Prolog eines Gottes
Munin schlug die Augen auf. Die Szenerie kam ihm bekannt vor: unter ihm grünes Gras, über ihm strahlend blauer Himmel. Und Nexal neben ihm. Doch etwas an dem Gott stimmte nicht. Grau ersetzte das markante Grün seiner Augen. Und das schattenhafte Flimmern um ihn herum war fremd. Tentakel, die sich ausstreckten und zurückzogen, permanent auf der Suche, nur, um abgewehrt zu werden.
„Bin ich tot?"
Der Kopf des Todesgottes ruckte herum. Schneller als Munin es realisieren konnte, hatte der Gott ihn in eine sitzende Position und dann eine Umarmung gezogen. Nach ein paar Minuten half Nexal ihm auf die Beine und erschuf eine mannshohe Spiegelfläche.
Munin starrte diesen Zwilling an, der da jede seiner Bewegungen nachahmte. Blonde Haare waren schlohweiß, Augen in der Farbe eines Sumpfes plötzlich strahlend grün. Sein Blick wanderte zu Nexal.
Das Fragezeichen in seinem Gesicht war offensichtlich genug für den Gott, denn er fing an, zu erklären. „Wir, die vier Götter und ich, hatten vor vielen Jahren festgestellt, dass es theoretisch möglich sein sollte, einem Menschen göttliche Energie einzuflößen. Nachdem Hikus im Sterben liegende Frau die Transformation nicht überlebte und an Hikus Macht verbrannte, hat es keiner von uns erneut gewagt."
„Du hast ... mir einen Teil deiner Energie übertragen?", wisperte Munin.
Nexal blickte ihn lange an, bevor er antwortete: „Du trägst jetzt den Teil in dir, der dem Leben verschrieben ist."
„Dem Leben?" Er schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, falls ich etwas langsam bin. Ich bin gerade ..."
„Ich war am Anfang da und ich bleibe bis zum Ende. Es gab nie eine Gottheit für das Leben, weil ich beides verkörperte. Jehal und Nexal. Leben und Tod. Zwei Seiten einer Medaille. Bis jetzt. Jetzt gibt es dich und mich. Vorausgesetzt, du nimmst an. Wann immer du dich dazu entscheiden solltest, lieber zu sterben, werde ich dich gehen lassen. Wobei ich dir weiterhin keine Versprechungen machen kann, wo du landen wirst."
„Das heißt ... Wie viel Zeit habe ich dadurch ...?"
„Bis zum Ende aller Dinge wahrscheinlich."
Dank der Kan hatte sich seine theoretische Lebenserwartung schon unvorstellbar verlängert. Was sich jetzt als Zukunft abzeichnete, war für sein Gehirn nicht zu erfassen. „Und ... Warte ... Es gibt jetzt dich und mich? Das bedeutet ...? Ich meine ...?" Ein Kichern blubberte über seine Lippen. „Bin ich jetzt ein Gott?"
„Wenn du mich als Gottheit ansiehst?" Nexal hob die Schultern. „Mehr ein Hybrid. Und was die Kräfte eines Mensch-Kanre-Gott-Hybriden betrifft? Ich habe nicht die geringste Ahnung. Wir werden es herausfinden. Wenn du willst."
„In Ordnung", murmelte Munin, obwohl in seinem Gehirn alles drunter und drüber ging. „In Ordnung." Er blickte hoch zum Himmel, dann zu Nexal. Die Erinnerung an ein kleines Hybrid-Mädchen waberte in seinem Kopf. „Kann ich denn zurück auf die Erde?"
„Ich habe dir einen Teil übertragen, dem es möglich ist, auf der Erde zu existieren. Es gibt viele Dinge, über die wir reden sollten, aber das meiste kann warten. Ein paar Dinge nicht." Das Bild auf dem Spiegel veränderte sich und zeigte Neda, Kanre, Semre und Sem mitten im Aufbruch. Auch um diese Wesen waberten die schwarzen Schemen, die er schon bei Nexal wahrgenommen hatte. Quesa saß abseits und beobachtete das Geschehen aus geröteten Augen. Leia hatte Zeraphyn im Arm, die weinend Halt an ihr suchte. Cyriz und Jurik klammerten sich aneinander, dankbar für etwas mehr Zeit, und Obsidian – Makhal Luce – schenkte Hiku gerade einen Kuss. Bei den Göttern und wenigen menschlichen Anhängern der Sem im Raum waren die Tentakel eher wie Lichtwurzeln, ein stabiles Geflecht um sie herum.
Doch da war etwas anderes, das seinen Blick anzog und seine Aufmerksamkeit forderte. Ein Körper neben Quesa, der friedlich zu schlummern schien.
Kein Herzschlag beschleunigte sich, keine Atemzüge wurden hektischer. Munin stolperte zurück und landete auf dem Hosenboden, überfordert vom Anblick seines leblosen Körpers. „Du sagtest ..."
„Das, was du da siehst, ist eine leere Hülle, die als Wohnort für den Kankern dient. Die drei Kan und Makhal Luce werden die Energie brauchen, um das Portal nach Astraka erneut zu öffnen, wenn sie die letzten Sem aufgelesen haben." Nexal kniete sich neben ihn. „Munin, sieh mich an. Ich habe dir einen neuen Körper erschaffen und dein Sein darauf übertragen. Es ist keine Kopie deines Seins oder dergleichen. Du bist immer noch du und das einzige Du. Dennoch, ich wiederhole: Wann immer du dich dazu entscheiden solltest, lieber zu sterben, werde ich dich gehen lassen."
