Kapitel 6 Teil 2: Jäger und Beute
Er öffnete die Villentür und stand Leia gegenüber, die die Hand noch nach der Klinke ausgestreckt hatte. Warmes Licht erleuchtete sie und die Eingangshalle hinter ihr, überschritt aber die Schwelle ins Freie nicht.
„Na, sieh mal einer an, wer endlich eintrudelt. Ich meine, ich hatte vollstes Vertrauen, dass du den Weg zurückfinden wirst." Sie verschränkte die Arme und hob die Augenbrauen. „Auch wenn du anscheinend nicht den kürzesten gewählt und Quesa deswegen in Sorge versetzt hast." Ein Verdrehen der Augen folgte und die leisen Worte: „Und mich. Vielleicht. Ein winziges Bisschen."
„Wie ich schon sagte: Niemand muss mich bemuttern." Er schob sich an Leia vorbei ins Innere. „Ich habe auf dem Weg lediglich noch meine Reserven aufgefüllt."
„Musst du mir nicht sagen. Ich weiß, dass du dich verteidigen kannst. Auch wenn ich ehrlich gesagt auch beruhigter bin, wenn du jemanden an deiner Seite hast, der sich hier besser auskennt." Sie hob die Schultern und breitete den Umhang aus, der ihre Gestalt verhüllt hatte. Darunter kam ein schwarz-rotes, asymmetrisches Kleid zum Vorschein, dessen weit ausfallender Rock knapp oberhalb der Knie endete. „Heute Lust auf eine Party?"
„Ich glaube, ich hatte genug Aufregung für einen Tag."
„,Aufregung' sagt er. Als gäbe es so etwas. Als wäre eine Party vergleichbar mit dem sonstigen Irrsinn der Stadt." Sie seufzte theatralisch und winkte ihm zu. „Na dann, bis spätestens morgen. Falls du Quesa suchst: Der ist auf dem Dach. Wahrscheinlich hat er also schon bemerkt, dass du wohlbehalten eingetroffen bist." Dann fiel die Tür ins Schloss.
Er schritt die Treppe nach oben und lugte in die Zimmer, bis er im größten Schlafzimmer ein offenes Fenster fand. Mit einem Satz war er auf der Fensterbank und zog sich von dort auf das Dach, auf dem sich Quesa zu seiner linken ausgestreckt hatte und zum Himmel aufsah.
Munin ließ sich neben ihm nieder und sah ebenfalls nach oben. Kein einziger Himmelskörper erhellte die Nacht. Das Zwielicht kam, wie die Strahlen des Tages, von überall und nirgendwo.
„Ganz schön trostlos", murmelte Munin.
„Ja? Ich finde es beruhigend."
„Du findest eine lichtlose, leere, kalte Schwärze, die dich im Ganzen verschlucken und nie wieder ausspucken würde, beruhigend?" Irgendetwas an diesem Satz ließ ihn innehalten.
Quesa drehte seinen Kopf zu ihm und lachte leise in sich hinein. „Das war aber sehr spezifisch."
„Man hat mir schon oft gesagt, ich hätte zu viel Fantasie. Aber, na ja, vor einigen hundert Jahren hätte auch niemand an Auramagie geglaubt also weigere ich mich, mich meiner Fantasie zu schämen."
Seine Worte entlockten dem Kanre erneut ein Lachen, bevor er ernster wurde. „Munin."
Es war bisher nicht oft vorgekommen, dass Quesa ihn beim Namen genannt, geschweige denn ihn so sanft angesprochen hatte. Damit gewann er seine gesamte Aufmerksamkeit.
„Du musst dich nicht rechtfertigen", fuhr der Kanre fort, „und schon gar nicht immer so schuldig fühlen."
Munin zuckte zusammen und öffnete den Mund, schloss ihn wieder und zog seinen Umhang enger um sich.
„Außerdem hast du ja recht", gab Quesa zu. „Hinter dieser dünnen Schicht, die diese Taschendimension umgibt, gibt es absolut rein gar nichts. Wenn sie zusammenbricht erwartet uns eine ewige, kalte, leere Schwärze, die uns im besten Fall in Sekunden töten, aber unsere Körper für immer konservieren würde."
„Wow. Das ... hätte ich jetzt wirklich nicht wissen müssen. Und das findest du beruhigend?"
