8
Als er an diesem Morgen vom Joggen mit Basco zurückkam, war die Türe nicht mehr abgesperrt und er rollte angestrengt mit den Augen. Einen Moment lang überlegte er, ob er einfach umkehren und warten sollte, dass sie ging, aber dann schüttelte er den Kopf. Er war verschwitzt und musste noch seine Sachen für den Flug packen, er musste in diese Wohnung.
Das Wasserrauschen aus dem Bad verriet ihm, dass sie heute glaubte, besonders schwere Geschütze ausfahren zu müssen. Er nahm sich eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank, während Basco hechelnd zu seiner Schüssel lief. Dann wartete er, den Blick unverwandt auf die Badezimmertüre gerichtet.
Ihm rann immer noch der Schweiß über die Stirn und sein Puls hatte sich noch nicht beruhigt. Er war sich nicht sicher, ob eine Konfrontation mit ihr im Augenblick nicht explosiv enden würde.
Nach einigen Minuten stoppte das Plätschern des Wassers und nach wenigen weiteren Augenblicken schob Dana die Türe zum Badezimmer auf und stand, nur in ein Badetuch eingewickelt und mit einem Handtuch auf dem Kopf, in der Türe.
„Hallo", lächelte sie und Basco lief schwanzwedelnd auf sie zu. Sie atmete erfreut auf. „Basco! Guter Junge! Komm her!" Sie kniete sich auf den Boden und begann mit ihm zu kuscheln, kraulte ihn am Bauch, am Kopf und hinter den Ohren.
Basco brachte gute sechzig Kilo auf die Waage, hatte ein pechschwarzes Fell, das in der Sonne rötlich schimmerte, gewann mit seinem Teddybär-Blick das Herz eines jeden Menschen, und reichte ihm bis zu den Hüften, aber Dana kniete vor dem sitzenden Hund und war mit ihm auf Augenhöhe.
Gelinde gesagt war Basco also ein großer Hund.
„Was willst du hier?", fragte er Dana, als Basco sich beruhigt hatte, der sich immer deutlich mehr freute, sie zu sehen, als Jason es tat.
Sie sah auf. Ihre braunen Augen waren fast so unschuldig wie Bascos. „Basco besuchen."
„Und das ging nicht, ohne meine Dusche zu verwenden?"
„Unsere Dusche."
„Meine Dusche", erwiderte er ruhig. „Du wohnst nicht mehr hier."
„Weil du mich rausgeschmissen hast."
„Weil du mich betrogen hast."
„Weil du nie da warst." Sie stemmte die Hände in die Hüften und stand auf. „Du warst ständig nur unterwegs. Ich hab mich alleine gefühlt."
Ein angestrengtes Seufzen verließ seinen Brustkorb. Er wollte doch nur duschen und sich für die Arbeit fertig machen. „Ich will mit dir nicht schon wieder darüber diskutieren. Nicht jetzt. Zieh dich an und verschwinde. Ich muss in drei Stunden am Flughafen sein."
„Siehst du, deshalb habe ich dich verlassen", murrte sie, wandte eingeschnappt den Blick ab und verschränkte die nackten Arme vor der Brust.
„Ich habe dich verlassen", stellte er müde klar. Es war anstrengend, dasselbe hirnlose Gespräch wieder und wieder durchzukauen. Es war ermüdend, dass sie ständig die Wahrheiten und Tatsachen verdrehte. Es war zermürbend, dass er nie seine Wohnung betreten konnte, ohne sicher zu sein, dass sie nicht da war. „Und jetzt verschwinde."
„Du kannst mir nicht verbieten, bei Basco zu sein."
„Dann nimm ihn mit", sagte er mit Nachdruck.
„Du weißt, dass ich das nicht kann." Sie kam auf ihn zu und blinzelte ein paar Mal mit ihren Puppenwimpern. „Jason, es tut mir leid. Ehrlich."
„Dass du Basco nicht mitnehmen kannst?"
„Dass ich dich betrogen habe." Sie spielte am verschwitzten Kragen seines T-Shirts herum und atmete feierlich auf, bevor sie lächelte. „Ich bin bereit, zu dir zurückzukommen."
Er hob die Augenbrauen. Sie sah ihn so aufgeregt an, dass er nicht glaubte, dass sie einen Scherz gemacht hatte. „Ich aber nicht."
Offenbar nicht die Reaktion, die Dana sich erhofft hatte, denn sie ließ die Hände sinken und zog die Augenbrauen zusammen.
„Wieso musst du nur immer so stur sein?"
Er schloss einen Moment lang die Augen und schüttelte den Kopf. „Ich hab dafür jetzt keinen Nerv, Dana. Geh. Bitte."
Sie legte ihre Arme über seine Schultern und verschränkte die Finger in seinem Nacken und probierte es noch einmal, in dem sie einen verführerischen Blick aufsetzte. „Du sagtest doch drei Stunden, oder nicht? In drei Stunden lässt sich einiges machen."
Vor zwei Jahren hätte er das Handtuch von ihrem Körper gerissen und sie hätten es kaum bis zur Couch geschafft, egal, wie viel Zeit er bis zu seinem Flug hatte.
„Und in drei Sekunden rufe ich die Cops." Er hätte sie auch einfach an den Handgelenken packen, auf den Flur schieben und ihr die Kleidung nachwerfen können, aber das brachte er nicht über sich.
Sie sah ihn kühl an. „Die Cops? Ist das dein Ernst?"
„Wenn du nicht aus meiner Wohnung verschwindest." Und er würde endlich den Schlüsseldienst anrufen und die Schlösser austauschen lassen, aber jedes Mal, wenn er einen Termin bekam, rief die Arbeit und er wollte keinen Bekannten oder Nachbarn fragen, bei diesem wichtigen Termin an seiner Stelle anwesend zu sein. Oder vielleicht war das nur seine kleine Ausrede, weil er es nicht über sich brachte, Dana ganz und gar aus seinem Leben auszusperren.
Sie senkte die Arme. „Wieso kann ich nicht bei Basco bleiben, solange du weg bist? Der Arme ist den ganzen Tag alleine."
„Das mit dem Riesenhund war deine Idee. Mach mir jetzt bloß kein schlechtes Gewissen."
„Woher hätte ich den bitteschön wissen sollen, dass er zu einem Möbeltransportwagen heranwächst?", entgegnete sie und er warf ihr einen mahnenden Blick zu. Sie hob die Hände. „Na gut, na gut, ich gehe ja schon."
Sie verschwand wieder im Badezimmer und er stützte sich an der Arbeitsplatte ab. Sein Blick fiel auf den Herd. Wenigstens hatte sie diesmal nicht gekocht oder den Tisch gedeckt. Er konnte auch nirgends eine Flasche Wein entdecken. Aber er bemerkte, dass die Couchkissen anders lagen und als er einen Blick in sein Zimmer warf bemerkte er, dass seine Bettdecke nicht so glattgestrichen war, wie heute Morgen noch. Das wusste er, weil seine Mom immer so erpicht auf gemachte Betten gewesen war, dass es ihn nun selbst störte, wenn die Decke nicht knitterfrei war oder die Kissen nicht aufgeklopft.
Er strich die Bettdecke wieder glatt.
Wenigstens hatte Dana diesmal nicht herumgeschrien und ihm gesagt, dass es seine Schuld war, dass sie ihn betrogen hatte, und dass es unfair und gemein und manipulativ von ihm war, dass er sie verlassen hatte. Dass er sie dazu getrieben hatte, ihn zu betrügen, nur, um mit ihr Schluss machen zu können. Sie hatte auch nicht auf der Couch gesessen und ihre Lieblingsserie angesehen und sich geweigert zu gehen, weil es gerade so spannend war. Sie hatte auch nicht zu weinen begonnen und gebettelt, dass er sie zurücknahm, weil es ihr so mies ohne ihn ging.
Heute war ein guter Tag und sie zog sich, ohne großen Wiederstand zu leisten, um und kraulte Basco noch einmal.
„Ich vermisse dich", sagte sie und sah auf. „Vermisst du mich auch? Jason, vermisst du mich?"
Sie gab ihm keinen Grund. Sie war immer hier. Jedes Mal, wenn er sie nicht hier haben wollte (was praktisch auf jeden Tag seines Lebens zutraf), war Dana hier. Man konnte jemanden nicht vermissen, der ständig ungebeten in seiner Wohnung auf einen wartete.
