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„Wovor hast du Angst?", fragte Lionel. „Du hast doch sicher schon schlimmere Pillen genommen."

Seit drei Minuten starrte sie die Pillen in ihrer Hand an. Dr. Perez hatte ihr zum ersten Mal Lithium verschrieben. Es war eine andere Marke als die Medikamente, die ihre Mom bekommen hatte.

„Ich glaube, dass du mit denen gut zurechtkommen wirst", hatte Dr. Perez gemeint und sie hatte sich gefragt, ob Medikament nicht gleich Medikament war. Dr. Perez hatte ihr Blut abgenommen, das ganze ins Labor geschickt und ihren Lithiumbedarf ausgerechnet. In vier Wochen würde sie ihr noch einmal Blut abnehmen, um festzustellen, ob sie die Dosis anpassen mussten.

Lionel hatte recht. Sie hatte von A-Z wahrscheinlich alle Pillen durch, die es halb legal bis hin zu völlig illegal gab. Aber das hier war etwas anderes.

„Du hast Angst, dass es nicht wirkt, oder?", fragte er und sie nickte. In ihr hatte sich immer noch die Angst festgesetzt, dass sie vielleicht gar nicht an einer bipolaren Störung litt. Dass Dr. Perez sich irrte, ihr kein Medikament der Welt helfen konnte und sie für immer in ihrem Kopf feststecken würde.

„Was ist das Schlimmste, das passieren kann?", fragte er. „Dass es nicht wirkt. Okay. Dann wirkt es nicht und wir suchen nach einer anderen Lösung."

Sie stieß den Atem aus. „Wenn du das sagst, dann klingt es so einfach."

„Ist es ja auch." Er nahm das Glas Wasser von ihrem Schreibtisch und hielt es ihr hin. „Schluck die Pillen, damit wir was Schöneres machen können, als den ganzen Tag drauf zu starren."

Sie nickte, warf sich die Pillen in den Mund und spülte sie mit Wasser hinunter. „Und jetzt?"

„Worauf hast du Lust?"

Am liebsten wäre sie jetzt sprayen gegangen. Es fehlte ihr. Aber sprayen erinnerte sie an Justin und er war das letzte, an das sie jetzt denken wollte. Stattdessen beugte sie sich zu ihm und küsste ihn.

„Hätte ich mir denken können", neckte er grinsend und ließ sich mit ihr auf die Matratze fallen.

Sie küssten sich eine Weile, wobei alles brav oberhalb der Gürtellinie blieb. Trotzdem, oder vielleicht deshalb, glaubte sie nicht, sich in jemandes Gegenwart schon einmal so wohl gefühlt zu haben.

Sie lagen eine Weile nebeneinander und er wickelte sich eine ihrer Haarsträhnen um den Finger. Mittlerweile war der Pony, den sie sich geschnitten hatte und die schwarze Farbe schon ein Stück weit herausgewachsen. Vielleicht würde sie sich eines dieser chemischen Mittel aus dem Drogeriemarkt kaufen, die künstliche Farbe wieder aus den Haaren ziehen konnte.

Julia rief von unten nach ihr und sie rief zurück: „Ja?!", doch Julia antwortete nicht und sie schloss genervt die Augen. „Das macht sie immer!", grummelte sie, bevor sie sich vom Bett kämpfte und Lionel auf ihrem Zimmer zurückließ. Am Küchentisch saß Andrew vor seinen Mathebüchern und Julia saß neben April und fütterte sie. Es war wie immer eine Sauerei und April hatte den dunkelgrünen Spinatbrei vom Kinn bis zu den Wangen im Gesicht kleben. Ihre Finger waren auch voll.

Augenblicklich hoffte sie, dass Julia nicht unerwartet losmusste und wollte, dass sie April zu Ende fütterte.

Julia lächelte. „Nimm dir doch etwas zu trinken. Ich habe heute Vormittag wieder Cola gekauft."

Misstrauisch zog sie die Augenbrauen zusammen und bewegte sich langsam zum Kühlschrank. Sie roch einen Hinterhalt. Als sie sich ein Glas eingoss, fragte Julia: „Wie fühlst du dich heute?"

Jetzt drehte sie sich vollends verwirrt zu ihr. „Hab ich was angestellt?"

Julia schüttelte den Kopf. „Nicht doch. Wann hast du dich das letzte Mal mit Mathe beschäftigt?"

„Mom!", knurrte Andrew und warf Julia einen halb flehenden, halb mahnenden Blick zu. Mit dem vollen Glas in der einen und der Colaflasche in der anderen Hand starrte sie Julia an und überlegte, ob sie nicht doch lieber April gefüttert hätte.

„Ich...äh..." Sie wandte den Blick wieder auf das Glas, stellte es ab und schraubte den Deckel auf die Flasche. „Also, heute passt es mir irgendwie gar nicht..." Sie stellte die Flasche in die Kühlschranktüre zurück.

„Ach", schmunzelte Julia. „Hast du etwas vor?"

„Ja", sie nickte. „Lionel und ich wollten nämlich gerade..." Sie hasste es, dass ihr absolut nichts einfiel, außer das, was sie mit Lionel getan, bevor Julia sie gerufen hatte, und das konnte sie unmöglich aussprechen. „Wir wollten... uns... einen Film ansehen", sagte sie dann. „Bei ihm zu Hause."

„Da fällt mir ein", hörte sie Lionel sagen, drehte sich um und bemerkte, dass er an der Treppe stand und die Hand an die Stirn gelegt hatte. „Aus unserem Filmnachmittag wird heute nichts. Hab meinem Dad versprochen, ihm beim jährlichen Reifenwechsel zu helfen."

Sie blickte ihn fassungslos an. Der Reifenwechsel war genauso erfunden, wie das Film-Date. Das wusste sie, weil sie von Justin gelernt hatte, zu welchen Jahreszeiten man die Reifen eines Autos oder Motorrads wechselte.

Julia sah belustigt zwischen den beiden hin und her, während sie Lionel zu Tode starrte und sich fragte, wie er sie so hintergehen konnte. Er grinste nur und warf einen bedeutungsstarken Blick zur Türe. Sie folgte ihm und während er sich Schuhe und Jacke anzog, zischte sie leise: „Warum?!"

„Warum willst du ihm nicht helfen?", entgegnete er. „Du liebst Mathe."

„Ich kann sowas nicht. Ich helfe anderen Leuten nicht gerne."

„Mir hast du doch auch geholfen."

„Mit dir mach ich auch rum. Ich mag Andrew nicht!"

„Also hättest du mir nicht geholfen, wenn wir nicht rumgemacht hätten?"

„Kapitel sechs: Falsche Umkehrschlüsse", knurrte sie und er grinste. „Solltest du dir vor deiner Prüfung noch mal durchlesen!"

Er gab ihr grinsend einen Kuss auf die Wange. „Viel Spaß!"

„Lionel-" Er hatte die Türe hinter sich zugezogen, noch bevor sie ihm einen Fluch hatte hinterherwerfen können. Ungläubig starrte sie ihm durch das kleine Fenster nach. Er hatte sie einfach allein gelassen.

„Wunderbar", sagte Julia fröhlich, als sie zurück ins Wohnzimmer kam. „Ich gehe nach oben und bade April, und ihr beide lernt Mathe."

Julia hob April aus dem Hochstuhl, lächelte sie noch einmal auffordernd an, warf Andrew einen mahnenden Blick zu und verschwand dann nach oben.

Einen Moment lang waren beide still. Sie stand mitten im Raum und Andrew drehte seinen Kugelschreiber zwischen den Fingern hin und her.

Schließlich drehte sie den Kopf zu ihm. „Ich hoffe du weißt, dass ich meine Zunge lieber in eine Dose voller Nadeln stecken würde, als dir bei deinen Klausuren zu helfen."

„Ich hoffe, du weißt, dass ich lieber meine gesamte Schullaufbahn wiederholen würde, als mir von dir helfen zu lassen."

Sie nickte. „Dann wäre das ja geklärt." Sie griff nach ihrem Colaglas und setzte sich mit angemessenem Abstand neben ihm. „Was musst du können?"

*

Ein paar Tage später hatte sie Lionel doch gestanden, dass sie gerne wieder sprayen gegangen wäre. Dass sie es vermisste, ihre Gefühle auf diese Art auszudrücken.

„Du hast deine Worte, ich hab meine Bilder", hatte sie gesagt und er hatte gefragt, ob sie denn bei sich hatte, was man zum Sprayen benötigte. Sie hatte genickt und er hatte gemeint, dass sie ihren Rucksack packen sollte. Das hatte er ihr kein zweites Mal sagen müssen.

