Kapitel 5 Teil 2: Grau
Munin hatte den Schwung ebenso genutzt, um wieder auf die Beine zu kommen. Er griff nach der Gestalt, doch bekam kaum mehr einen Zipfel des Mantels zu fassen. Seine Klauen zerfetzten den Stoff, außen weinrot und innen rot-schwarz kariert. „Bleib gefälligst stehen, Feigling!" Gassen und Kanre flogen an ihm vorbei, doch sein Herz ruckelte immer noch unkontrolliert, seine Beine wollten ihn in eine andere Richtung lenken und der Dieb war schneller und mit dem Ort vertrauter.
An einer Kreuzung waren ungewohnt viele Leute versammelt. Mit seinen Ellenbogen bahnte er sich einen Weg, taub für jedwede Beschwerde. Eine Hand krallte sich in sein Hemd und riss ihn zurück. Im nächsten Moment krachte eine Metallkiste vor seiner Nase auf den Boden. Sein Herz setzte einen Schlag aus und hämmerte dann weiter in seiner Brust. Worte blieben ihm im Hals stecken.
„Bist du Lebensmüde oder was?", fauchte ihn sein Retter an. Ein Kanre mit dunkelblonden kurzen Haaren und orangen Augen.
Andere Kanre warfen ihnen lediglich milde interessierte Seitenblicke zu, waren aber mehr damit beschäftigt die Seiten der Kiste aufzustemmen. Zum Vorschein kamen Paletten mit Obst, Gemüse, Fleisch, Reis, Milch, Kartoffeln und weiteren Nahrungsmitteln. Und Ikosaeder, zwanzigseitige Gebilde, in denen verschiedenfarbige Nebel waberten. Auraspeicher. Es schien eine Übereinkunft zu geben, denn jeder Anwesende lud stumm einen Teil der Produkte in Schubkarren oder sonstige kleine Wägelchen.
Das Land ist unfruchtbar. Die Sem ernähren sich aus Spaß an der Freude von den Kanre. Es macht Sinn, sie so zu versorgen, dass die Kanre mehr produzieren als konsumieren. Konzentration. Der Dieb. Weiter!
Munin zuckte zusammen und musste nicht nur zugeben, dass er ihn verloren hatte, sondern auch, dass er sich verlaufen würde, würde er versuchen ihm weiter zu folgen. Dafür hatte sich sein Puls normalisiert, obwohl Wut in ihm brodelte.
Fluchend zog er sein Hemd zurecht, zupfte es nach vorne, um es von seiner Haut zu lösen und Luft darunter zu bekommen. Er stakste zurück zu dem Ort, an dem er angefallen worden war, und dann zur Villa.
Dort fanden ihn Leia und Quesa eine halbe Stunde später auf der gelben Couch.
„Siehst du, ich sagte doch, dass er heim gegangen ist", beschwichtigte Leia ihren Halbbruder.
Bevor der Kanre mit den zu einem Strich zusammengepressten Lippen etwas sagen konnte, setzte sich Munin zu ihm auf die lila Couch. „Ich weiß, ich weiß. Aber ich bin es gewohnt, alleine zu reisen. Ich habe es vergessen. Es tut mir leid. Und es ging ja alles gut."
Quesa starrte ihm so lange in die Augen, dass Munin befürchtete, er könnte darin den Reinfall sehen, der sein Heimweg gewesen war. Doch dann nickte er und verschwand aus dem Wohnzimmer, Leia dicht auf den Fersen.
Er hörte ihre Stimme in der Küche: „Wir haben noch Suppe von gestern. Kann man die als Soße für Nudeln verwenden. Was denn? Sieh mich nicht so an. Warum denn nicht? Es ist flüssig und schmeckt gut. Wie Soße. Du kannst nichts dagegen sagen, bis du es nicht zumindest mal probiert hast. Und ist ja nicht so, als könntest du besser kochen als ich."
Aus Munins Körper wich ein Teil seiner Anspannung.
Nach dem Abendessen – Nudeln in Kartoffelsuppe – heftete sich Munin an Quesas Fersen, bis sie die Bibliothek betraten.
Wenn der Andere seine Anwesenheit bemerkte oder sich daran störte, ließ er es nicht erkennen. Nein, er stand vor einer der Staffeleien gegenüber dem Fenster und hatte das Tuch von der Leinwand entfernt. Damit enthüllte er ein wunderschönes Bild: Eine Landschaft, ein Garten voller bunter Blumen und saftigem Gras und zurechtgestutzten Büschen und einem Kiesweg, der zu einem See in der Ferne führte.
In der Zeit, in der Quesa seinen Nachtisch – eine kleine Schale Obst – aß, herrschte Stille. Doch sobald das letzte Stückchen verschwunden war, änderte sich das.
„Stell dich da hin", forderte ihn Quesa auf.
„Entschuldige?"
„Stell dich da hin und sei still."
Munin tat wie geheißen und positionierte sich vor dem Fenster, während sich sein Gastgeber eine neue Leinwand richtete.
„Du hast doch nichts dagegen?", murmelte Quesa.
„Du willst mich porträtieren?"
„Ja oder nein. Es war eine einfache Frage."
„Nein. Wenn du der Meinung bist, man sollte meine Wenigkeit für die Nachwelt festhalten, nur zu." Er richtete sich auf, stützte eine Hand in die Hüfte und hob das Kinn zur Seite hin an.
„Ich bin der Meinung ich habe genug Gräser und Bäume und Wege und Berge und Häuser abgebildet ... Du bist lediglich eine willkommene Abwechslung. Eine Herausforderung. Perfekt." Mit großen sicheren Strichen bearbeitete er die Leinwand.