„Dana, du und ich, das wird nie, nie wieder passieren. Du hast mich betrogen und ich bin fertig mit dir. Also hör auf." Er wurde nicht laut oder wütend. Er wusste, dass das nichts brachte. Er wusste, dass Dana krank war, so ein Verhalten war einfach nicht normal, und mit kranken Menschen zu streiten oder sie anzubrüllen war völlig zwecklos.
„Aber du vermisst mich."
„Ich werde die Schlösser auswechseln lassen."
„Nein, das wirst du nicht!", rief sie plötzlich mit Tränen der Wut in den Augen und sprang auf.
„Wir sind kein Paar mehr, es ist meine Wohnung und du hast kein Recht, ständig hier zu sein."
„Basco ist mein Hund!"
„Hör auf, ihn als Ausrede zu missbrauchen."
„Du kannst die Schlösser nicht auswechseln, weil... ich... ich..." Sie rang verzweifelt nach einem Grund. „Ich bin schwanger! Ha!"
Er lachte auf. „Wenn, dann sicher nicht von mir." Die Trennung war nun schon fast sieben Monate her und Dana war so schlank wie Eh und Je.
Sie stieß einen frustrierten Seufzer aus. „Was muss ich tun, damit du mir verzeihst?"
Er antwortete nicht, sondern ging auf die Türe zu, hielt sie auf und sah Dana unmissverständlich an.
„Wann kommst du wieder nach Hause?", fragte sie.
„Dana." Er sah sie ernst an. „Geh."
Sie schluchzte auf. „Du hast eine andere, oder? Gib es zu!"
„Ich hab keine andere."
„Dann liebst du mich also noch?", fragte sie hoffnungsvoll.
„Um Himmels Willen, Dana-" Er hatte gedacht, heute wäre einer ihrer guten Tage. Aber er hatte falsch gelegen.
Das letzte Mal, als sie einen solchen Tag gehabt hatte, war sie sechs Stunden geblieben, hatte ihm von ihrem Leben erzählt, vorgeschlagen, dass sie ein Bad zusammen nahmen und für ihn gekocht. Er hatte nichts davon gegessen, weil er paranoide Vorstellungen von K.O.-Tropfen im Essen gehabt hatte und mit ihr über sich aufwachen würde.
Zumindest war das einmal passiert, oder er hatte es zumindest ziemlich lebhaft geträumt, aber diese Erinnerung war so verschwommen, dass er sie nicht als echt wertete.
In dieser Erinnerung hatten sie auf der Couch gesessen, Wein getrunken und geredet (das sprach für einen Traum, denn das hätte er nie getan, nachdem sie getrennt gewesen waren). Das nächste, was er wusste, war, dass er auf der Couch gelegen hatte und aufgewacht war, weil sich ihre warmen Hände auf seiner Brust abgestützt hatten und ihr Körper sich rhythmisch auf seinem bewegt hatte.
„Ich will ein Kind von dir", hatte sie gekeucht und er war wieder weggenickt.
Als er wirklich aufgewacht war, hatte er zwar auf der Couch gelegen, allerdings waren weit und breit keine Weingläser zu sehen und er war komplett angezogen gewesen und nicht in einer Sauerei aufgewacht. Also entweder (und das war die weitaus unwahrscheinlicher Option) hatte Dana ihn dazu überredet, ein Glas Wein mit ihr zu trinken (wobei jegliche Erinnerungen daran verschwunden waren) und hatte etwas ins Glas getan, um mit ihm Sex haben zu können, in der Hoffnung, ein Kind würde sie auf ewig verbinden, hatte dann die Sauerei weggemacht, ihn wieder angezogen, die Gläser gespült, getrocknet und zurück ins Regal gestellt, die Weinflasche mitgenommen und war gegangen, bevor er wieder aufgewacht war oder (die wesentlich wahrscheinlichere Option) er hatte alles wirklich nur geträumt. Er hatte die Nachwirkungen von K.O.-Tropfen am nächsten Tag gegoogelt, aber er hatte weder Übelkeit noch Schwindel oder Kopfschmerzen verspürt, das sprach auch für einen Traum.
Was er nicht weniger beruhigend fand, denn wer träumte schon so kranke Dinge?
„Ich bin nicht mehr wütend auf dich, okay?", erklärte er. „Ich hab dir verziehen, aber ich will nichts mehr mit dir zu tun haben, wann verstehst du das endlich?"
„Wie kannst du das sagen?", weinte sie. „Wie kannst du vier Jahre so einfach wegwerfen?!"
„Du hast sie weggeworfen!" Es war das erste Mal seit langem, dass er in ihrer Gegenwart laut wurde, aber es trug lediglich dazu bei, dass sie noch mehr weinte. „Warum hast du mit jemand anderem geschlafen, wenn du mich so sehr liebst? Warum hast du nicht einfach mit mir darüber geredet, dass du dich alleine fühlst?"
Sie lachte bitter auf und wischte sich die Tränen vom Gesicht. „Ich wette, du hast dich nie alleine gefühlt. Umgeben von wunderschönen Flugbegleiterinnen in ihren engen, blauen Uniformen! Wie viele hast du gevögelt, während du weg warst?" Die Boshaftigkeit in ihrer Stimme wäre zum Lachen gewesen, wenn er nicht so sehr darauf bedacht gewesen wäre, sie nicht zu erwürgen.
Angestrengt rieb er sich das Gesicht. „Keine."
„Ich glaub dir nicht!"
„Das ist dein Problem. Ich muss mich wirklich für den Flug fertig machen, Dana."
„Wo fliegst du hin? Wieso kann ich nicht mitkommen? Es sind bestimmt noch Plätze im Flugzeug frei, ich kaufe mir schnell ein Ticket."
Er stieß einen tiefen Seufzer aus. Er hatte keine Ahnung, wie er aus der Nummer wieder rauskommen sollte. Warum hatte er nicht einfach die Schlösser vor sechs Monaten getauscht, als sie das erste Mal ungebeten hier aufgetaucht war? Ihre Obsession über ihn hatte sich erst herauskristallisiert, nachdem er sie verlassen hatte. Erst ab diesem Zeitpunkt, war sie ihm so dicht auf den Fersen gewesen, wie nie zuvor.
Ihm fiel ein riesiger Stein vom Herzen, als sein Handy auf der Küchenablage vibrierte, schloss die Wohnungstüre wieder, damit Basco nicht hinauslief und nahm den Anruf entgegen.
„Alter, wo bist du?", fragte Andres. „Ich dachte, wir treffen uns zwei Stunden vorher am Flughafen."
„Tut mir leid. Ich wurde aufgehalten."
„Sag nicht, dass Dana wieder bei dir Zuhause ist."
„Doch." Er warf Dana einen Blick zu, aber sie kraulte Basco und schniefte armselig vor sich hin, während sie gleichzeitig mit den Fingern durch ihre nassen, schulterlangen Haare kämmte. Ihm fiel auf, dass sie immer noch das kleine, silberne Engelchen um ihren Hals trug, ein Weihnachtsgeschenk, das er ihr vor drei Jahren gemacht hatte.
„Oh mein Gott." Andres stöhnte auf. „Das kann doch nicht ihr Ernst sein. Soll ich kommen?"
„Bitte."
„Gib mir zwanzig Minuten."
Also wartete er. Fragte Dana, ob sie etwas trinken wollte, aber sie schüttelte den Kopf und kauerte weiter auf dem Boden, während sie versuchte, so armselig und mitleiderregend wie nur möglich auszusehen.
