Kapitel 10 Teil 2: Drohendes Unheil
Die flüchtige Gestalt rettete sich mit einem Hechtsprung durch ein eingeschlagenes Fenster in das Innere eines Hauses. Munin, noch die Begegnung mit dem Roboter in den Knochen, folgte ihr außerhalb des Gebäudes. Für sie ging es auf den Dächern weiter, für ihn parallel auf den Straßen, tiefer ins Territorium der Mittelschicht hinein.
Knurrend wich er einer Gruppe Kanre aus, die mit Schubkarren und Wägelchen an einer Kreuzung warteten. Zwei Straßen weiter geriet er in eine Rangelei. Er duckte sich unter einem Schlag weg. Ein Kanre wurde in seine Richtung geschubst. Munin grub den rechten Fuß in den Boden, drehte sich auf dem Ballen, wich dem Kerl nach rechts aus und ließ die kämpfenden Kanre hinter sich.
Eine Sackgasse baute sich vor ihm auf.
Pflastersteine splitterten unter seinen Füßen, als er sich abstieß und in die Höhe schoss.
Über dem orangenen Tuch, das die Hälfte ihres Gesichtes verbarg, weiteten sich die dunklen Augen. Dann kollidierte Munin mit ihr. Gemeinsam kullerten sie die Dachschräge hinab und fielen Richtung Boden. Mit einem Luftstoß katapultierte sie Munin nach unten und sich gleichzeitig etwas in die Höhe, was ihren Aufprall minderte, im selben Maße wie es seinen schmerzhafter gestaltete.
Er war auf den Knien, als sie sich an ihm vorbeischob. Seine Hand streifte ihr Bein, doch sie taumelte zur Seite und sprintete weiter.
„Gah!" Munin drückte sich vom Boden ab. „Bleib verdammt noch mal stehen!"
Die Gestalt bog abrupt nach links ab und verschwand hinter den großen Flügeltüren einer Kathedrale.
Sein hämmerndes Herz, weniger wegen Erschöpfung denn vielmehr dank der Verbindung, machte ihn verrückt. Zischend drückte er einen Türflügel auf und schlüpfte in rotes Halbdunkel.
Buntglasfenster zeigten lächelnde Figuren mit diversen Hörnern, gekleidet in wallende Roben.
Jeder Schritt wirbelte Staub auf, aber es waren zu viele Fußspuren, um die neuesten herausfiltern zu können. Langsam bewegte er sich den Mittelgang entlang. Rechts und links reihten sich Bänke in den verschiedensten Stadien der Zerstörung. Am Ende des Ganges war ein großer Steinquader, den Munin nicht mit einem Sarkophag vergleichen wollte.
„Ich weiß, dass du irgendwo hier bist. Komm raus." Sein Blick tastete die Schatten unter den Bänken ab und die Säulen zu beiden Seiten des Gebäudes. „Bitte. Ich will nur mit dir reden. Es geht um einen Weg, diesem Gefängnis zu entkommen."
Etwas knirschte aus Richtung des Nicht-Sarkophags.
Ein Oberkörper klappte hoch.
Sein Innerstes erschreckte sich vor einem potentiellen Untoten, sein schlaueres Ich suchte nach Anzeichen, ob es sich um den kompatiblen Kanre handelte.
Ein Metallkopf ruckte zu ihm herum.
„Du willst mich wohl verarschen", murmelte Munin und wich zurück.
„K...kann ich Ihnen etwas ab...nehmen, der H...e-e-err? K...kann ich Ihnen den M-m-m-antel abnehmen?" Das Blechwesen sprang aus seiner Ruhestätte, landete im Mittelgang und streckte ihm eine Hand entgegen. Künstliche Muskeln zogen die Überreste seiner Lippen in ein Lächeln. „Kann ich Ihnen den Kopf abnehmen?" Es schoss vorwärts.
Mit einer Luftsalve lenkte Munin das Geschoss gegen eine Säule. Der Roboter brach Stein heraus, überschlug sich auf dem Grund und fing sich auf einem Knie. Rannte auf ihn zu.
Munin manipulierte den Boden und das Ding sank ein, stolperte, fiel und versank nun auch mit den Händen im Stein. Der Stein wurde wieder fest.
Mit purer Kraft brach sich der Roboter frei.
