Kapitel 13 Teil 2: Abgrund
„Was ist mit ihm?" Leias Stimme war ungewohnt hoch. „Quesa? Wieso wacht er nicht auf?"
„Vorher haben ihn vier Kerne am Leben erhalten. Der verbliebene muss sich erst darauf einstellen, alle Aufgaben alleine zu übernehmen."
Jemand schnaubte. „Vielleicht reicht auch ein Kern einfach nicht aus, totes Fleisch anzutreiben." Das war Raynas Stimme. „Wir sollten ihn im Koma lassen. Ist doch eh egal, in welchem Zustand er ist, solange der Kern in ihm weiterexistieren kann. Kann gut sein, dass auch schon drei Kerne reichen. Dann wäre er nur noch unnötiger Ballast."
Darauf brummte Hiku nachdenklich, aber schob hinterher: „Irgendwo hat sie recht. Habt ihr Camu gefunden? Wenn sie heute noch den Kern nimmt, macht es doch keinen Unterschied, ob er dazwischen wach ist oder nicht."
„Ihr habt doch nicht mehr alle Tassen im Schrank!", fauchte Leia.
„Vielleicht wäre es Gnädiger", murmelte Quesa heiser, „ihm den Schmerz zu ersparen." Es klang wie eine Frage und Munin zweifelte nicht, dass er nur das Beste für Zeph im Sinn hatte.
Cyriz meldete sich zu Wort. „Das ist nicht unsere Entscheidung. Es ist seine."
„Hast du nicht selbst gesagt, dass etwas ‚Ungutes' in ihm ‚schlummert'?", fragte Hiku. „Dass er potentiell lügt und eine Gefahr darstellt? Ihr seid viel zu nachsichtig mit ihm."
„Meine Güte", klagte Rayna ungeduldig. „Er ist doch nur ein Mensch. Nahrungsmittel, Haustier und Versuchsobjekt. Was denn? Ist ja nicht so, als wär' ich die Einzige, die so denkt. Seht ihn euch an. Es ist grausam, vier Kerne in ein Lebewesen zu implantieren und dann auch noch ... so. Er wär' früher oder später ohnehin dran verreckt. Langsam und qualvoll. Einem Neda oder Lebewesen, das sie respektieren, hätten sie so was nicht angetan. Er ist nur ein Gefäß, ein Geschenk der vier Kan an uns, damit wir hier raus können. Dann fressen wir uns an den Menschen satt, dann treten wir den Sem in den Arsch und dann ... sehen wir weiter." Sie klang sehr zufrieden mit sich selbst und der Welt.
„So wird das nicht laufen", knurrte Quesa und es war das erste Mal, dass seine Stimme diese dunkle Tonlage annahm. „Ihr werdet keinem Menschen ein Haar krümmen. Wir zerstören Myssavor und dann verschwindet ihr und die Sem wieder in euer eigenes Universum."
„Wenn wir eine Chance gegen die Sem haben wollen, müssen wir uns stärken. Und ich beute dafür garantiert nicht weiter mein eigen Fleisch und Blut aus. Ich fänd's auch gar nicht so schlecht, ein paar Jahrzehnte lang als Göttin verehrt zu werden, wie die Sem. Aber ich hätt' auch nix dagegen, wieder nach Hause zu gehen. Ob das allen Kanre so egal ist, dafür würd' ich aber nicht die Hand ins Feuer legen. Ist viel Zeit vergangen. Aber was spielst du dich so auf? Ist ja nicht so, als könntet ihr vier uns zu etwas zwingen, oder?"
„Das reicht, Rayna", befahl Jurik. „Wir können einen Vertrag ausarbeiten, wenn wir es wirklich hier rausgeschafft haben. Ich kann euch nur folgendes sagen: Ich werde versuchen, menschliche Kollateralschäden gering zu halten und alle Neda wieder nach Astraka zu verfrachten."
„Wir –" Was auch immer Hiku hatte sagen wollen, ging in Quesas: „Er ist aufgewacht", unter.
Erst jetzt fiel Munin auf, dass seine Augen offen waren und er zur Decke starrte.
