Kapitel 1 Teil 1: Fallen
Munin schwebte im Nichts, ein Lächeln auf den Lippen.
Das grüne Nachbild, zwei Irrlichtern gleich, brachte Falten auf seine Stirn, aber nur kurz. Eines von vielen Dingen, an die er sich erinnern sollte. Bedeutungsloser als jemals zuvor.
Es war vorbei. Keine Todesschreie mehr, kein Rot auf dem Boden, nie wieder der Geruch von verbrannten Haaren in der Nase oder der Geschmack von Asche auf der Zunge. Nie wieder Schmerzen, weder physische noch psychische. Nie weder dieser Hunger. Nie wieder diese Last. Nie wieder diese Zerrissenheit.
Eine Sache ließ ihn die Stirn erneut runzeln: Er konnte weiterhin denken.
Und offensichtlich hatte er eine Stirn. Und wenn er so darüber nachdachte, klaffte doch ein Schlund in seinem Magen, der nach Nahrung schrie.
Wind zog an seiner Kleidung, kratzte mit kalten Krallen über sein Gesicht.
Munin riss die Augen auf, blinzelte wiederholt und kniff sie angesichts des Windes zu schmalen Schlitzen zusammen. Speerspitzen, nein, fast gänzlich entlaubte Baumkronen näherten sich in rasanter Geschwindigkeit.
Der überraschte Laut ging im Luftstrom verloren.
Er manipulierte die Brise unter sich, brach durch eine Reihe warmer Luftfelder, die seinen Fall Stück für Stück abbremsten, doch nicht wie geplant stoppten. Dann unterstützten ihn graue Äste bei seinem Unterfangen. Einer traf ihn am Kopf und sorgte für ein paar Sekunden Schwärze. Genug, um seine Konzentration zu stören und ihn die letzten Meter völlig ungebremst fallen zu lassen.
Keuchend blieb er liegen, ballte die Finger um Laub, um sie vom Zittern abzuhalten. Sein Herz hämmerte das Blut durch seinen Körper, sein Kopf dröhnte, aber sonst ging es ihm erstaunlich gut, dafür, dass er gestorben und danach vom Himmel gefallen war.
Das Gelächter drückte sich durch seinen Hals, so lange, bis er befürchtete, an den hysterischen Lauten zu ersticken. Tränen strömten seine Wangen hinab.
Bilder blitzten vor seinem inneren Auge auf. Der junge Champion, der Auserwählte, der ihm getrotzt, der ihn getötet hatte.
„Nein", wisperte er rau, sah hoch zum in Flammen stehenden Himmel, ließ den Blick über das leblose Unterholz und die Baumreihen schweifen. „Nein, nein, nein ..."
Er war am Leben. Wieder. Immer noch. Und der ihm so bekannte Hunger brodelte unter seiner Haut, unnachgiebig, gierig. Und sein Geist ...
„... bitte, Götter, bitte ... nicht ..."
Nein, für den dunklen Champion der Geächteten gab es keine Erlösung, keine Gnade, diese Dinge verdiente er nicht.
Er lachte ein letztes Mal auf, dann brüllte er seinen Schmerz zum Himmel und schlug mit den Fäusten auf den harten Boden, bis es darin pochte, wie in seinem Kopf.
Niemals war der Tod sein Ziel gewesen, aber ein ehrenhaftes Ende in einem Kampf zu finden, nach den ganzen Jahren, erschien ihm zumindest angemessen.
Erst als schwarzer Nebel seine Gedanken zudeckte, bemerkte er einen verhüllten Schatten, der näherglitt. Kurz bäumte sich ein Funken seines Überlebensinstinkts auf, wollte ihn bei Bewusstsein halten, doch wurde mit seiner Ohnmacht jäh erstickt.
Der Schatten hatte ihn offenbar als uninteressant befunden und in Ruhe gelassen, denn er war alleine und unbeschadet erwacht. Das Nickerchen hatte ihn überraschend ruhig und weniger niedergeschlagen zurückgelassen.
Munin wusste nicht, wie lange er schon auf dem Boden lag. Eine Rolle spielte es nicht. Denn der Entschluss, sich niemals wieder wegzubewegen, war gefasst. Was für einen Sinn hätte das? Die vier waren tot. Es war alles zu Ende und dass er lebte, konnte nur ein Scherz der falschen Götter sein.
Probeweise winkelte er seine Gliedmaßen an und ließ sie wieder schlaff auf die Erde fallen. Keine Schmerzen. Er betastete die Stelle seines Brustkorbs, an der ihn die Heldenklinge aufgeschlitzt hatte. Rau von getrockneter Flüssigkeit, aber keine Wunde. Nur sein Hemd wies Risse auf. Dann hob er eine Hand vor sein Gesicht, drehte sie im Dämmerlicht hin und her. Blass, vernarbt und schwielig. Aber keine schwarzen Adern, keine schwarzen Fingerspitzen, keine Klauen. Seine Lider sanken herab und seine Hand bettete sich darauf.
„Munin."
Die Stimme war unwirklich, hätte genauso gut ein Traum oder eine Halluzination sein können.
„Munin."
Blinzelnd öffnete er die Augen. Eine Sem, jung, milchweiß, vertikal geschlitzte Iriden wie Saphire, üppig ausgestattet. Silberne Hirschgeweih-Hörner, auf denen die Funken tanzten. Ava, die selbsternannte Herrin über Blitz und Donner.
„Sieh an", murmelte er, seine Stimme seltsam heiser, ob von nicht gebrauch oder seinem Gebrüll konnte er nicht sagen. „Bist du gekommen, um meine Niederlage zu feiern?"
Ihre Mundwinkel zogen sich nach hinten, verformten ihre Lippen zu etwas Bittererem als einem Lächeln. „Es war deine Entscheidung." Sie wendete den Blick ab. „Ich habe das niemals für dich gewollt. Ich mochte dich wirklich, weißt du? Du warst so ein aufgewecktes Exemplar. Unvorhersehbar. Und am Ende doch so einfach gestrickt." Sie sprach zu den grauen Steinbäumen hinter ihm. Und zu jemandem, der schon längst tot war.
„Deine Worte bedeuten mir nichts", hauchte er. Und doch sehnte sich ein kleiner Teil nach ihrer Umarmung.
„War es das alles wert?" Erst jetzt ließ sie ihren Blick über seine Gestalt gleiten. Ihr Atem stockte.
Für einen Moment schlossen sich Munins Lider wieder. Alles, was er erduldet hatte. Was er getan hatte. Und am Ende hatte sich nichts verändert. Würde es einfach von neuem beginnen? Nein, denn seine Verbündeten waren nicht mehr. Nur noch er war übrig und, bei den Göttern, dazu hatte er keine Kraft mehr. Als er das nächste Mal die Augen öffnete, sah er sich mit ihrem aufmerksamen, suchenden Blick konfrontiert. „Ich weiß es nicht", krächzte er und erwiderte ihr Grimassenlächeln, „aber ich habe das richtige getan, so gut ich konnte."
Ava summte, seufzte und trat näher, beugte sich herunter und thronte klar über ihm. „Ich möchte dir einen Handel vorschlagen."
„Pah!" Ihre Worte brachten ihn zumindest dazu, sich auf die Ellenbogen aufzustützen. Beinahe berührten sich ihre Nasenspitzen. Würde sie den Kopf drehen, ihre Hörner würden ihn aufspießen. „Ich habe kein Interesse an einem Handel mit einer Sem."
Ihre Stimme war ein samtenes Wispern. „Hier sind sechs Auraabdrücke." In seiner Essenz wurden sechs Signaturen gespeichert. Leicht zu entfernen, wenn gewollt. „Finde die dazugehörigen Personen, komme wieder hierher und teile uns ihren Aufenthaltsort mit. Dann holen wir dich hier heraus, geben dir ein nettes zu Hause und ein großes Stück Land. Du kannst dich uns anschließen und als Erwählter der Götter herrschen. Denk darüber nach. Wir haben ein sehr großzügiges Angebot für dich ausgehandelt, der alten Zeiten willen." Sie richtete sich auf, drehte sich um und entfernte sich. „Viel Glück. Das wirst selbst du hier brauchen."
Während er die Zähne zusammenbiss und sich übers Gesicht fuhr, löste sie sich in weißen Nebel auf und die Kuppelbarriere, die sie beide eingeschlossen hatte, mit ihr. Kraftlos rutschte er wieder komplett auf den Boden und starrte empor zum blutroten Himmel.