Er musste sich fertig machen, also packte er seinen Koffer. Es war ein kleiner Silberner mit einem ausziehbaren Griff und Rädchen. Dieser Koffer hatte ihn vermutlich mehr Geld gekostet, als die monatliche Miete dieser Wohnung, aber es hatte sich gelohnt. Er hatte ihn seit fast fünf Jahren (zuvor hatte er eine Tragetasche gehabt, aber er hatte oft Kilometer von einem Gate zum anderen laufen müssen, und da war ihm die Tasche zu schwer geworden) und er hatte ihn noch nie hängen lassen. Er hatte die perfekte Größe, um im Flugzeug direkt neben seinen Sitz zu passen, sodass er alles immer Griffbereit hatte. Er war weder zu groß, noch zu klein, ziemlich robust und hatte genügend Platz für alles. Sein Headset (das vermutlich mit dem Preis des Koffers konkurrierte), seine Ohrenstöpsel, seinen Kapselgehörschutz (außerhalb des Flugzeuges konnte es ziemlich laut werden), seine Sonnenbrille, eine hochwertige Taschenlampe, mit der er nachts bis ganz nach oben auf das Flugzeug leuchten konnte (um sich selbst von der Lufttüchtigkeit des Flugzeuges zu überzeugen, bevor er die Papiere unterschrieb, das die Maschine von einem Fachmann kontrolliert worden war -niemals würde er für einen Absturz geradestehen wollen, den er selbst verschuldet hatte, weil er sich nicht selbst kurz von der Funktionstüchtigkeit des Flugzeuges überzeugt hatte), sein Notizbuch, in dem er alle wichtigen Ereignisse und Daten eintrug (unter anderem, wo man auf den diversen Flughäfen den besten Kaffee bekam, in welche Restaurants er auf gar keinen Fall mehr essen gehen würde und weil er altmodisch war und seine Termine immer noch nicht im Kalender auf seinem Handy eintragen wollte, landeten alle privaten Dinge, auf die er nicht vergessen durfte, ebenfalls auf diesen Seiten. Wann seine Familie frei hatte, ob er seine Großeltern zurückrufen musste, Geburtstage, die er nicht vergessen wollte, ob ein Seminar ausstand oder ein Arzttermin), ein Klemmbrett für alle möglichen Unterlagen, die er während des Fluges brauchte (das Crew-Briefing, den Flugplan, ein General-Declaration Formular -eine allgemeine Erklärung-, in der er nicht nur sein Personal auflistete, sondern unter anderem auch Krankheiten an Board aufführte, die sich verbreiten könnten), seine diversen Lizenzen und Ausweise und seinen Reisepass, mit eingetragenem Reisevisum (die er alle in einer Flügelmappe verstaut und deren Kopien in einer Schublade in seinem Schlafzimmer lagen -man wusste nie, ob der Koffer nicht doch verloren gehen würde). Desinfektionstücher hatte er auch stets dabei, weil er den Gedanken widerlich fand, den ganzen Flug über diverse Schalter und Knöpfe zu betätigen, deren Oberflächen so gut wie nie geputzt wurden.
Die nächsten vier Tage hatte er nur Kurzstreckenflüge auf dem Plan. Sie führten ihn durch die komplette USA, also würde sein Jetlag vielleicht nicht ganz so schrecklich sein, und am Ende würde er wieder in New York landen und vier Tage frei haben, in denen er seine Familie besuchen würde. Am Wochenende zuvor hatte es nicht geklappt, aber er hatte seiner Mom fest versprochen, bald vorbei zu kommen.
Er packte gerade die Kleidung ein, die er sich gestern für die Flüge zurecht gelegt hatte, als Andres an der Türe klingelte und Dana aufmachte.
„Was machst du denn hier?", fragte sie ernüchternd.
„Hör auf, dich wie ein Kleinkind zu verhalten, Dana. Du bist doch keine dreizehn", sagte Andres sofort und klang dabei genauso müde wie die letzten paar Male, in denen er sie geholt hatte. Er trug bereits seine tiefblaue Uniform und war bestimmt schon am Flughafen gewesen.
Er kam aus seinem Zimmer und Andres nickte ihm zu. „Hey."
„Hey."
Er hatte Andres gute drei Wochen nicht mehr gesehen, aber heute überlappten sich ihre Flüge so perfekt, dass sie sich auf dem Flughafen treffen und noch ein bisschen hätten reden können, wäre Dana nicht dazwischen gekommen. Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
„Verschwinde, das hat nichts mit dir zu tun", sagte sie.
Andres rieb sich übers Gesicht. „Okay, entweder du gehst von alleine nach Hause, oder ich rufe Mom an und sage ihr, dass du schon wieder hier bist. Dann kannst du dich schon Mal von deiner Freiheit verabschieden."
Eigentlich hatte er damit gerechnet, dass Dana einen riesigen Aufstand machen würde, dass sie Andres vorhalten würde, dass er sie schon von klein auf gehasst und ihre Beziehung mit Jason manipuliert und zerstört hatte. Aber sie ließ lediglich die Schultern hängen, griff nach ihrer Tasche, ging zu Jason und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
„Wir sehen uns, wenn du zurück bist, ja?" In ihren Augen lag eine so hoffnungsvolle, unschuldige Ungewissheit, dass er es nicht über sich brachte, sie darauf hinzuweisen, dass er sie gar nicht hier haben wollte. Sie warf Andres einen letzten bösen Blick zu, bevor sie verschwand. Andres atmete erleichtert auf, sobald sie die Türe geschlossen hatte.