Wasser schoss an Munin vorbei und auf seinen Gegner zu. Dieser warf sich zur Seite, stieß sich mit einer Hand vom Boden ab, wirbelte durch die Luft und landete hinter einer Säule. Eine, in eine Handfläche eingebettete, Mündung tauchte auf.
Munin warf sich gegen Quesa und brachte damit ihn und sich selbst aus der Schussbahn der Energiekugel. Sie schlug in eine Säule ein und hinterließ eine geschwärzte Mulde. Beide rappelten sich auf, rannten zwischen den Bänken geduckt auf die Pfeiler zu und schlitterten in die Sicherheit dahinter, während Lichtkugeln an ihnen vorbeizischten.
Quesa lehnte sich an den Stein und sah auf seine Handfläche. Drei darüber schwebende Wassertropfen wuchsen zu fingerkuppengroßen Kugeln heran. Er linste hinter der Deckung hervor und drehte sein Handgelenk abrupt. Das Wasser schoss auf die andere Seite, schlug Stein aus der Wand und ein Ohr von einem Metallkopf. Dann war der Roboter seinerseits hinter einer Säule in Sicherheit.
Derweil Quesa mit gerunzelter Stirn unentwegt weitere Wassergeschosse auf die andere Seite schickte, schätzte Munin die Position des Feindes ein. Er zog die Luft zu sich heran, hörte Metall mit Stein kollidieren und manipulierte das Material der Säule.
Blanke Wut leuchtete ihnen aus dem Gesicht des Roboters entgegen, der mit dem Oberkörper im Pfeiler festhing. Mit einer Hand zerstörte er den Stein und befreite sich, mit der anderen zielte er gerade aus. Auf der Bahn der Lichtkugel verdampfte das Wasser und beinahe auch Quesas Nase, hätte er sich eine Sekunde später zurückgezogen. Unentwegt prasselte es auf ihre Deckung ein. Die Säule knirschte. Sie tauschten einen Blick.
Auf Händen und Knien krochen sie vorwärts, während Stein und Holz aufspritzten.
„Heute ist ein wirklich niederschmetternder Tag", murmelte Quesa.
„Nur heute?"
Das entlockte ihm ein Knurren. „Das ist lächerlich." Der Wassergott schickte etwas aus, das der Klinge einer Sense ähnelte. Es schnitt durch drei Säulen und in einen Abschnitt der Wand.
Gegenüber grollte es, als Stützen fielen und ein Teil der Decke und der Wand herabkrachten.
Quesa und Munin spähten hinter ihrer mitgenommenen Säule hervor. Staub wirbelte, Steinchen kullerten, aber kein Metall regte sich gegenüber.
„War das dein Plan gewesen?" Mit gehobenen Brauen und einem Lachen in der Stimme sah er zu Quesa.
Der verschränkte die Arme und hob das Kinn. „Natürlich."
„Und ich dachte ... du seist nur schlecht im Zielen."
„Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun." Bei seinem Blick fügte Quesa hinzu: „Ich bin der Gott des Wassers. Ich könnte Meere kontrollieren. Theoretisch. Normalerweise. Wer muss da schon zielen?"
Munin beließ es dabei und presste eine Hand gegen sein galoppierendes Herz. „Bei den ... Göttern. Das ist ziemlich unpraktisch. Die Reaktion auf die Kompatiblen, meine ich." Er atmete dreimal tief durch, bevor er hinter der Säule hervortrat. „Hey! Komm gefälligst raus. Ich weiß, dass du immer noch da bist. Hat dir die Vorstellung gefallen? Auch wenn ich dir gerade den Hals umdrehen will, weil du mich zweimal in die gleiche, dumme Falle gelockt hast, verspreche ich dir, dass ich dir kein Haar krümmen werde." Es war kein Mucks zu hören, weswegen er einfach weiter in den Raum redete. „Wir haben eine Möglichkeit gefunden, wie wir diesen Ort, diese Taschendimension, verlassen können. Und den Sem in den Arsch treten können. Eine Chance zu erhalten, sie und euch wieder in euer Universum zu schicken."
Ein Schatten trat hinter einer Säule in der Nähe des Sarkophags hervor und verschränkte die Arme. „Kein Interesse. Wenn das alles war, können wir ja wieder unserer Wege gehen, ja?" Die Kanre kam die Stufen herunter und lief den Mittelgang entlang auf den Ausgang zu.
Quesa trat vor, ihr in den Weg, was sie dazu veranlasste, anzuhalten. Beschwichtigend hob er die Hände. „Wir bitten lediglich um ein paar Minuten, Ihnen alles zu erklären. Wir können unsere Worte sogar beweisen. Wir –"
Sie schnaubte und winkte ab. „Selbst wenn ihr beiden keine Spinner seid, habe ich kein Interesse. Mir gefällt es hier. Ich will hier nicht weg. Ich will mich nicht mit den Sem anlegen. Und vor allen Dingen will ich nicht wieder nach Astraka zurück."
Munin ballte die Hände zu Fäusten. „Du bist eine Kanre! Es ist deine Pflicht –"
„Ach, fick dich." Sie setzte sich wieder in Bewegung.
Ein Lichtfleck schlug in den Kopf der Kanre ein und erzielte ein ähnliches Ergebnis wie bei den Steinsäulen. Nur mit mehr Knochen, Gehirnmasse und Blut.
„Ähm", entwisch es Munin, während Quesas Stirn in Falten lag, als würde ihn die Pfütze wenige Meter weiter beleidigen.
Die Reaktion einer weiteren Person, die von irgendwo oben zu Boden stürzte, fiel heftiger aus. Sie schrie auf und bohrte eine rote Aurastange in den freigekämpften und lädierten Robotertorso, immer wieder, bis sich Metallteile verteilten und sich nichts mehr rührte.
Er erkannte in ihr seine Diebin und Jagdgefährtin, die verbannte Semre, wieder. Sie wankte näher, an ihnen vorbei, und kniete sich vor die Gefallene. Ihre Hände schwebten über dem Körper, bevor sie sie ineinander verkrallte und schließlich auf ihr eigenes Gesicht presste, um ihre Schluchzer zu dämpfen.
Munin trat näher. Im Tod waren Schal und Kapuze der Kompatiblen verrutscht. Sie gaben ein Antlitz preis, das dem der Semre bis auf ein Haar glich, abgesehen von dem Brandmal der Verbannung. Zuerst schoss das Wort ‚Auraklon' in seine Gedanken, aber das war natürlich Unfug.
Sie waren Zwillingsschwestern.
Er kauerte sich neben die Semre und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Sie nahm das Angebot an und lehnte sich im nächsten Augenblick an ihn.
Leichtes Unwohlsein kringelte sich in seinem Magen zusammen. So hätte er trauern sollen, als sein kleiner Bruder gestorben war. Aber er hatte ihn kaum gekannt. Und irgendwie war er für ihn nicht wirklich gestorben. Dennoch. Er hätte trauern sollen. Um Zephyrin. Und um Ajax vielleicht auch.
Nach zehn Minuten wurden die Abstände zwischen den Schluchzern länger und weitere fünf Minuten später erstarrte die Semre, tippte sich ans Ohr, stand abrupt auf und wischte sich grob übers Gesicht.
„Sei ein Schatz und schnapp dir den Roboter, ja?", wies sie ihn mit rauer Stimme an und strich sich durch die Haare.
„Was?"
„Na, den Roboter. Die Dinger sind schwer." Sie lächelte auf ihn herab und deutete hinter sich. „Könntest du ihn für mich tragen?"
Nach dem Vorfall fühlte es sich wie das Mindeste an, das er tun konnte, auch wenn er nicht direkt seine Schuld war. Er trottete zum Steintrümmerhaufen und betrachtete den Metalltrümmerhaufen darin. Seufzend stieß er das Ding mit der Schuhspitze an. Nichts regte sich.
Quesa und die Semre halfen ihm dabei, die Mauerstücke beiseitezuräumen.
Mit einem weiteren Seufzen wuchtete er sich den Blechmann über die Schulter und folgte der Semre nach draußen.
„Und wieso trage ich dir diese Killermaschine hinterher? Willst du daraus einen Boxsack machen?"
„Weil du ein freundliches Kerlchen bist?" Sie wog den Kopf hin und her. „Vielleicht auch, weil du ein schlechtes Gewissen hast."
„Was ist mit dem Körp..."
„Um den kümmere ich mich später", fuhr sie dazwischen.
Munin brummte, räusperte sich. „Und wohin geht es?"
„Zu einem Wissenschaftler, der gut für ausgeschaltete Roboter bezahlt. Will euer Freund uns eigentlich weiter subtil begleiten oder sich zu uns gesellen?"
Hiku sprang von einem Dach und schloss sich der Gruppe an. Er sah zwischen Quesa und Munin hin und her. „Ist sie eine Kandidatin?"
„Die Zwillingsschwester der Kandidatin", erklärte Munin. „Die Kandidatin kam ums Leben."
Hiku blieb stehen. „Das ist ein Scherz. Seid ihr sicher? Ich meine, Quesa ist ein ausgezeichneter Heiler – "
Die Semre sah über ihre Schulter. „Die Hirnmasse auf dem Boden hat schon ein ziemlich deutliches Bild gezeichnet", entgegnete sie lapidar, aber mit einem steifen Grinsen. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass da nichts mehr zu machen war."
„Was, bei Nexals dunklen Gefilden, ist passiert? Seid ihr beim Kämpfen ausgerutscht oder was?"
Erneut antwortete die Semre, mit einem Schulterzucken. „Der Roboter war's. Es war ein dummer Unfall."
„Und was machen wir jetzt? Ich meine ... was, verfickt noch mal, machen wir denn jetzt?" Hiku raufte sich die weiß-roten Haare und sah dann von der Semre zu Munin. „Ist sie ein passender Ersatz? Spürst du irgendetwas? Ein Kribbeln?"
„Ein Kribbeln?", wiederholte Munin und lachte auf. „Nein, natürlich nicht!"
„Autsch", murmelte die Semre. „Aber schon gut, du bist auch nicht gerade mein Typ."
Munin musterte die Frau. Ihr Lächeln zitterte an den Rändern. „Die Kan haben den Kernen einen bestimmten Stempel aufgedrückt", überlegte er laut. „Der Stempel passt nur zu einer bestimmten Person, der Kern nicht unbedingt."
„Es ist sehr wahrscheinlich", führte die Semre weiter aus, „dass Zwillinge auch übereinstimmende Aurasystemstrukturen besitzen. Und dementsprechend wahrscheinlich, dass ich auch eine Kandidatin sein könnte."
Mit gehobenen Brauen musterte er die Semre. Sie blickte ihn mit ähnlicher Mimik an. „Was? Ha, ja, ich bin wirklich schlau genug, mir ein paar Dinge zusammenzureimen, Wuschelkopf, und so schwer war das jetzt auch nicht."
„Moment, heißt das, dass die übrigen beiden Kandidaten auch tot sein könnten?", warf Hiku dazwischen.
Stille senkte sich über die Gruppe und der Hüne stöhnte laut auf.
„Falls es jemanden interessiert", brachte sich die Semre erneut beiläufig ein. „Was, wenn ich der gleichen Meinung wie meine Schwester bin? Hier nicht weg will. Nicht wieder nach Astraka, wo nichts auf mich wartet außer wütende Kan und ein Leben in einer Röhre, die mich melkt." Sie drehte eine blonde Strähne zwischen den Fingern. „Deswegen hat Iza sofort abgelehnt. Wegen mir. Hier konnten wir wenigstens eine Familie sein. Hier mussten wir uns wenigstens nicht mehr um unveränderliche Dinge streiten."
„Aber ..." Hiku räusperte sich. „Ich meine. Jetzt ist sie tot. Also ein Grund weniger –"
Mit einem Klaps gegen den Arm brachte ihn Quesa zum Verstummen.
„Euer Freund lässt nichts anbrennen, hm?" In ihrer Stimme schwang ein Lachen, aber auch die noch unvergossenen Tränen hörte man heraus. „Wir sind da."
Sie waren vor einem Turm stehen geblieben. Munin musste den Kopf in den Nacken legen, um die Spitze sehen zu können.
„Jetzt müssen wir nur noch ganz nach oben."
Munins Ächzen entlockte ihr ein Kichern und brachte Hiku dazu, ihm die Metalllast abzunehmen.
„Auf dem Weg könnt ihr mir ja alles in Ruhe erklären", schlug die Semre vor.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro