Kapitel 10 Teil 1: Drohendes Unheil
Das Knarren seiner Tür riss den aufmerksameren Teil Munins zuerst aus dem Schlaf. Er hielt die Augen geschlossen, lauschte den schweren Schritten, die sich dem Bett näherten. Sein Herz schlug in einem schnelleren Takt, aber nicht nur aus Angst. Ebenso aus Vorfreude. Als er die Lider anhob, erkannte er im Dämmerlicht der Nachtbeleuchtung einen Riesen vor sich aufragen. Mehr musste er nicht sehen.
Mit einem Grunzen landete Hiku auf den Knien.
Munin stemmte sich in eine sitzende Position und drapierte die Decke um seinen Körper, bevor er fragte: „Was verdammt noch mal willst du in meinem Zimmer?"
Dich loswerden. Vielleicht sollten wir ihm zuvorkommen ...
„Antworte", verlangte Munin und ließ dem Hünen etwas mehr Luft. Sein eigener Herzschlag dröhnte in seinen Ohren, ein Grinsen kitzelte an seinen Lippen.
Hikus Röcheln erfüllte das Zimmer wie Musik. Auch in der Finsternis sah Munin die geweiteten Augen und die Hände an seinem Hals, die nach etwas griffen, das nicht physisch da war.
Und das soll ein Gott sein? Der Gott des Krieges? Wie enttäuschend.
Die Zimmertür wurde aufgerissen und die drei übrigen Götter und Jurik stolperten herein.
Licht blendete Munin für eine Sekunde, bevor er sich geschockten Gesichtern gegenübersah und Juriks stoischem. Der Kanre war der Erste, der wieder zu Worten fand. „Was, bei Herrin Pahl, ist hier los?"
„Ich bin aufgewacht und er war in meinem Zimmer", antwortete Munin leise, sich seine schmerzenden Schläfen reibend. „Er hat mich erschreckt. Ich weiß nicht, was er hier wollte."
„Lass ihn bitte los." In Cyriz' Augen schwamm Angst, obwohl xiese sanfte Stimme nichts verriet.
Munin wurde sich erst jetzt des schweren Keuchens des Hünen gewahr, das so leise war, im Vergleich zu den Trommeln in seinem Kopf. Er entließ ihn und Hiku ging sofort dazu über, abwechselnd nach Luft zu schnappen und sich die Seele aus dem Leib zu husten.
„Was wolltest du hier?", verlangte Quesa zu wissen, als sein Bruder stiller wurde. Weder aus Tonlage noch aus Mimik ließ sich etwas herauslesen.
Hiku wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, sah auf Händen und Knien zu seinen Geschwistern auf. „Ihr spürt ihn doch auch, oder? Den verdammten Aasgeier. Ich wollte sichergehen, dass er sich Munin nicht doch noch schnappt. Aber ... verdammt noch mal." Mit einem grimmigen Grinsen im Gesicht kam er auf die Füße. „Es scheint nicht so, als wäre es das gerupfte Hühnchen, um das ich mir Sorgen machen müsste." Er steuerte die Tür an, hielt an der Schwelle inne. „Tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe."
„Tut mir leid, dass ich dich angefallen habe", gab Munin in ebenso neutralem Ton zurück.
Blicke schweiften zwischen Hiku und Munin hin und her, doch niemand sagte mehr etwas. Quesa seufzte, Leia hatte ein unlesbares Lächeln im Gesicht, Cyriz kaute auf xieser Unterlippe und Juriks Augen waren starr auf Munin gerichtet. Nachdem auch sie sein Zimmer verlassen und die Tür geschlossen hatten, verstärkte Munin sein Gehör.
„Ist er vertrauenswürdig?", wollte Jurik wissen.
Quesas Antwort kam prompt. „Ein Teil von ihm ist eine herzensgute Person. Ich vertraue ihm mit meinem Leben."
„Und der andere Teil? Ajax, richtig?"
Erst blieb es still, dann erwiderte Quesa: „Über seinen Bruder weiß ich nicht viel."
„Immerhin hat er mit den Kan gegen die Sem gearbeitet", warf Cyriz ein.
Hiku schnaubte. „Nachdem er mit den Sem gegen die Kan gekämpft hatte. Mal ganz von der Menschen-Aussaug-Geschichte abgesehen."
„Welcher Teil von –" Jurik unterbrach sich selbst und seufzte genervt. „Am besten, wir behalten ihn im Auge. Alle Teile von ihm."
Als Munin erneut erwachte, hatte sich Kälte in seine Glieder eingenistet. Er schlug die Augen auf und wähnte sich für einen Moment in seinem alten Wohnwürfel, bevor er Cyriz' in Gelb und Weiß gehaltenes Gästezimmer erkannte.
Jede Bewegung sandte Schmerzen durch seine Glieder und sein Brustkorb pochte leise, dort, wo der Champion der Sem sein Fleisch zerteilt hatte. Seufzend hievte er sich aus dem Bett, betrachtete kurz den leeren Spiegel und trottete in den Hauptwohnraum.
Quesa lag auf der beigen Couch, die Nase in ein Buch gesteckt und Cyriz und Jurik frühstückten gemeinsam an der Küchentheke. Leia und Hiku lieferten sich einen Anstarrwettbewerb auf einem von vier runden, weißen Teppichklecksen auf dem dunkelbraunen Parkettboden.
„Was machen die beiden da?", fragte Munin, während er sich neben der Couch niederließ. Ein Gähnen verbarg er in der Armbeuge.
„Hm? Ah, sie versuchen, den jeweils anderen zu lähmen, so, wie es die Sem tun. Eigentlich wollen sie aber trainieren, sich daraus zu befreien, glaube ich."
Hiku zuckte zurück und krümmte sich lachend zusammen. „Stopp ... Hör auf ... Leia!" Sein Körper erschlaffte, bevor er sich wieder aufrichtete. „Was war das denn gerade?"
„Mir war langweilig", maulte sie.
„Willst du die Sem zu Tode kitzeln, oder was? Nimm das gefälligst ernster!"
Die Göttin von Luft und Spaß stöhnte laut auf.
„Wie geht es dir, Munin?" Quesa hatte sein Buch auf den Beistelltisch gelegt und beobachtete ihn aufmerksam.
„Den Umständen entsprechend gut." Er lehnte den Kopf gegen die Armlehne, sah zur Holzdecke, zögerte und erhob die Stimme. „Soll ich euch zur Hand gehen?" Fragend blickte er zu Leia und Hiku.
Hiku stand auf und kam auf ihn zu. „Du kannst es ja gern noch mal vers..." Er erstarrte und sank auf ein Knie herab. Lediglich seine Augen feuerten imaginäre Feuerpfeile in Munins Richtung, sonst regte sich nichts mehr.
Im bewussteren und wacheren Zustand realisierte er, wie schockierend einfach es war, obwohl er Hiku dieses Mal nicht überrumpelt hatte. Die Magie des Feuergottes war dicht wie kein Material, das er kannte, und störrisch. Aber man musste einen Löwen auch nicht zähmen, um ihn auszuschalten, sondern nur in einen Käfig sperren. Ein Prickeln wanderte durch seinen Körper, das hämische Grinsen ließ sich nur mit Mühe zurückhalten. Munin räusperte sich und gab alle Professionalität zum Besten, die er aufbringen konnte. „Du hast ein beeindruckendes Aurasystem. Und ich kann mir vorstellen, dass deine Willenskraft meiner in nichts nachsteht. Ich bin mir sicher, dass du mir leicht entkommen könntest."
Ein leises Grollen tönte aus Hikus Brustkorb.
„Du musst lediglich ... Du musst lediglich die Kontrolle über deine Aura übernehmen." Selbst Munin fiel auf, wie hilflos belehrend er klang.
Das Knurren wurde lauter.
Feuer leckte an den Gitterstäben des Gefängnisses, aber lange noch nicht heiß genug, sie zu schmelzen.
Eine Hand legte sich auf Munins Schulter. Cyriz. „Das reicht fürs erste."
Munin entließ den Hünen, der in die Höhe spritzte, mit langen Schritten den Raum durchmaß und die Leiter hoch an die Oberfläche verschwand.
„Ich wollte nicht –", setzte Munin an.
Cyriz klopfte ihm auf die Schulter und lächelte. „Ich weiß. Hiku ist sehr stolz und zeitweise auch sehr arrogant. Es ist nicht verkehrt, ihn ab und an wieder auf den Boden der Tatsachen zu holen." Nur erreichte das Lächeln nicht xiese Augen. Selbst die gutmütige Entität der Erde war vorsichtig geworden.
„Mich hat das gerade aber auch ziemlich verstört", gab Leia zu.
Er sah zu ihr herüber, nicht wissend, was er sagen konnte, um eine Göttin zu beruhigen.
Quesa setzte sich auf. „Dann bin ich der Nächste."
„Sicher?", hakte Munin nach und betrachtete seine Hände, während in seinem Kopf ein Sturm tobte.
„Natürlich. Komm schon."
Zögerlich fokussierte er sich auf den Wassergott. Ihm widerstrebte es, besonders in Betracht Hikus starker Reaktion, aber nach einem auffordernden Nicken seitens Quesa legte er auch ihn in Ketten.
Erst warf sich die Auraenergie gegen die Barriere, leckte an ihr empor und spritzte in die Höhe.
Munin lächelte bei der Feststellung, dass sich die Auren der Götter wie ihre Elemente verhielten.
Egal wie viel Energie Quesa in einen Angriff lenkte, Munin lockerte seinen Griff kein bisschen. Der Wassergott ging dazu über, ihn mittels kleinerer, aber zahlreicher Attacken zu bearbeiten. Doch es ergab sich keine Schwachstelle in seinem Gefängnis.
Stille fiel über Quesas Energie, ein spiegelglatter Teich. Der Brustkorb des Gottes hob und senkte sich in einem tiefen Atemzug.
Aura verformte sich zu einem hauchdünnen Strahl und zischte mit Hochgeschwindigkeit auf die Mauer zu. Es zerstörte sie nicht gänzlich, aber schnitt Kerben hinein und Teile heraus, die Munin ständig erneuern musste. Und wann immer er etwas zu langsam war, spürte er, wie die freigesetzte Energie nach seinem Körper tastete, seinen Adern, seinem Blut.
Kalte Kristalle breiteten sich von der Stelle aus, an der der fehlende Aurakern des Kan gesessen hatte und bohrten sich in alles auf ihrem Weg. Munin biss die Zähne zusammen. In seinem geschwächten Zustand würde er das nicht lange durchhalten. Aber auch auf Quesas Stirn bildeten sich angestrengte Falten.
„Sehr gut!", entwich es Munin. Er räusperte sich. „Beenden wir es hier." Quesas Aura kam sofort zur Ruhe und Munin entließ ihn. „Du bist einfallsreicher als dein Bruder und hast schon ein gutes Gefühl für deine Aura. Mach einfach weiter so", empfahl er unbeholfen, „dann wird es Stück für Stück leichter. Dann kannst du dich mit deiner letzten Taktik auf jeden Fall befreien."
Die Lippen des Gottes des Wassers verzogen sich zu einem matten Lächeln. „Danke, Munin. Und entschuldige, falls ich –"
„Es gibt keinen Grund, sich zu entschuldigen. Nicht für einen Kampf für Trainingszwecke." Er blickte sich nach Cyriz und Leia um. „Sonst noch jemand? Cyriz? Ich bräuchte allerdings eine kurze Pause ... Oder soll Jurik das Training übernehmen?"
Mit geweiteten Augen sah xier zu xiesem Kanrefreund. Ein leises: „Oh", entwich xiem.
Der Kanre war währenddessen zusammengezuckt und stand jetzt stocksteif. „Ich könnte es tun, wenn du willst. Aber ich würde es auch verstehen, wenn du es bevorzugen würdest, wenn es Munin übernimmt. Wenn dir die Vorstellung ..."
Angesichts der ganzen ‚wenn' hob Munin die Augenbrauen und Leia, die sich auf dem Teppich ausgestreckt hatte, grinste Jurik an.
„Nein, nein, schon gut." Xier stützte den Ellenbogen auf die Holzplatte der Theke und den Kopf in die Hand und lächelte zu ihm auf. „Irgendwie habe ich gar nicht daran gedacht, dass du ... Ich vertraue dir. Außerdem ist es effizienter, wenn wir mehr Lehrer haben und Munin nicht überstrapazieren." Xier ging um die Theke herum und blieb dicht vor xiesem Freund stehen. „Also los. Leg mich in Ketten."
Der Exritter lief tomatenrot an.
Mit dem schelmischen Grinsen in Cyriz' Gesicht war eine gewisse Ähnlichkeit zu Leia nicht abzustreiten. „Das würdest du wohl gern mal in anderem Kontext hören, hm?", murmelte xier.
Jurik erwiderte das Grinsen, obwohl seine Wangen weiterhin glühten. „Vielleicht." Er lachte in sich hinein und schüttelte den Kopf. „Hätte ich gewusst, dass du so viel lockerer werden würdest, sobald du weißt, dass ich weiß, dass du ein Gott bist, hätte ich mein Wissen niemals geheim gehalten."
„Du bist ja echt niedlich, wenn du nervös bist." Leia konnte ihr Kichern kaum unterdrücken. „Sobald die Turteltauben fertig sind, kann Juju auch mich unterrichten." Sie sah zur Couch. „Ihr könnt euch ja schon mal auf die Suche nach weiteren Kandidaten begeben."
Munins Kopf sank wieder gegen das Sofa. „Das heißt: Noch mehr zielloses Gelatsche durch die Stadt?" Er schloss die Augen.
Das Polster bewegte sich, als Quesa aufstand. „Komm schon."
Sobald Munin seine Lider wieder hob, sah er sich mit Quesas Hand und einem verschmitzten Lächeln konfrontiert. In dem Moment, in dem er einschlug, zuckte ein belebender Energieschub durch sein System.
Perplex musterte er den Wassergott, der ihn mit Leichtigkeit auf die Beine zog.
„Willst du noch etwas essen, bevor wir losgehen?"
„Ich bin nicht sonderlich hungrig", erwiderte Munin, bekam aber dennoch eine Banane vom Wassergott in die Hand gedrückt.
„Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages." Belehrend hielt er einen Finger vor seinem Kinn in die Höhe. „Iss wenigstens ein bisschen, hm?"
Seufzend kam Munin der Bitte nach. „Ja, Mom."
Quesa zog die Brauen in die Höhe, aber es war Leia, die die passenden Worte aussprach. „Hey, das ist eine gute Frage. Wie alt bist du eigentlich? Ich meine, von dem Kind erzählt hat Qu das erste Mal ..." Sie runzelte die Stirn und drehte den Kopf zur Seite. „... vor mehr als hundert Jahren?" Sie lachte. „Nein. Du bist nicht ... Oder ...?"
„Belassen wir es einfach bei mehr als hundert", stimmte Munin zu, biss in die Banane und verschwand im Badezimmer. „Geb mer ngoch füngf Minguten", nuschelte er mit vollem Mund.
Sie waren zwei Stunden in konzentrischen Kreisen durch die Unterstadt gestreift und näherten sich dem Übergang zur nächsten Gesellschaftsebene, bevor Munin sich in einer Seitengasse niederließ. „Ich brauche eine Pause." Er kehrte ein paar spitze Steinchen beiseite und zog seinen Umhang enger um sich. Selbst die Hitze der Stadt vermochte es nicht gänzlich, die Kälte in seinem Inneren zu vertreiben, obwohl ihm der Schweiß das Shirt an den Körper klebte. „Ich gehe davon aus, dass die Person, tatsächlich hier oder Richtung Mittelschicht irgendwo herumschleicht – immerhin kannte sie sich gut genug aus, Leia und mich in eine Falle zu locken. Aber um sich so gut auszukennen, wird sie oft in Bewegung sein. Da können wir genauso gut hierbleiben und abwarten."
Quesa glitt neben ihm zu Boden. „Du musst dich nicht vor mir rechtfertigen. Ich vertraue darauf, dass du aus guten Gründen handelst. Dazu zählt übrigens auch, einfach eine Pause zu brauchen."
Der Gott des Wassers hatte mehr Vertrauen in Munin, als Munin selbst. Genauer: Er hatte Vertrauen in Zeph. Wie alle anderen auch.
Munin schloss die Augen.
Unter Schuhsohlen knirschte Stein, als Kanre vorbeiliefen. Unterhaltungen wurden hier auf der Straße kaum geführt. Eine Person humpelte vorbei, schleifte ihr rechtes Bein hinter sich her. Jemand anders rannte die Straße entlang und kurz darauf ein zweiter Neda.
„Wieso folgt dir Nexal eigentlich so ... konsistent?", fragte Quesa irgendwann in die Stille hinein.
Munins Lider hoben sich blinzelnd, er suchte nach einer Spiegelfläche, die er in der Gasse nicht fand. „Ich weiß es nicht. Vielleicht war er einsam. Wie ich. Irgendwie hat uns das zusammengeschweißt."
Der Gott des Wassers summte, zog ein Bein an und lehnte den Kopf gegen die rot angestrahlte Steinwand. Sein Lächeln war präsent, aber gedämpft. „Ich will dir in dieser Hinsicht nichts vorschreiben. Ich will nur, dass du vorsichtig bist. Ich weiß nicht, was er ist. Ich weiß nicht, inwieweit er ... der Wahrheit entspricht oder inwieweit er sein Gegenüber oder das, was dieser sehen will, einfach nur spiegelt." Er wandte sich zu ihm. „Verstehst du?"
Munin zuckte in die Höhe, sein Kopf ruckte nach links, sodass er die Hauswand anstarrte. Das unsichtbare Auraband bildete sich aus, straffte sich, zog ihn in die Richtung. Er stolperte aus der Gasse, sein Blick zuckte umher. In dem Moment, in dem er auf eine verhüllte Gestalt fiel, erstarrte diese. Für eine Sekunde. Dann drehte sie sich um und machte sich davon.
„Warte!", rief er ihr zu. „Ich will dir nichts tun!" Fluchend setzte er ihr hinterher. An ihrer Stelle hätte er ihm ebenso nicht geglaubt.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro