich-", beginnt sie, verstummt jedoch sofort.
Ihr fallen keine Worte ein, die sie sagen könnte. Keine Sätze, die Sinn ergeben würden.
„Danke."
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