„Was hast du mit Ava zu schaffen, Neuer?"
Sein Herz machte einen Satz. Die Stimme war ihm nicht bekannt und kam von hinten. Wahrscheinlich hätte er sich nur aufrichten oder zumindest auf den Bauch drehen müssen, um die Frau zu sehen. Dennoch starrte er nur weiter vor sich hin. „So viel, wie Feinde miteinander zu schaffen haben", antwortete er schließlich. „Ich weiß nicht, was sie von mir wollte. Ich weiß noch nicht einmal, warum ich noch am Leben bin."
Ein Geräusch war zu hören, als würde die Frau in kurzen Zügen einatmen, um die Luft nach Spuren eines Geruchs zu überprüfen. „Bist du ein Kanre?"
Er war zu müde, um sich irgendwelche großen Lügen auszudenken und zu tot, um sich daran zu stören. „Meinst du, zu welcher Spezies ich gehöre? Oder willst du wissen, welcher Gruppierung ich mich angeschlossen habe? Ich bin in erster Linie ein Mensch. Aber auf irgendeine verdrehte Art bin ich ein schwächerer Kanre, ja. Sie nannten mich immer einen Kanrere."
Stille. Dann: „Sie? Wer? Ich bin bisher davon ausgegangen, dass man ein Neda sein muss, um sich Kan oder Sem nennen zu können. Hm, aber ja, warum sollte man sie nicht als eine Art Organisation oder ... als Stämme ansehen. Aber was soll ein Kanrere denn sein? Klingt irgendwie dumm." Sie stieß einen erschrockenen Laut aus. „Nichts für ungut."
Seine Schultern zuckten nach oben, schoben dabei ein paar Blätter herum. „Die vier letzten Kan haben meinen Körper verändert und mich ihre Magie gelehrt. Belassen wir es dabei. Bist du eine Sem?"
„Nein." Laub raschelte, Steinchen knirschten, die Schritte stoppten hinter seinem Kopf, dann beugte sich die Frau zu ihm herunter. Ihr herzförmiges Gesicht schwebte so dicht über seinem, dass ihn ihre vielleicht brustlangen weißen Haare streiften. Ihr Grinsen war offen und in ihren Augen blitzte der Tatendrang. „Du bist das schrägste Kerlchen, das mir seit langem untergekommen ist. Komm, ich zeige dir dein neues zu Hause." Sie umrundete ihn und hielt ihm die Hand unter die Nase. Ihr dunkelblauer Frack wies verschlungene schwarze Muster auf, aber das weiße Shirt darunter war schlicht, ebenso die schwarze Hose. „Wenn ich mich vorstellen darf? Jaleia, deine persönliche Reiseführerin."
„Freut –" Sobald er ihre Hand ergriff, wurde er mit Kraft auf die Füße gezogen. Ein Energieblitz suchte sich seinen Weg durch seinen Körper, nicht unangenehm, nur überraschend. Perplex blinzelte er zu der schlaksigen Frau auf, die ihn um einen halben Kopf überragte.
Sie ließ seine Hand nur los, um seine Linke zu ergreifen, an der sie ihn hinter sich herzog, als wüsste sie, dass er sonst wieder zu Boden sinken würde. Ihr Griff war fest, stützend, warm. „Ach, und ... dass du ein Mensch bist oder warst oder was auch immer, solltest du für dich behalten. Etwas anderes als ein Neda zu sein ist hier ... schwierig."
Das Laufen brachte seinen Kreislauf in Schwung, Stück für Stück kam er in der Realität an. Weiterhin überzog die Sonne graue Bäume, Sträucher und gefallene Blätter mit einer orangenen Schicht. Und den Steinboden, der hier und da hervorblitzte. Gepaart mit der Stille und dem moderigen Geruch verursachte ihm der Ort eine Gänsehaut. Ein widernatürlicher, toter Steingarten.
„Du bist der erste Neuankömmling seit langer Zeit", setzte sie ihren Monolog fort. „Glaube ich. Zeit ist seltsam, wenn sich die Umgebung nicht verändert. Aber hey, für Leute, die keinen Regen oder Schnee mögen und die warme Temperaturen bevorzugen ..."
Sie redete weiter, doch ihre Stimme reduzierte sich in seinem Hinterkopf zu warmem Summen, in das man sich fallen lassen konnte.
Immer mehr Sonnenlicht schaffte es bis zum Boden, die Aussicht, dem Wald zu entkommen, spornte ihn an. Ihm fiel erst auf, dass er schneller geworden war, als Jaleia seine Hand losließ.
Er trat aus dem Wald und fand sich am Rand einer Klippe wieder, gegen die Strahlen anblinzelnd. Das mulmige Gefühl verschwand nicht.
Eine große, verwinkelte Stadt wuchs auf einer Insel aus dem Boden, mit einzelnen Speeren dem Himmel entgegen. Altmodisch, so, wie es die Neda mochten. Die Gebäude stachen schwarz wie Kohle vor dem orangeroten Hintergrund hervor, reflektierten aber auch etwas von der Farbe. Sie glommen, genau wie das Gewässer, das die Insel umgab.
Plötzlich schien der Wald gar nicht mehr so uneinladend.
„Was ist das für ein Ort?", wisperte er.
„Myssavor", erwiderte sie.
Munin durchforstete seinen Verstand, wandte sich zu ihr um, da er nicht fündig wurde. „Sollte mir das etwas sagen? Wo liegt es? Sind wir noch in der Nähe von Tau-Lortau?"
Der mitleidige Ausdruck in ihrem Gesicht irritierte ihn.
„Tau-Lortau? Ach, Kleiner, nicht mal annährend."
„Wo –?"
Sie winkte ihn weiter, einen Serpentinenweg hinunter.
Steinchen rutschten unter seinen Sohlen davon und er ruderte mit den Armen, um sein Gleichgewicht nicht zu verlieren. „Kann man sich den Hals brechen, auch wenn man schon tot ist?"
Sie warf einen Blick über die Schulter und schlitterte gekonnt eine steilere Passage hinunter, als wäre der Weg nicht gemeingefährlich. Die Schwalbenschwänze ihres dunkelblauen Frackrocks wogten bei jedem ihrer sicheren Schritte hin und her. „Auch die Knochen eines toten Körpers können brechen, sagt mein Halbbruder immer. Allerdings bist du nicht tot, falls du das meinst." Sie öffnete den Mund, um weiterzusprechen, schüttelte aber dann den Kopf und lächelte zu ihm zurück.
„Das hatte ich befürchtet. Aber ... wo bin ich hier genau gelandet? Und wenn ich schon mal dabei bin: Wie bin ich hier gelandet?"
„Das klären wir, wenn wir dich untergebracht haben", antwortete sie, mit der Hand durch die Luft wedelnd.
Die Bewegung ließ die Fragen in seinen Gedanken wegtreiben.
Es waren nur eine Handvoll enger Schlaufen bis zur Brücke gewesen, dennoch klebte ihm die Kleidung am Körper. Ein Blick nach unten bestätigte, dass er immer noch schwarzes Hemd und schwarze Hosen trug, beides zerschlissen und von Blut und Dreck verkrustet.
Hatte der Berghang im Schatten gelegen, war er auf der Brücke der Hitze schutzlos ausgeliefert. Munin wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht und suchte den roten Himmel nach der Sonne ab. Ohne Erfolg. Die wenigen Lichtstrahlen kamen von überall und nirgendwo.
Er runzelte die Stirn und blinzelte über die Brüstung. Bei genauer Betrachtung war die zähe, schwarze Substanz, die das Licht reflektierte, vielleicht auch gar kein Wasser.
In unregelmäßigen Abständen hingen bunte Tücher am Steingeländer. Die einzigen Farbtupfer in der Umgebung.
Als sie das Eingangstor erreichten, sehnte er sich nach einer Erfrischung, um das trockene Ding in seinem Mund wieder in eine Zunge zu verwandeln. Seufzend stützte er sich am schwarzen Stein ab, nur um die Hand gleich wieder zurückzuziehen. Dort, wo sie die Mauer berührt hatte, war seine Haut gerötet. Dumm von ihm, wenn man bedachte, dass selbst der Boden Hitze abgab wie eine Bratpfanne.
Er hatte viele Orte gesehen, im Laufe seines Lebens, aber dieser erinnerte ihn an nichts, das er kannte. Dass ihn das, alles, nicht beunruhigte, verwunderte ihn.
„Kommst du?", flötete Jaleia.
Und die Zweifel verflogen.
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