„Tut mir echt leid. Wenn sie ihre Medikamente nicht nimmt, wird sie... seltsam."
„Es ist ja nicht deine Schuld, schon okay." Er winkte ab.
„Nein, ist es nicht. Sie verhält sich total lächerlich. Du solltest einen Antrag auf ein Kontaktverbot stellen. Ich hab Dana lieb, wirklich, aber das geht einfach zu weit."
Er erwiderte nichts darauf. „Ich muss noch duschen. Wartest du zehn Minuten? Dann können wir gemeinsam zum Flughafen fahren?"
Andres nickte und beugte sich endlich zu Basco, der ihn schon die ganze Zeit ansprang und beachtet werden wollte. „Aber sabbere mir nicht auf meinen Anzug", mahnte Andres den Hund, bevor er begann, ihn zu kraulen.
Er stieg schnell unter die Dusche und nahm Danas Parfüm wahr. Diesen süßlichen Geruch, der ihm so vertraut war, dass er gar nicht unangenehm sein konnte.
Er musste über das nachdenken, was Andres gesagt hatte. Ein Kontaktverbot kam ihm so drastisch vor. Klar, Dana überschritt die Grenze hin und wieder mit ihren ständigen Wohnungsbesuchen, aber er hatte sie einmal geliebt. Sie kam nur nicht damit klar, dass es vorbei war.
Sie war noch immer so präsent in seinem Leben, dass er manchmal selbst nicht das Gefühl hatte, dass zwischen ihnen Schluss war.
*
Er erinnerte sich noch genau daran, als er mit sechzehn Jahren das erste Mal in ein Flugzeug gestiegen war, um es zu fliegen. Sein Vater hatte neben ihm gesessen und war für die ersten paar Stunden sein Fluglehrer gewesen, bevor dessen Urlaub vorbei gewesen war und er einen anderen Lehrer bekommen hatte, weil er schon mit sieben Jahren beschlossen hatte, in die Fußstapfen seiner Eltern zu treten. Als Kind hatte er immer Spielzeugflugzeuge geschenkt bekommen. Modelbauten. Puzzle mit Flugzeugmotiven und er hatte jede existierende Maschine dieser Welt mit möglicher Passagierenanzahl und Antrieb benennen können. Mittlerweile hatte er das meiste zwar vergessen und sein Kopf wurde mit den schlimmsten Flugzeugunfällen und Abstürzen der Geschichte belagert, aber auch sein ganzes Regal war gefüllt mit Büchern über Flugzeuge.
Sie hatten ihn immer fasziniert. Diese schweren Maschinen, die so scheinbar mühelos durch die Luft glitten und die so riesen groß waren, aber von einem so kleinen Menschen gesteuert werden konnten. Gut, das meiste übernahm die Automatik, aber er war immer noch ein wichtiger Bestandteil dafür, dass das Flugzeug überhaupt flog.
Er hatte seinen Privat-Pilotenschein gehabt, bevor er jemals hinter dem Steuer eines Autos gesessen hatte. Und anderthalb Jahre nach seinem Schulabschluss hatte er den Pilotenschein für Passagierflugzeuge in der Tasche gehabt.
Das Autofahren bereitete ihm bis heute noch Bauchschmerzen, weil es so hektisch und stressig und gefährlich war, weil man auf andere Autofahrer achten musste, auf Fußgänger, Radfahrer, in engen Gassen musste man das Fahrzeug gefühlvoll zwischen den parkenden Autos hindurchlenken und wenn hinter ihm jemand hupte, nahm er automatisch an, er habe einen Fehler gemacht.
Das Fliegen barg keine dieser Gefahren und es versetzte ihn in Aufregung und Vorfreude. Zumindest, wenn er privat durch die Gegend fliegen konnte. Seine Arbeit machte ihm zwar auch Spaß, aber es war nun einmal Arbeit und mit der Zeit war der anfängliche, überschwellende Enthusiasmus abgeschwollen. Es hatte durchaus schon Tage gegeben, an denen er es bereut hatte, sein Hobby zum Beruf gemacht zu haben, aber an den meisten Tagen genoss er es trotzdem noch genauso, wie am aller ersten Arbeitstag.