Sie hatte noch kein einziges Mal in Palmer gesprayt. Nie hatte sie gute Stellen gefunden, an denen es unbedenklich gewesen wäre. Aber Lionel, obwohl er schwor, in seinem Leben noch nie etwas Verbotenes getan zu haben, steuerte eine ganz bestimmte Richtung an.

Es war noch nicht dunkel, aber es dämmerte bereits. Es war keine Wolke am Himmel zu sehen und der Tag war warm genug gewesen, dass sie ohne Jacke und nur in einem Pullover das Haus verlassen konnte.

Auf halbem Weg griff er nach ihrer Hand, zog sie näher an sich und ließ sie nicht mehr los, bis sie irgendwo im Nirgendwo hielten und er sich umsah.

„Irgendwo hier ist es, ich bin mir sicher."

Sie sah sich um, sah aber nur weite, kahle Felder und Bäume. „Wir sind ziemlich weit draußen, oder?"

Er sah sie an. „Tut mir leid, wolltest du direkt die Wände neben der Polizeistation besprühen?"

Sie legte den Kopf schräg. „Wie witzig."

Er nickte geradeaus. „Komm mit, ich glaube, wir müssen da nach hinten."

Es war ein Gebilde, das aussah, als hätte jemand eine riesige Plastikröhre in der Hälfte auseinander geschnitten und der Länge nach aufgelegt. Das Konstrukt war aus Blech und bildete eine lange, hohe Unterführung.

„Hier wurden früher Massen an Heizholz gelagert", sagte er und sie reckte den Kopf. Das ganze Ding war bestimmt vier Mal so hoch wie sie.

„Krass. Woher wusstest du, dass hier so ein... na, nennen wir es Mal Gebäude, steht?"

„Mein Dad ist Förster", sagte er, als sei es offensichtlich und ihr fiel auf, dass sie nie gefragt hatte, welchen Beruf seine Eltern ausübten. Sie stellte generell wenige Fragen zu seinem Leben. Irgendwie redeten sie nur über ihr Leben.

Sie wusste auch nicht, warum der Gedanke daran, dass sein Dad Förster war, so befremdlich wirkte. Vielleicht, weil sie eher damit gerechnet hatte, dass seine Eltern Lehrer oder etwas Ähnliches waren.

„Und was macht deine Mom?"

„Volkschullehrerin."

Sie nickte. Als hätte sie es geahnt.

„Entspricht das deinen Ansprüchen?", fragte er und deutete auf die Blechröhre. Sie ließ ihren Rucksack von der Schulter gleiten.

„Das werden wir gleich sehen." Sie kramte in der Tasche, holte die beiden Tücher heraus, die sie sich um Mund und Nase banden und reichte ihm dann eine Spraydose.

„Ich finde, es wird Zeit, dass du auch etwas Verbotenes machst."

Er starrte die Spraydose an. „Was soll ich denn sprayen?"

Sie zuckte mit den Schultern. „Was weiß ich? Dir fällt schon was ein. Spray das, was dir dein Bauchgefühl sagt."

„Mein Bauchgefühl sagt mir, dass ich wahnsinnig verliebt in dich bin."

Sie rollte mit den Augen und schüttelte die Dose. „Alles klar, Romeo. Ich geh weiter nach hinten, bevor mir dein Liebesglück die Stimmung versaut." Selbst unter dem Tuch konnte sie ihn lächeln sehen und musste selbst beinahe grinsen.

Sie suchte sich eine Stelle, die nicht zu verdreckt war und setzte an, ohne nachzudenken. Erst sprayte sie nur Krakeleien, dann ein paar richtige Bilder, aber nichts zu Aufwändiges, denn sie konnte schließlich nicht die ganze Nacht hier bleiben.

Sie betrachtete die dämonische Kreatur, mit ihren Hörnern, der langen spitzen Zunge und dem teuflischen Grinsen. Bald brauchte sie die Taschenlampe ihres Handys. Lionel kam zu ihr und hielt das Handy für sie, bis sie zufrieden mit ihrem kleinen Kunstwerk war. Dann sah sie ihn an. Er hatte den Blick auf das Bild gerichtet. Sein Gesichtsausdruck verriet nichts von dem, was er dachte, aber etwas daran beunruhigte sie. Dass ihre Bilder manchmal erschreckend sein konnten, wusste sie, aber Lionel erschreckte nichts so leicht, also war es etwas anderes.

Sie schüttelte die Dose und das klackende Geräusch hallte an den Wänden wider.

„Willst du immer noch wissen, wie... das mit meinem Bruder war?", fragte er dann. Damit hatte sie nicht gerechnet, aber sie ließ die Spraydose sinken und nickte.

„Die Polizei hat bei uns angeklopft. Meine Mom hat aufgemacht, zwei Polizisten sind zu uns herein gekommen und haben gesagt, dass ein Mädchen mit ihren Eltern auf der Polizeiwache gewesen ist und Anzeige wegen Vergewaltigung gegen meinen Bruder erstellt hat. Meine Mom hat mich nach oben auf mein Zimmer geschickt, aber ich hab trotzdem jedes Wort gehört. Vielleicht hab ich auch gelauscht." Er lehnte sich gegen die Wand. „Es war auf irgendeiner Party, auf der das Mädchen gar nicht hätte sein dürfen, weil es Alkohol gab und sie viel zu jung war. Die Polizisten haben gemeint, dass sie erzählt hat, zu viel getrunken zu haben und dass Charlie angeboten hat, sie nach Hause zu fahren. Aber sie sind in den Keller des Hauses gegangen. Kein gruseliger, schmutziger Keller, sondern ein Keller mit Minibar und kleinem Heimkino. Mit Billardtisch. Sie hat erzählt, dass sie gar nicht hinterfragt hat, warum sie in diesem Keller waren. Sie ist auf die Couch gefallen, eingeschlafen und erst wieder aufgewacht, als mein Buder..." Er senkte den Kopf und begann mit dem Fuß im Dreck herumzuscheren. „Sie hat gesagt, er hat sie danach gezwungen, eine halbe Flasche Jägermeister leer zu trinken, bevor er sie wieder nach oben gebracht hat. Er hat sie nach Hause gefahren und sie aus dem Wagen aussteigen lassen, bevor er weggefahren ist. Sie hat sich im Vorgarten den Finger in den Hals gesteckt und den Alkohol ausgekotzt. Mein Bruder hat alles abgestritten. Wenn ich ihn nicht gekannt hätte, hätte ich jedes Wort geglaubt, das er den Cops gesagt hat. Er ist ein verdammt guter Redner und ein noch besserer Lügner. Er hat behauptet, dass sie mit ihm schlafen wollte, und er abgelehnt hat, weil sie so betrunken und viel zu jung war. Er meinte, er hätte sie bloß nach Hause gefahren und könne nicht glauben, dass sie über seine Abfuhr so wütend war, dass sie bei der Polizei Lügen erzählte. Noch unreifer, als ich dachte, hat er gesagt. Er hat versucht, seinen Arsch zu retten und hat sie eine Lügnerin genannt für die Scheiße, die er verzapft hat."

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr wurde kalt. Jetzt bereute sie es doch, keine Jacke angezogen zu haben.

„Nachdem die Polizisten gegangen sind, haben meine Eltern furchtbar mit Charlie gestritten. Fast eine halbe Stunde lang. Er ist auf sein Zimmer gestürmt und ich bin ihm nachgegangen. Er war mein großer Bruder, ich hab den Kerl verehrt", sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. „Als ich ihn gefragt hab, ob das stimmt, hat er gesagt..." Er brach ab und sie konnte sehen, wie sich seine Kiefermuskeln anspannten. „Er hat gesagt, er dachte, sie würde sich an nichts erinnern können. Es ist doch ekelhaft, mit so jemandem verwandt zu sein. Er hätte sie umbringen können. Mit den Mengen an Alkohol, die er ihr gegeben hat, hätte er sie bestimmt töten können! Und weißt du, was das Schlimmste ist?" Sie sah ihn abwartend an. „Ich glaube nicht einmal, dass sie die Einzige war. Sie war nur die Einzige, die den Mund aufgemacht hat. Vielleicht die Einzige, die sich erinnert hat."

Sie wandte den Blick ab und fixierte, was sie gesprayt hatte.