„Nein. Ich finde diesen leeren Himmel beruhigend. Wenn meine Gedanken wie Gummikugeln in meinem Kopf herumhüpfen, hilft er mir ... sie einzufangen und zu ordnen."
„Hmhm." Munin sah wieder hoch, doch fand weiterhin nichts Angenehmes an dieser künstlichen Kuppel. Allerdings war ihm nach Gesellschaft, in der er sich nicht um sein Leben sorgen musste. Lediglich die Augen schloss er, um zumindest einen kontrollierbaren schwarzen Void vor sich zu haben.
Er fokussierte sich auf sein Aurasystem, das fließen der Energie durch die Leitlinien. Zehen. Fingerspitzen. Lunge, Herz, Hirn.
Etwas stupste ihn an der Schulter an.
„Bist du noch wach?"
„Hmmm", antwortete Munin.
„Bevor ich es vergesse: Cyriz und Hiku haben sich für morgen zum Frühstück angekündigt."
Für ein paar Sekunden hielt er seinen Atem gefangen, ehe er ihn seufzend freiließ. „Danke für die Warnung. Vielleicht bleibe ich einfach bis morgen Abend hier oben."
„Du bist schuld daran, du lässt mich garantiert nicht alleine, Liebling."
„Geteiltes Leid ist halbes Leid, hm, Sonneinschein? Wahrscheinlich ist es sinnvoll, unser weiteres Vorgehen abzusprechen. Würde Hiku mich nur nicht hassen."
Der Kanre zögerte eine Sekunde zu lang. „Er hasst dich nicht. Er vertraut dir nur nicht. Bei dir ist es doch ähnlich, oder? Dir fällt es doch auch schwer, Leuten zu vertrauen."
„Ich bin garantiert nicht wie Hiku."
Das entlockte Quesa ein Schnauben. „Hm. Du bist zumindest um einiges undurchschaubarer. Unwichtig. Ich will meinen Halbbruder gerade eigentlich gar nicht verteidigen."
Dagegen konnte Munin nichts sagen. Er wusste ja selbst nicht, wie er weiter vorgehen sollte. Was er überhaupt wollte. „Es fällt mir nicht leicht", gab er verspätet zu.
„Ich weiß. Wenn du jemanden zum Reden brauchst, bin ich da. Aber, wie gesagt, du musst dich nicht rechtfertigen. Ich habe Vertrauen in das Gute in dir."
Gerade so unterdrückte er ein Schnauben ob der kitschigen Worte. In ihm war nur Dunkelheit, umschlossen von mehr Dunkelheit. Abgesehen von dem einen hellen Stern. Vielleicht färbte Quesas Kitsch ab.
Der Kanre erschien ihm zu gütig, um wahr zu sein. Weder die Sem, noch die Kan hatten sich um sein Wohlergehen gesorgt – sie hatten ihn alle nur ausgeschlachtet. Bei den Sem war er zu blind gewesen, aber die Kan hatten daraus niemals einen Hehl gemacht. Sie hatten ihn benutzt, wie auch er sie benutzt hatte, um ein Ziel zu erreichen. So sah der Deal aus. Doch Quesa hatte ihn aufgenommen, bevor er von seinem Nutzen wusste. Zumindest, soweit Munin bekannt war. Sollte der Kanre vorher bemerkt haben, dass er ein trojanisches Pferd war, würde es die Sorge um ihn als Schatten puren Eigennutzes offenbaren.
Er betrachtete Quesa aus dem Augenwinkel. Mittlerweile waren auch seine Augen geschlossen. Munins Aura streckte sich nach ihm aus, heiß darauf, eine Auraprobe zu nehmen und Gewissheit zu erlangen. Aber letzten Endes zog er sich wieder zurück. Ohne eine Ablenkung war es gut möglich, dass Quesa etwas bemerken würde und es galt gemeinhin als unhöflich, wenn nicht als Belästigung, ungefragt jemandes Aura zu untersuchen. Und sollte der Kanre einer der Gesuchten der Sem sein, wäre das kein Beweis für schlechte Absichten Munin gegenüber.
Wenn Quesas Intentionen seinen Worten entsprachen, hatte er den Kanre nicht verdient.
Munin seufzte, was Quesas Augenlider hoch flattern ließ.
„Alles in Ordnung, Liebling?", hakte er nach.
„Den Umständen entsprechend, Sonnenschein." Selbst er wusste, dass sein Lächeln falsch wirkte.
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