Ein neuer Körper. Sein Ich. Das einzige Ich. Die Stille in seinem Inneren, die vorher von seinem Bruder eingenommen worden war, brach über ihm ein gleich eines einstürzenden Wolkenkratzers. Er war tot. Endgültig.
Nexal zog ihn an sich und hielt ihn zusammen.
„Das ist ... eine Menge zu verarbeiten", murmelte Munin in den Hemdsstoff. In seinem Gehirn wirbelten Gedanken, als würde sie jemand vorwärtsspulen, dann auf die Pause-Taste drücken, bevor das Spiel von Neuem losging.
„Und du hast alle Zeit der Welt, dies zu tun."
Dieser Tag zählte definitiv zu einem der verrückteren in seinem Leben, aber es war erschreckend, wie wenig ihn das aus der Bahn warf. Vielleicht später, wenn sein Geist mehr Zeit gehabt hatte, aufzuholen. Vielleicht hatten ihn die Jahrzehnte auch einfach einen Teil seiner Emotionen gekostet.
Munin sammelte seine Gedanken und zog sich etwas zurück. „Diese Energiefelder um die Neda, Menschen und Götter?" Eine Frage, deren Antwort Zeph brennend interessiert hätte.
„Sind natürliche Energiefelder. Die Verbindung mit dem natürlichen Aurafeld der Erde. Bei Wesen, die nicht hierhergehören, ist es instabil, weil das Universum sie zurückweist." Er deutete Munins Gesichtsausdruck erneut richtig. Vielleicht war es auch mehr als pures Deuten: eine Verbindung, die Munin noch nicht erfassen konnte. „Ich weiß nicht, was ich bin oder woher ich komme. Ich weiß nur, dass es meine Bestimmung ist, über diesen Planeten zu wachen."
Zeph hätte ihn jetzt erneut vor dem Tod gewarnt. Munin konnte fühlen, wie sich seine Lippen zu einem Lächeln verformten. Und das anschwellende Ziehen in seiner Brust. Das Prickeln hinter seinen Augen. Er suchte erneut Halt in der Umarmung des Todes. „Wie geht es jetzt weiter?"
„Wie du es willst. Du kannst bei der Suche nach den Sem helfen. Du kannst in deine Rolle als Gott hineinwachsen. Du wirst dich um das Kind kümmern können und die vier Götter werden eine großartige Adoptivfamilie abgeben, da bin ich mir sicher." Sein vorsichtiges Schmunzeln war nicht bar einer gewissen Heiterkeit.
„Und du? Ich meine ... Du musst dich natürlich nicht ... Götter ... urgh ... Ich meine ..."
„Ich bleibe an eurer Seite, deiner und der der Kleinen, so lange ihr das wollt und so gut ich kann. Aber ich kann nicht mehr auf die Erde, Munin."
Eiswasser prickelte durch Munins Adern. Er ließ den Blick schweifen, über das Reich des Todes. „Jehal", verbesserte er, „nicht Munin. Ist sowieso mal wieder Zeit geworden für einen neuen Namen." Er hob das Kinn, legte es auf Nexals Schulter ab und versprach in sein Ohr: „Wir werden einen Weg finden. Zur Not erschaffe ich einen Ort, an dem wir alle existieren können. Bis dahin komme ich dich regelmäßig besuchen. Ja?"
Nexal lächelte und schob ihn so weit von sich, dass sich ihre Nasenspitzen gerade so nicht berührten. „Ja. Jehal. Mein tapferer Gefährte." Dann deutete er mit dem Kopf Richtung Spiegel. „Wenn du dich noch von ein paar Neda verabschieden und Quesa beruhigen und beistehen willst, solltest du jetzt los. Geh einfach durch die Fläche, dann solltest du ankommen."
„Stilvoll." Munin barg seinen Kopf für eine Weile in der Halsbeuge des Todes. Seinen Weg zu Nexals Lippen pflasterte er mit federleichten Küssen. Nach einem letzten langen Kuss verschwand er in der Spiegelfläche. Vor sich seine ungewisse Zukunft, die zum ersten Mal seit langem – vielleicht sogar seit seiner Geburt – ganz alleine ihm gehörte.
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Anmerkung der Autorin:
Vielen Dank an alle Leser, die Munin bis zum Ende ... beziehungsweise seinem Neuanfang begleitet haben. Wahrscheinlich könnte ich noch ein ganzes „Hinter den Kulissen"-Kapitel füllen, mit Informationen, was sich so alles geändert hat :D (Nexal beispielsweise war gar nicht geplant ... und Ajax eigentlich auch nicht XD ). Ich bin nicht ganz so gut in die Geschichte hineingekommen, aber doch ganz froh, es durchgezogen zu haben :)
Wer will kann mir gerne ein paar Worte dalassen^^ (Das Folgende sind nur Anregungen – wenn ihr mir eine Nachricht (gerne auch per PN) hinterlassen wollt, die keine der Fragen beantwortet ist das natürlich auch vollkommen in Ordnung.) Gab es zum Beispiel eine Szene oder Sache, die euch besonders gut oder schlecht gefallen hat? Irgendetwas, das total unlogisch oder unübersichtlich war oder eine Information, die fehlte? Einen Charakter, den ihr gerne mochtet, über den ihr vielleicht gerne mehr erfahren hättet, oder einen Charakter, mit dem ihr überhaupt nicht warm wurdet? Waren die Handlungen der Charaktere nachvollziehbar? Konntet ihr euch alles gut vorstellen (ich persönlich finde, dass ich da diesmal etwas geschwächelt habe :D )?
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