Er hatte mehr Angst vor dem Fliegen, wenn er nicht selbst im Cockpit saß und die Kontrolle jemand anderem überlassen musste, als wenn er die Verantwortung für vierhundert und mehr Seelen an Bord trug. Er vertraute sich mehr, als sonst jemandem und dabei fehlte ihm noch ein ganzes Stück an Erfahrung.
Natürlich war sein erstes Flugzeug kein Passagierflugzeug gewesen, sondern eine Cessna 172. Das einmotorige Leichtflugzeug, das weltweit als Übungsflugzeug für die Pilotenausbildung verwendet wird.
Er war so aufgeregt und angespannt gewesen, dass er nicht einmal die Welt unter sich hatte beobachten können. Aber schon bei der dritten Flugstunde hatte er sich deutlich entspannt und an Selbstvertrauen gewonnen. Sein Vater hatte neben ihm gesessen, sein großer Bruder, der selbst mitten in der Pilotenausbildung gesteckt hatte, hatte zusammen mit seiner Mom auf der Rückbank gesessen und das hatte ihm Sicherheit gegeben. Zweieinhalb Piloten in einem Flugzeug, die ihn notfalls hätten instruieren können -es hatte gar nicht schief laufen können. Und nach seiner fünften Flugstunde hatten sein Bruder und seine Mom nicht mehr mitkommen müssen.
Er selbst hatte schon Jahre davor alles über die Cessna 172 gewusst.
Die Flugzeuggeschichten seines Vaters waren seine Gute-Nacht-Geschichten gewesen, er hätte in jedem Fall gewusst, was zu tun gewesen war.
Mit siebzehn Jahren hatte er den Theoriekurs und die Prüfung abgelegt und nach einem weiteren Jahr hatte er die vorgeschriebene Mindestflugstundenzahl erreicht, um ein Pilot für Passagierflugzeuge zu werden. Durch die Kontakte seiner Eltern und seines Onkels war es für ihn leicht gewesen, sofort eine Stelle in einer Fluggesellschaft zu finden und ins Berufsleben mit neunzehn Jahren einzusteigen.
Das war nun knapp sieben Jahre her.
Natürlich gab es Unmengen an Nachteilen, Pilot zu sein, aber er fand, dass die Nachteile mehr als subjektiv waren und es um die Einstellung ging, die man an den Tag legte.
Es machte ihm nichts aus, ständig unterwegs zu sein. Es störte ihn nicht, dass sein Zeitgefühl so verdreht war, oder dass er ständig zwischen Tür und Angel essen musste. Er fand es nicht nervig, auf ein Flugzeug zu warten, wenn es aufgrund von Defekten an der Maschine oder schlechtem Wetter zu Verzögerungen kam. Er nahm sich einfach ein Buch und las oder ging sein Kontaktbuch durch und fragte, ob noch jemand gerade am Flughafen war und zufällig Zeit und Lust hatte, sich kurz auf einen Kaffee zu treffen. Es störte ihn auch nicht, alle Länder, die er bereiste, nur ganz kurz zu sehen und meist nicht erkunden zu können, weil er müde ins Bett fiel und am nächsten Tag wieder fliegen musste. Es war ihm auch egal, dass er oft an Feiertagen arbeiten musste. Er kam mit der Dehydration und den anderen Kulturen in den Ländern, anstrengenden Kollegen und Herausforderungen beim Fliegen halbwegs gut klar. All das waren für ihn nur Nebensächlichkeiten, mit denen er umgehen konnte.
Er freute sich zwar jedes Mal auf zu Hause, aber er zählte auch jedes Mal, sobald er über die Türschwelle trat und Basco auffing, der ihm übermütig in die Arme sprang, die Sekunden zu seinem nächsten Flug. Er wusste nicht, was er ohne das Fliegen tun würde. Er hatte seinen Traumgefunden, seine Leidenschaft und er fürchtete den Tag, an dem er diese Leidenschaft nicht mehr würde ausüben können.
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