„Munin, kannst du mich hören? Wie geht es dir?"
Sein Blick wollte sich nicht von der Decke lösen.
„Munin?"
Raynas Gesicht erschien in seinem Sichtfeld. „Vielleicht hat ihn der Stress seine restlichen Hirnzellen gekostet."
Von ihm war zu wenig übrig, um sich über die Neugier in ihren Augen aufzuregen.
„Kann sie bitte jemand rausbringen?" Der Gott des Wassers sprach durch zusammengebissene Zähne und erntete sich ein Augenverdrehen von Rayna. Sobald er sich erneut Munin zuwandte, war auf seinem Gesicht sein Markenzeichenlächeln. Er setzte sich auf die Bettkante und ergriff Munins Hand. „Das wird schon wieder, keine Sorge."
Munin schloss die Augen. Als er sie das nächste Mal öffnete, war es ruhig in der Untergrundwohnung, niemand war mehr in seinem Zimmer. Er stemmte sich aus dem Bett, taumelte gegen die Wand. Lief plötzlich durch die Stadt. Bevor ihn sein Sehsinn wieder im Stich ließ. Aber er wusste, dass er weitermarschierte. Weiter, immer weiter. Jeder Schritt schickte Dornen durch seine Adern, doch seine Gedanken wurden von einer samtenen und gleichzeitig schneidenden Stimme dominiert: Sie sehen dich nur als Beute. Alle Neda sind hinterlistige Schlangen, deren Wort nichts wert ist. Schalte die neugeborenen Kan aus, bevor sie dich und die Menschheit ausschalten. Lass die Kanre hier verrecken. Lass die Götter zurück, die dir nur in den Rücken fallen werden, weil sie nicht akzeptieren können, wer du bist. Und dann kümmern wir uns um die Sem. Der letzte Kan-Kern wird unsere Erlösung sein. Solltest du es nicht schaffen, bringe ich es damit mit Gewalt zu Ende.
In seinem Geist entstand die Vision einer Explosion, die die Ausmaße eines, ein erneutes Massenaussterben hervorrufenden, Meteoriteneinschlags hatte.
Vertrau mir. Aus der Asche wird sich etwas Neues erheben, wie es immer war.
Als ihm seine Augen das nächste Mal ein reales Bild übermittelten, befand er sich im Toten Wald. Er stützte sich an einem Baumstamm ab und erbrach sein spärliches Frühstück auf den Boden. Keuchend und nass geschwitzt war er an dem Ort angekommen, den Ava ihm vor so vielen Tagen als Treffpunkt angegeben hatte. Er lehnte sich gegen einen der anderen Bäume und aktivierte seine Aura für den Bruchteil einer Sekunde.
„Wer hätte gedacht, dass du tatsächlich Kontakt mit uns aufnehmen würdest." Eine Göttin mit einem schwarzen Bob trat hinter einem anderen Baum hervor.
Sera, wie ihm Zephyrins Erinnerungen verrieten. Nur eine niedere Semre, nicht viel mehr als eine Sekretärin. Gut.
„Steht das Angebot noch?" Seine Stimme klang fast so fern, leer und tot, wie er sich fühlte.
„Die vier Götter und zwei gefährliche Kanre gegen Freiheit, Macht und Geld?" Sie kicherte. „Denkst du nicht, dass du deine zweite Chance beim letzten Mal verspielt hast?"
„Du wärst nicht hier, wenn dem so wäre. Und ich nicht, wenn ich nicht ein gutes Wiedergutmachungsangebot hätte."
„Ich höre." Sera spiegelte seine Haltung und lehnte sich an den Baumstamm ihm gegenüber.
„Die vier Götter. Und drei Kanre, die zu Kan aufgestiegen sind. Das ganze Verschwörerpaket. Gegen Freiheit, Macht und Geld."
Ihre Augen weiteten sich.
„Steht das Angebot noch?", wiederholte Munin.
„Du enttäuschst wirklich nicht. Ja. Zeig mir, wer sie sind und wo sie sind, dann nehme ich dich gleich mit. Alles Weitere kann an einem schöneren Ort besprochen werden."