Munin gab seine Pose auf. „Eine Herausforderung? War das gerade eine Beleidigung?"
Der Andere tauchte hinter dem weißen Rechteck auf, musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen und nachdenklichem Blick. Dann hob sich einer seiner Mundwinkel ein bisschen mehr. „Nein. Ich mag deinen Stil, deine Ecken und Kanten, Liebling."
„Meine Ecken und Kanten", wiederholte er zu sich wispernd und grinste kopfschüttelnd.
Einige Zeit arbeitete der Kanre an dem Bild. Doch dann hielt er inne, sein Blick auf das Fenster hinter Munin gerichtet. Langsam tropfte graue Farbe vom erhobenen Pinsel auf den Boden. Seine Lippen pressten sich zusammen und als er das Malwerkzeug jetzt führte, spritzte Grau in alle Richtungen.
„Quesa?" Weil er keine Reaktion erhielt, schritt er auf ihn zu. „Que..." Er erhaschte einen Blick auf die Leinwand. Das, was sich darauf befand hatte noch nicht einmal entfernte Ähnlichkeit mit ihm. Nur schwarze, graue und blaue Schlieren. Striche, mit wütender Hand ausgeführt.
„Oh." Kritisch beäugte Quesa seine Kreation.
Munin nickte. „Du hast mich gut getroffen."
Eine Mischung aus Schnauben und Grummeln war zu hören, gefolgt von einem leisen: „Es ist noch nicht fertig ..."
„An was hast du gedacht?"
„Entschuldige?"
Neugierig wandte sich Munin ihm zu und stockte. Zwar gab das Gemälde nicht ihn wieder, aber etwas von dem Bild erkannte er in Quesas Gesicht: Wut, Trauer, Schmerz. Er räusperte sich. „Als du abgedriftet bist, Sonnenschein. An was hast du gedacht?"
„Ich ..." Er presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. „Nichts. Das passiert manchmal. Ich ... Wie sagst du? Drifte ab. Ich ..."
Stumm sahen sie auf das Bild.
Dann erhob Quesa die Stimme. „Warum nennst du mich so?"
„So?"
„Sonnenschein."
„Hm? Oh." Er hob die Schultern, zog seine Mundwinkel nach oben und deutete mit den Zeigefingern darauf. „Wegen deinem Lächeln natürlich."
„Meinem Lächeln?"
Munin fragte sich in diesem Moment, ob Quesa überhaupt bewusst war, wie unnatürlich sein Grinsen wirkte. „Dieses entzückende Lächeln, das dein Gesicht teilt." Er strich mit seinen Fingern von seinen Mundwinkeln seine Wangen hinauf.
Quesa hob das Kinn, musterte ihn aus schmalen Augen. „Du machst dich über mich lustig."
„Nein. Es ist nur eine Tatsache." Etwas in ihm drängte ihn, mehr zu sagen, aber wusste weder, wie er diesen bodenlosen Schmerz in seinen Augen lindern konnte, noch ob eine Einmischung seinerseits überhaupt gewünscht war.
Erneut schnaubte Quesa, sah auf das Bild, dann aus dem Fenster. „Kann ich dich etwas fragen, Munin?"
„Natürlich."
Er führte den Pinsel einmal quer über das Bild und hinterließ einen dunkelgrauen Streifen. „Hast du Angst vor mir?"
Überrascht legte Munin den Kopf schief und runzelte die Stirn. „Nein. Diese Blutmanipulation ist gruselig, aber in einem Kampf gegen dich würden meine Chancen dennoch nicht schlecht stehen." Er grinste. „Hast du denn Angst vor mir?"
Blaue Augen durchbohrten ihn, bis das Bedürfnis, den Blick zu senken, übermächtig wurde.
Doch Quesa war der Erste, der sich abwandte. „Nicht aus einem Grund, den du annehmen würdest."
Munin blinzelte. „Was? Du hast –?"
„Nicht aus einem Grund, den du annimmst, Munin", wiederholte er und seufzte.
„Gut." Er wollte ihm nicht zusätzliche Gründe nennen – dass er ein gemachtes Monster und ein potentieller Verräter war – und fragte deswegen allgemein: „Warum denn dann?"
Schnaubend schüttelte er den Kopf. Lächelte eines der wenigen ehrlichen Lächeln. Es war leicht, traurig und zerbrochen. Dann machte er sich daran, den Raum zu verlassen.
„Quesa?" Munin betrachtete die graue Leinwand. „Würdest du mich erneut begleiten? Das Training war sehr anstrengend."
Der Kanre legte eine Hand auf den Türrahmen. „Ich dachte, das Anzapfen der Macht der Kan würde dich nicht schwächen?"
„Vielleicht habe ich mich geirrt." Er schlug die Augen nieder und seufzte. „Vielleicht wurde ich auf dem Rückweg auch von einer Ratte überfallen, die mehr genommen hat, als ich zugeben wollen würde." Sobald er wieder aufsah, begegnete er Quesas neutralem Gesichtsausdruck.
„Ich will dich nicht darum bitten, mich niemals anzulügen." Er lehne den Kopf an den Rahmen. „Aber darum, zumindest zu versuchen, es nicht zu tun. Ich werde nicht verurteilen, sondern versuchen, zu verstehen. In Ordnung?"
„In Ordnung."
Quesa nickte. „Ich werde Leia anweisen, dich zu begleiten."
Die Frage, ob er etwas falsch gemacht hatte, brannte in seinem Mund, aber er schluckte sie hinunter. Der Kanre wollte ihn sicherlich nicht die ganze Zeit babysitten, auch wenn er es gewesen war, der die Regeln aufgestellt hatte.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro