
Kapitel 17
Ich sehe mich selbst mit ein wenig Gepäck in der Hand die Straßen entlang laufen. Die für England so typische, dichte Wolkendecke am Himmel hängt mir beinahe im Gesicht, während ich meinem Vergangenheits-Ich, wie so oft schon, auf Schritt und Tritt folge. Ich glaube genau zu wissen, was diese Episode für mich bereithalten wird. Denn mein eigenes Abbild wirkt bereits ebenso grau wie der Himmel über mir.
Das muss eines der Wochenenden sein, wo ich aus Brighton nach Hause gekommen bin, um meiner Mutter Gesellschaft zu leisten. Das war vielleicht zweimal im Monat möglich, da ich neben dem Studium bereits gekellnert und noch in einem Laden ausgeholfen habe, um mich über Wasser zu halten. Zwar hat meine Mutter auch einen Teil der Studiengebühren bezahlt, jedoch habe ich ihr nicht den gesamten Betrag zur Last legen wollen. Ebenso wenig konnte ich sie damals einfach allein in dieser Wohnung lassen, wo es ihr doch sichtlich schlecht ging.
Die Einsamkeit hat ihr noch nie gut getan. Wirklich helfen, habe ich ihr dennoch nicht können, da sie immer wieder gemeint hat, dass alles vollkommen in Ordnung mit ihr sei und ich sie nicht zur Therapie oder dergleichen habe zwingen wollen. Das hat mir einfach nicht zugestanden. Mit jedem Schritt, den mein früheres Ich und ich zusammen gehen, wird mir klarer, um welchen Tag genau es sich handeln muss. Diese Kinder zeigen mir nur die prägendsten Ereignisse, oder eben solche, die symbolisch für eine komplexere Gegebenheit stehen. Und mir fällt wirklich nur ein Vorfall ein, der in dieser Zeit passiert ist und diese doch recht stabile Zeit sofort wieder beendet hat.
Wieder unterdrücke ich den übermächtigen Drang einfach davon zu laufen. Ich will nicht noch einmal diese Traumadusche durchleben müssen. Es ist zu viel. Als mein Ebenbild endlich vor der Wohnung steht und die Türklingel betätigt, weiß ich bereits genau, was passieren wird.
Niemand wird uns öffnen. ‚Ich' werde mich fragen, ob ich mich vielleicht im Stockwerk geirrt habe, was schon einige Male durch meine ewig verpeilte Art passiert ist, und das Klingelschild überprüfen, wo unser Familienname in der ordentlichen Handschrift meiner Mutter geschrieben stehen wird. Dann wird mein Ebenbild noch einmal klingeln und warten, während absolute Stille herrscht, die allmählich Sorge aufsteigen lassen wird. Denn eigentlich hätte meine Mutter längst aufmachen sollen. Sie hat sich an diesem speziellen Tag sogar für meine Ankunft freigenommen.
Daraufhin wird mir der Ersatzschlüssel unter der Fußmatte einfallen, den ich dazu benutzen werde, mir Zutritt zur Wohnung zu verschaffen. Doch diese wird leer sein. Ich werde nach meiner Mutter rufen, doch niemand wird antworten, ebenso wie ich sie in keinem der Zimmer vorfinden werde, die ich sporadisch durchsuche. Mein letzter Ausweg wird das Handy sein, mit dem ich versuche, sie zu erreichen, doch ihres ist wohl aus, denn es gibt kein Durchkommen. Somit werde ich bei bei ihrer Arbeitsstelle anrufen, um zu erfragen, ob sie heute dort gewesen ist. Die nette Frau am Telefon wird jedoch verneinen und mir erklären, dass meine Mutter heute einen freien Tag gehabt hat und deshalb nicht zur Arbeit erschienen ist.
Die Panik wird übermächtig in meinem Inneren werden und die Vorahnung, dass etwas Schreckliches geschehen ist, wird meine Gedanken beherrschen. Während all dies vor meinen Augen noch einmal abläuft, bleibe ich nur vor der Tür stehen und lasse all diese Dinge lieber geistig passieren, als mir all dies noch einmal mit anzusehen. Auf diese Weise fühlt es sich einfacher an.
So gehe ich weiterhin durch, was alles an diesem Tag passiert ist und blende alle Nebensächlichkeiten aus.
Ich habe auf den Küchentisch geblickt und die Todesanzeige meines Vaters, Finnlays Sterbeurkunde und mein Abschlusszeugnis der Sixth Form dort beisammen gefunden. Scheinbar war mein Erzeuger vor einigen Tagen bei einem Autounfall unter Alkoholeinfluss umgekommen. Den Rest habe ich mir kaum noch genauer angesehen, da ich beide Dokumente auswendig kannte. Die Angst um meine Mutter hat mich in diesem Moment beinahe ersticken lassen.
So schnell ich nur konnte, bin ich hinaus gestürmt, da ich meinte, dass sie noch irgendwo in der Nähe sein müsste. Ziellos bin ich umher gerannt, vollkommen kopflos und nicht wissend, was als Nächstes passieren würde. Die Leute auf den Straßen haben mich wohl für einen Verrückten halten müssen, so gehetzt und manisch wie ich gewesen bin. Irgendwann habe ich dann schon von weitem Blaulichter gesehen und Sirenenlärm gehört. Auf gut Glück bin ich in diese Richtung gelaufen, hoffend, dass dies nichts mit meiner Mutter zutun haben würde. All der Trubel hat mich geradewegs zur Dover Priory Station geführt. Überall sind Schaulustige gewesen, ebenso wie Wagen der örtlichen Polizei und der Sanitäter. Gerade kann ich sie wieder vor mir sehen, da ich es mir nicht habe nehmen lassen, meinem jüngeren Abbild wieder zum nächsten Schauplatz zu folgen.
Ein zweites Mal in meinem Leben höre ich beiläufig, dass sich einige der Umstehenden über die zerfetzte Leiche unterhalten, die gerade noch von den Schienen gekratzt worden ist. Sie vermuten einen Selbstmord. Und wieder irritiert mich dieses Stimmengewirr. Bis ich zufällig den Namen meiner Mutter aufschnappe und mich zu dem Polizisten geselle, der eben jenen gerade noch ausgesprochen hat.
»Haben sie die Leiche schon identifizieren können?«, höre ich mich selbst mit zittriger Stimme fragen. Der Beamte mustert mich kritisch, überlegt vermutlich, warum er einem Außenstehenden so vertrauliche Informationen anvertrauen sollte. »Geh nach Hause, Junge.« Doch mein Vergangenheits-Ich rührt sich nicht einen Zentimeter von der Stelle, selbst als sein Gegenüber sich wieder vollkommen desinteressiert von ihm abwendet. »Bitte. Ich muss es wissen. Es ist ein Notfall.«
Dem überraschten Blick des Polizisten nach zu urteilen, scheint er den Sinn meiner Worte nahezu auf Anhieb zu verstehen. »Ja, wir haben sie identifiziert, anhand der Personalien, die wir bei der Leichen gefunden haben. Es handelt sich um eine Frau mittleren Alters namens Mailin Kavanagh. Wir sind uns sicher, dass sie unter selbst herbeigeführten Umständen gestorben ist. Jetzt müssen wir nur noch die Angehörigen über den Vorfall informieren.«
Wie damals fühle ich mich schlagartig taub und so leer, dass ich nicht einmal die vollkommen falsche Aussprache meines und ihres Nachnamens korrigiere. Meine Hoffnung, dass dies alles ein Irrtum ist, ist dahin. »Dann herzlichen Glückwunsch. Das haben sie bereits«, bringt mein jüngeres Ich brüchig hervor, während wieder diese Welle des Schmerzes mich übermannt. Wieder versteht der Beamte sofort und löchert mich mit Fragen. In welchem Verhältnis ich denn zur Verstorbenen gestanden hätte. Ob sie noch mehr Angehörige besitzt. Ob ich mich in psychologische Betreuung begeben möchte. Doch seine Stimme scheint meilenweit entfernt. So habe ich mal wieder meine Universallösung für jede Art von Problem angewendet und sehe mir nun selbst zu, wie ich vollkommen teilnahmslos und unter Schock stehend durch das Meer an Menschen und Blaulichtern und in den Tag hinein wate.
»Wie hat sie das nur tun können?«, wimmert das Leben neben meinem Ohr, als das Bild vor meinen Augen wieder gefriert.
Weiterhin füllt mich die Leere vollkommen aus, sodass ich nicht einmal Mitleid mit diesem leise vor sich hin weinenden Mädchen haben kann. Wie es wohl für sie als Leben sein muss, dauernd Menschen sterben zu sehen? »Sie hat einfach nicht loslassen können«, beginne ich vollkommen nüchtern zu erklären. »Von Finns Tod hat sie sich ebenso wenig erholt wie ich. Dann hat es sie wohl wirklich getroffen, über eine Freundin vom Tod ihres Ehemannes zu hören, den sie vielleicht nach außen hin verabscheut, aber ganz tief im Innern noch immer an ihm gehangen hat. Weil Liebe und Hass so oft Hand in Hand gehen. Und zuletzt hat ihr der kleine Junge mit der lebensgefährlichen Kopfverletzung, von dem ich einige Zeit später gehört habe, ihr sicherlich den Rest gegeben, als er in ihrer Anwesenheit im Krankenhaus verstarb.« Auch wenn diese Worte so gefühllos klingen, tobt in meinem Inneren ein Sturm aus Wut und Trauer. Es ist, als würde ich durch all die Simulationen, in denen ich mich selbst vor mir sehe, dissoziieren.
Ein leises, beinahe frustriertes Seufzen kommt aus der Kehle des Todes. »Dein Leben scheint ja wirklich keine Achterbahn, sondern eine einzige Abwärtsspirale zu sein.« Ich zucke nur mit den Schultern und richte den Blick gen Boden.»Einen Lichtblick hat es zwischendurch schon gegeben«, murmle ich beinahe schon wieder niedergeschlagen, da ich mich nun wieder im Auge des Gefühlsturmes befinde.
»Und der wäre?« Dieser kleine Junge klingt so ungeduldig, als würde ihm die Zeit geradezu ungenutzt durch die Finger gleiten und ihn machtlos zurücklassen. Mein Hals fühlt ich plötzlich so rau an und schmerzt beim Sprechen, als ich ihm antworte. »Meine Exfreundin Mika.«
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