Er öffnete seine Aura. „Sie –" Metall knallte wie eine Kugel gegen seine rechte Seite, zerschmetterte seinen Oberarmknochen, knackste zwei Rippen an und presste jegliche Luft aus seiner Lunge. Er flog einige Meter parallel zum Boden, bevor er landete und weiterschlitterte. Eine Metallfaust sauste auf seinen Kopf zu, aber er fing sie mit dem sowieso schon lädierten Arm ab und trat den Roboter von sich herunter.
Die Szenerie veränderte sich, als ihn ein Portal aufsaugte und auf einem Platz in der Stadt ausspuckte. Dank Nexals unbeschwerter Szenerieumformungen in seinem Reich, fiel ihm die Neuorientierung leicht. Hiku und Quesa waren da, wie auch Jurik und Rayna und zwei hautlose Roboter.
„Verräter", zischte Hiku und jetzt war es seine Faust, die auf Munins Gesicht zuhielt.
Eine gepanzerte Hand fing sie auf.
Schwärze leckte über Munins Körper, Schuppen drückten sich aus seiner Haut. Aus seinen Fingerspitzen wuchsen Klauen, aus seinem Rückgrat Stacheln und seinem Kopf vier Hörner. Wie Flammen loderte die Dunkelheit und erstarrte auf seinem Körper. Die Maske ließ einzig Löcher für die Augen.
Munin drückte seine Faust zusammen und Hikus Knochen brachen. „Ich tue nur, wozu ihr zu schwach seid", knurrte Munin. Hikus Feuer flackerte über Munins Finger, durchdrang aber die Panzerung nicht. „Ich beschütze die Menschheit." Mit seiner Aura legte er den Feuergott lahm. Juriks Training schien Wirkung zu zeigen, denn die Hitze schmolz den Käfig langsam, aber stetig. Dennoch: Es war immer noch ungenügend.
Ein Roboter war plötzlich vor ihm. Munin kassierte den Schlag gegen seinen Solarplexus und spiegelte ihn. Der Schuppenpanzer hielt der Wucht des Roboters stand, aber Munins linke Faust versank im Inneren der Maschine.
„Was zum Henker ist das?", hauchte Rayna und hatte dabei den Nerv, begeistert zu klingen.
Ein Luftstoß schickte Munin gegen die nächste Wand, ein weiterer klebte ihn auf dem Rücken am Boden fest. Auraverstärkte Steinspeere bohrten sich durch Rüstung und Fleisch und traten auf der anderen Seite wieder aus.
Raynas Boots hielten vor seinem Kopf an. „Weißt du, irgendwie hatte ich mehr vom Champion der Sem und Kan erwartet."
Sie versank bis auf den Kopf im Boden. Befreit von seinem Gefängnis zischten Munins Klauen auf ihr Gesicht zu.
„Munin!"
Nur der Ausruf verhinderte, dass er ihren Kopf zerfetzte.
Munin richtete sich auf und blickte in Quesas schreckgeweitete Augen. Luft flackerte, eine Illusion löste sich auf und Jurik stand direkt vor Munin. Juriks Klinge näherte sich, bereit für den tödlichen Stich. Doch bevor sie sein Herz erreichte, wurde sie von einem anderen Körper aufgehalten.
Nexal war aus dem Nichts erschienen. Er sah Munin an, Mimik unlesbar. Weinroter Aurastahl ragte aus dem Brustkorb des Todes heraus, umschlossen und gestoppt durch Schattenranken, bevor er Munins Rüstung hatte durchbohren können. Lediglich die Spitze steckte einen Zentimeter tief im Panzer.
Die Szene war wie Eiswasser, das Munin mit Wucht im Gesicht traf. Ein Schrei hatte sich in seiner Kehle verhakt, aber noch war er geknebelt und gefesselt in seinem eigenen Körper.
Grunzend und mit Anstrengung zog Jurik seine Waffe heraus. An der Ein- und Austrittsstelle lösten sich mehr Partikel vom Todesgott, ein stetiger Strom, wie ein verklumpter Blutfluss, der den Gesetzen der Physik trotzte.
Halb wandte Nexal sich um, zwischen den Parteien, aber klar als Schutzwall vor Munin. „Hört bitte auf damit. Ich bitte euch."
„Er ist gefährlich", knurrte Hiku. „Geh aus dem Weg oder ..."
Nexal schnaubte ein Lachen. „Oder was?" Er schüttelte den Kopf. „Munin leidet. Er stirbt. Und im Versuch, ihn am Leben zu erhalten, frisst der Kern Unmengen Energie. Es treibt seine Körpertemperatur nach oben und setzt ihm zusätzlich zu." Sein Ausdruck wurde härter. „Er hat euch gehört, als ihr über ihn und die Zukunft spracht. Nicht nur einmal. Munin hat euch gehört und ... das Seelengeschwür, das sich in seinem Körper eingenistet hat ebenso. Es ist Leid. Es ist Hass. Es sind Fragmente einer Aura, in die die Kan ihren Willen einprogrammiert haben. Dem sie gefolgt ist, bis ihr eigener, menschlicher Wille diese Ketten überwinden konnte." Nexal verschränkte die Finger, in seine Stimme schlich sich etwas Sanftes, Unsicheres. „Ich bitte euch. Helft ihm." Er wandte sich Munin wieder ganz zu. „Und ich bitte dich darum, lass dir helfen."
Die Rüstung löste sich in Luft auf und er wäre auf die Knie gesackt, wenn Nexal ihn nicht aufgefangen hätte. Munins noch funktionsfähige, linke Hand legte sich auf die Stelle, an der der Aurastahl aus Nexal ausgetreten war.
„Mach dir um mich keine Sorgen", hauchte Nexal in sein Haar. „Quesa. Hilf ihm", verlangte er lauter und tonloser. „Tu das für ihn, was du damals für Anwar getan hast. Halte ein paar seiner Organe am Leben. Du musst dich nicht um alles kümmern – finde eine Balance mit dem Kern."
Ehe er ausgesprochen hatte, ebbte die Feuersbrunst in Munins Innerem ab und hinterließ Asche, wo die Flammen abkühlten. In seine Gedanken kehrte Ruhe und Struktur zurück. Seine Zähne klapperten unkontrolliert aufeinander und er krallte sich in Nexals Hemd. Der Schmerz in seinem Arm wurde überstrahlt vom beständigen Gleißen in seiner Brust.
„Das werde ich nicht lange durchhalten", gab Quesa leise zu. „Und der Kern auch nicht." Er schüttelte den Kopf. „Die Energieschwankungen sind irrsinnig."
Jurik zog Rayna Stück für Stück aus dem Boden. Während sie leise, abgehackte, wütende Töne in einer fremden Sprache ausstieß, blieb Jurik nüchtern. „Das macht nichts mehr. Jetzt, da die Sem von uns wissen, werden sie keinen Stein auf dem anderen lassen, um uns zu vernichten. Und wenn es die ganze Stadt kostet. Wir müssen vorher hier weg." Er wandte sich dem Gott des Todes zu, musterte ihn knapp. Sein Mund öffnete sich, aber jemand anderes musste zuerst etwas loswerden.
„Du hast sie getötet, oder?" Emilia trat aus den Schatten zweier Häuser und starrte Munin an, ohne zu blinzeln. „Du hast Lambert und Camu getötet. Die Zeiten passten einfach nicht zusammen. Die Leute, die sie auf der Brücke gesehen haben und der Chip, der viel früher in der Innenstadt aufgetaucht ist. Und das Monster, das zwei Händler angefallen hat ..." Wie sie sprach, zittrig und ungläubig und erstickt, hätte man sie fast für einen Menschen halten können, der Qualen litt.
Als Munin einfach nur schwieg, tausende Entschuldigungen im Kopf, aber keine auf der Zunge, verschränkte Rayna die Arme vorm verstaubten Körper. „Und was machen wir jetzt mit ihm? Er ist ein Sicherheits..." Unter Nexals Blick verstummte sie.
Der Todesgott erklärte: „Ich werde ihn überwachen."
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