„Aber weil ihr Wort gegen seines stand..." Er schüttelte den Kopf. „Es ist einfach nur widerlich. Er hat seinen Schulabschluss völlig ohne Konsequenzen machen können und das Mädchen hat unsere Schule verlassen. Wen wunderts? Nach seinem Abschluss ist mein Bruder dann weg gegangen. Hat sogar ein Stipendium in Yale bekommen. Ich hab seitdem nichts mehr von ihm gehört und meine Eltern auch nicht."

Er schwieg und sie nahm das als Zeichen, dass er seine Geschichte beendet hatte, und sie war sich nicht sicher, ob er eine Antwort erwartete. Ihre Brust fühlte sich eng an und sie bereute ein wenig, gefragt zu haben.

„Ist dir kalt?", fragte er, betrachtete ihre angespannte Körperhaltung und zog sich den Pullover über den Kopf. Sie wollte ablehnen, es war zu kalt geworden, als dass er nur mit einem T-Shirt hätte herumlaufen sollen, aber er kam zu ihr und hielt ihr seinen Hoodie über den Kopf, bereit zum Reinschlüpfen.

„Na, komm", sagte er sanft und sie streckte die Arme nach oben und ließ ihn sich über den Kopf ziehen. Er holte ihre Haare hervor, strich ihr über die Wange und küsste sie. Ein Teil von ihr fragte sich, warum er ihr seinen Pulli gegeben hatte, wenn er sie doch gleich ausziehen würde, bevor sie begriff, dass dieser Gedanke vollends abwegig war. Wenn Lionel versuchen würde, in einer dreckigen, kalten Unterführung, high von Spraydämpfen, mit ihr zu schlafen, dann würde sie wohl aufwachen, denn sowas konnte sie nur träumen.

Trotzdem konnte sie nichts gegen diese Gedanken tun. Alles hier erinnerte sie an Justin. Die Dunkelheit, die Kälte, der Geruch von Sprühfarbe, die Küsse.

„Besser?", fragte er und legte seine Arme um sie. Sie nickte und vergrub ihr Gesicht an seinem Hals. Selbst ohne Pullover war er immer noch schön warm und sie schloss für einen Moment die Augen. Genau jetzt hätte sie gerne die Zeit angehalten. Nur für ein paar Minuten.

Es war nichts Besonderes, aber es war alles, was sie wollte.

„Lass uns nach Hause gehen, bevor du krank wirst", sagte sie dann.

Sie packten die Spraydosen und die Tücher zurück in den Rucksack. Als sie gingen, warf sie einen Blick auf das, was Lionel gesprayt hatte. Es waren Blumen, Schmetterlinge und kleine Wölkchen.

Schweigend glitten ihre Finger zwischen seine.

*

„Wie geht es dir heute?"

Es war das erste Mal seit... nun, seit immer, dass sie diese Frage von Dr. Perez, die eigentlich so schlicht war und eine schlichte Antwort verlangte, ehrlich beantworten konnte.

„Gut", sagte sie und musste sogar ein wenig lächeln. „Denke ich."

Dr. Perez sah sie einen Augenblick lang verwundert an, dann lächelte sie ebenfalls. „Das ist schön. Das ist sogar sehr schön. Darf ich fragen, warum du dennoch einen so... unsicheren, misstrauischen Ton in der Stimme hast?"

Sie zuckte mit den Schultern. „Weil... ich mir nicht sicher bin."

„Und wieso nicht?"

„Weil..." Sie stieß den Atem aus. „Ich frage mich nur, ob ich wirklich glücklich bin, oder nur... manisch."

Dr. Perez nickte, als hätte sie nur darauf gewartet, dass sie an den Punkt kam, an dem sie ihren eigenen Gefühlen nicht mehr vertraute. Nicht, dass sie ihren Gefühlen früher sonderlich vertraut hätte, aber jetzt hatte sie einen echten Grund, es nicht zu tun.

Das Lithium würde sie nicht heilen. Es würde nur ihre Episoden eindämmen. Also lag es nahe, dass sie trotz Medikation jederzeit eine Episode bekommen konnte.

„Woher kann ich wissen, ob ich wirklich glücklich, oder wirklich traurig bin?"

„Das kannst du nicht", sagte Dr. Perez schlicht. „Du wirst mit der Zeit lernen, deine Gefühle rational, anstatt intuitiv zu betrachten, auch wenn es sich sehr unnatürlich anfühlen wird. Auch, wenn es dir schwerfallen wird. Für Menschen mit einer bipolaren Störung, ist Liebe nicht immer gleich Liebe, Hass nicht gleich Hass, Freude nicht Freude und Trauer nicht gleich Trauer. Aber mach dir darüber keine Gedanken. Du wirst es lernen."

Sie richtete den Blick auf den grauen Teppich. Liebe nicht gleich Liebe? Sie dachte an Lionel. Es gab nicht viele Menschen, bei denen sie das Gefühl hatte, nicht genug von ihnen zu bekommen -sie war gerne für sich. Aber von ihm konnte sie nicht genug bekommen. Sie freute sich immer, wenn sie einander sehen konnten und war enttäuscht, wenn er gehen musste, oder ihm etwas dazwischenkam.

War das Liebe? Wenn man die Abwesenheit eines Menschen am ganzen Körper spürte? Dieses Gefühl war beängstigend. Dass es ihr ohne ihn nicht so gut ging, wie mit ihm, war grauenvoll. Es machte sie abhängig und das wollte sie auf keinen Fall sein, denn wenn er sie verlassen würde, dann würde sie seine Abwesenheit immerzu spüren müssen.

Sie hatte Ryan verloren. Justin, Ethan und sie würde ganz bestimmt auch Lionel verlieren, es war nur eine Frage der Zeit.

„Du bist so still", bemerkte Dr. Perez. „Worüber denkst du nach?"

Sie sank tiefer in die Couch. „Über nichts..."

Dr. Perez seufzte theatralisch. „Ich dachte, wir hätten das hinter uns." Ihre Mundwinkel zuckten. „Also, du sagst mir, was dich bedrückt und ich versuche dir zu helfen. Die Regeln ändern sich nicht."

Widerwillig gab sie sich einen Ruck und erzählte Dr. Perez davon, dass Lionel nicht nur ein Freund war, sondern ihr Freund. Dass er vielleicht, aber vielleicht auch nicht, der Grund war, warum sie in letzter Zeit recht gut gelaunt war und dass sie Angst hatte, dass ihre Gefühle für ihn nicht echt waren oder er sie verlassen würde, sobald sie ihm zu viel wurde, so, wie sie allen Menschen zu viel wurde.

Dr. Perez hörte ihr zu, ohne sie zu unterbrechen. Es entstanden dabei oft lange Pausen, aber sie redete letztendlich doch immer weiter und Dr. Perez wartete, bis sie alles gesagt hatte.

„Wir können die Gefühle anderer nicht beeinflussen", sagte Dr. Perez dann und sie rollte mit den Augen.

„Das war billig. Dafür zahlt Adam sicher keine hundert Dollar die Stunde."

Dr. Perez zog amüsiert eine Augenbraue hoch. „Na, schön, dann gebe ich dir Mal einen Rat mit, der die hundert Dollar vielleicht wert ist. Du erinnerst dich, dass ich eben meinte, du musst anfangen, deine Gefühle rationaler zu analysieren?" Sie nickte. „Gut. Dann fangen wir doch am besten direkt damit an. Es gibt drei Fragen, die du dir in Bezug auf deine Beziehungen immer stellen kannst und sollst. Völlig frei von deinen Gefühlen. Erstens: Kannst du offen und ehrlich mit ihm kommunizieren?"

„Wird das jetzt eine Paarberatung ohne meinen Freund?"

„Zweitens: Respektiert er deine Grenzen? Fühlst du dich jemals unwohl oder unter Druck gesetzt, wenn du bei ihm bist?"

„Darauf kommt man ohne Psychiater nicht, da gebe ich Ihnen recht."

„Und drittens." Dr. Perez lächelte mild. „Kannst du in seiner Gegenwart du selbst sein?"

Sie schluckte den spitzen Kommentar hinunter, der ihr auf der Zunge lag, und dachte nach. Konnte sie das? War sie in Lionels Gegenwart sie selbst? Konnte sie aufrichtig sein? Sie glaubte, dass sie schon vor langer Zeit verlernt hatte, voll und ganz ehrlich zu sein, denn der einzige Mensch, der das ertragen hatte, war Justin gewesen.

Dr. Perez, die ihr die Bedenken ansah, beugte sich vor. „Es ist klar, dass man einander am Beginn einer Beziehung nicht alles von sich zeigt und auch nicht alles von sich erzählt. Aber denk immer Mal wieder daran. Diese Fragen sind ein guter Leitfaden, um sich die rosarote Brille einmal abzunehmen. Es kann für jeden Menschen wichtig sein, sich ganz rational über den Stand seiner Beziehungen klar zu werden, aber für jemanden wie dich -Personen, die ihren Gefühlen nicht trauen können- ist es unerlässlich."

Sie musste an Hannah denken. Hannah war wie ein Chamäleon und zeigte jedem nur das, was er sehen wollte, und sie fragte sich, ob Jason wusste, wie kaputt sie eigentlich war. Nicht einmal ihr gegenüber schaffte sie es, aufrichtig zu sein, weil sie glaubte, die große Schwester spielen zu müssen. Stark und unkaputtbar.

Hannah war schon vor langer Zeit kaputt gegangen.

„Was, wenn mein wahres Ich niemand ertragen kann?", fragte sie und merkte, wie rau ihre Stimme war. Verlegen räusperte sie sich.

Dr. Perez Gesichtszüge wurden weicher. „Das glaube ich nicht. Vielleicht hast du nur noch nicht die richtigen Menschen gefunden. Aber vertrau mir, wenn ich sage, dass es sich immer lohnen wird, du selbst zu sein. Wer auch immer das sein mag. Die richtigen Leute kommen von ganz allein, wenn du du bist."

Aber was, wenn sie die eine Person, die sie so geliebt hatte, wie sie nun einmal war, für immer verloren hatte? Er war immer für sie da gewesen und bei ihrer letzten Begegnung hatte sie ihn angeschrien, weggeschubst und sogar geschlagen! Sie hatte ihm in die Eier getreten und ihre Faust gegen seine Kehle gerammt! War sie denn völlig übergeschnappt? Er war ihr bester Freund gewesen, verdammt, und vielleicht sogar ein bisschen mehr.

Er hatte sich seither nicht mehr gemeldet und das konnte sie ihm nicht verdenken.

Es war ihre Schuld. Es war immer ihre Schuld.

„Am Ende ist es doch völlig egal", murmelte sie dann. „Jeder verlässt jeden. Warum sollte es hier anders sein?"

„Ich bin mit meinem Mann jetzt dreißig Jahre verheiratet und wir haben einander noch nie verlassen." Dr. Perez drehte mit ihrem Daumen an ihrem Ehering.

„Das ist etwas anderes."

„Warum?"

„Sie sind nicht kaputt."

„Du hältst dich für kaputt?"

„Sind Sie da anderer Meinung? Meine Mom hat ihre erste Ehe in den Sand gesetzt, als ich noch gar nicht geboren war. Dann hat sie sich für eine Flasche Wein und Chicken Nuggets von meinem Vater schwängern lassen. Dann ist Hannahs Dad zurückgekommen, hat es aber keine fünf Jahre ausgehalten, bevor er wieder abgehauen ist. Meine Mom hatte andauernd neue Männer. Und meine Schwester ist genau so wie sie. Sie geiert einem Kerl nach, der ihr Aufmerksamkeit schenkt und geht, bevor er Schluss machen kann. Es wird nicht mehr lange dauern, bis sie eine Ausrede findet, um mit ihrem jetzigen Freund Schluss zu machen. Und wollen Sie wissen, wie viele Kerle die neue Frau von Adam hatte? Julia? Es wundert mich nicht, dass ihr Sohn genauso Beziehungsgestört ist, wie meine Schwester. Die haben doch alle miteinander eine Schraube locker!"

„Du nimmst mir ja meine ganze Arbeit ab", stellte Dr. Perez fest. „Und warum denkst du, bist du beziehungsgestört?"

„Ich sagte, ich bin kaputt, nicht beziehungsgestört."

„Und warum, denkst du, ist das so?"

Sie zuckte wieder mit den Schultern und sah aus dem Fenster. „Wen juckts?"

„Weißt du, Isobel, was uns andere vorleben und was andere erleben, ist nicht zwangsläufig unser eigenes Schicksal, auch wenn es sich oft so anfühlt." Sie warf ihr einen kurzen Blick zu und Dr. Perez zuckte mit den Augenbrauen, bevor sie sich wieder zurücklehnte und ihre Mappe aufschlug. „Denk darüber nach."

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