7
Wenn sie gekonnt hätte, hätte sie sich am Donnerstagnachmittag bestimmt das Herz herausgeschnitten, so wild und unangenehm hämmerte es gegen ihre Brust. Sie stand seit einer knappen Stunde vor dem Kleiderschrank und wusste nicht, was sie zu ihrem Date anziehen sollte. Gestern hatten sie und Drew einander wieder im Bistro getroffen, aber es hatte geregnet, also waren sie nicht auf dem Campus herumspaziert, sondern hatten den letzten freien Platz im Café ergattert, direkt neben dem Fenster. Es war schön warm gewesen, das Licht gedimmt und die dicken Tropfen waren direkt neben ihnen gegen die Scheibe geklatscht.
Drew hatte wieder ihren Kaffee bezahlt und ihre Hände hatten sich beim Verlassen des Bistros gestreift, aber sie hatte sich nicht getraut, danach zu greifen. Heute hatte sie im Café gewartet und gewartet und gewartet, aber er war nicht aufgetaucht. Sie hatte auch mehrmals ihr Handy gecheckt, aber er hatte nicht geschrieben und sie hatte nicht aufdringlich sein und nachfragen wollen.
Erst, als sie im Bus auf dem Weg nach Hause gesessen hatte, war eine Nachricht eingetrudelt, in der er sie gefragt hatte, ob sie heute Abend Lust auf Kino hatte, ohne seinen Verbleib in der Mittagspause zu erklären. Aber sie hatte in der Sekunde, in der sie seine Nachricht geöffnet hatte, eine Aufregung in ihrem Magen verspürt, die so groß war, dass sie alles andere verdrängt hatte. Auch die Tatsache, dass Izzy heute wieder nicht in der Schule gewesen war. Gestern hatte sie ihre kleine Schwester mitschleifen können, aber heute hatte sie Bauchschmerzen wegen ihrer Periode vorgeschoben. Das hatte sie ihr zwar nicht abgekauft, aber sie hatte keine Lust gehabt, Izzy die Decke wegzuziehen, sie am Fuß aus dem Bett zu zerren, ihren Tritten und Schlägen auszuweichen und ihr Geschrei zu erdulden, weil sie partout nicht in die Schule gehen wollte.
Sie konnte Izzy nicht zwingen. Zu gar nichts.
„Schwarze Unterwäsche geht immer", meinte Izzy. Sie hatte zur Abwechslung mal einen guten Tag, vielleicht eben deshalb, weil sie sich am Morgen halb verreckend gestellt hatte und zu Hause geblieben war. Izzy lungerte mit einer Chipstüte auf dem Bett ihrer großen Schwester herum.
„Soweit war ich auch schon", entgegnete sie genervt. Von ihrem Taschengeld hatte sie sich einmal zwei hübsche Unterwäsche-Sets gekauft (einmal in kühlem Blutrot und in schlichtem schwarz), extra für die besonderen Anlässe und sie hegte und pflegte sie, wusch sie nur mit der Hand, hatte immer Säckchen mit frischem Lavendel auf ihnen liegen, damit keine Motten an ihnen knabbern würden und trug sie nur zu ganz besonderen Gelegenheiten, weil sie Angst hatte, sie könnten ausgetragen oder kaputt werden und sie kein Geld hatte, neue zu kaufen.
Ein Mädchen brauchte einfach Unterwäsche, in der es sich sexy fühlte -als sei es tatsächlich etwas Wert- und sie hielt an allem fest, das bei anderen Leuten den Anschein erweckte, dass sie wohlhabend und gepflegt war und keine einzige Sorge in ihrem Leben hatte. Sie wollte nicht als das kleine Problemkind mit der psychisch labilen Mutter sein, sie wollte das Mädchen sein, dem Frauen böse Blicke zuwarfen, wenn es den Raum betrat, weil sich alle Jungs zu ihr umdrehten. Vielleicht war es dumm, zu denken, dass schwarze oder rote Spitzenunterwäsche dafür sorgen würde (schließlich würde die niemand außer ihr und dem Jungen, für den sie sich auszog, sehen), aber es genügte ihr, zu wissen, dass sie sie trug. Es gab ihr ein Gefühl der Selbstsicherheit, das ein Lippenstift um drei Dollar nie geschafft hätte.
Geschminkt hatte sie sich bereits. Ihre Narbe war makellos abgedeckt, die Lidstriche sahen nach drei Versuchen endlich symmetrisch und messerscharf aus und nachdem sie sich eine halbe Stunde einen Eiswürfel an den Pickel auf ihrem Kinn gedrückt hatte, war er ein wenig abgeschwollen und leichter zu überschminken gewesen.
„Was zählt, ist die Unterwäsche. Der Rest ist doch ohnehin unwichtig", bemerkte Izzy. Das Knistern der Chipspackung machte sie irgendwie wütend, weshalb ihre Schwester vermutlich extra oft hineingriff. Heute Nacht würde sie auf Chipskrümel schlafen.
„Ich will nicht overdressed sein."
„Dann nimm dir ein Beispiel an mir." Izzy deutete an sich herunter. Sie trug wieder eine ihrer schwarzen Jogginghosen und einen weiten Pullover und hatte ihre Haare zu einem hohen, unordentlichen Knoten zusammengebunden.
„Dann bin ich underdressed und wir kommen gar nicht zu dem Unterwäsche Part", stellte sie klar.
„Es ist nur ein Date", nuschelte Izzy. „Und das erste. Wenn er dich flachlegen will, ist er eine Hure und tut er es, egal, was du anhast. Er ist doch hetero, oder?"
Sie zog eine schwarze Hose und ein dunkles, eng geschnittenes, langärmliges Top aus ihrem Kleiderschrank und betrachtete beides mit prüfendem Blick, ohne auf den Kommentar ihrer Schwester einzugehen. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Izzy sich aufsetzte.
„Unfassbar." Sie lachte auf. „Du denkst da wird mehr draus?"
Sie hielt sich Hose und Top an den Körper und betrachtete das Bild in der Reflexion der Fensterscheibe.
„Unwahrscheinlich, aber... könnte doch sein", murmelte sie.
„Du bist so naiv!", lachte Izzy höhnisch auf.
„Und du nervig."
„Von mir aus." Izzy zuckte mit den Schultern, rutschte vom Bett und verließ ihr Zimmer.
Sie glaubte nicht, dass mehr daraus werden würde. Sie glaubte nicht, dass jemals irgendetwas Ernstes mit einem Kerl passieren würde, wenn sie ganz ehrlich mit sich war. Es würde niemals funktionieren, dafür hatte sie zu viel Angst davor, dass etwas schief gehen und sie wieder verletzt werden würde. So wie immer.
Aber sie war nun einmal nicht ehrlich zu sich selbst und der unehrliche Teil in ihr wollte daran glauben, dass er Mr. Right war. Dass sie heute einen schönen Abend miteinander verbringen, vielleicht miteinander schlafen würden und eine Beziehung draus entstehen würde.
Und dennoch fragte sie sich zum zehnten Mal an diesem Tag, warum sie diesem Date zugestimmt hatte. Es sägte an ihren Nerven -weit mehr als eine Schulprüfung, auf die konnte man sich schließlich ordentlich vorbereiten. Dates waren schwammige Treffen, bei denen man nie so recht wusste, wie sie Enden und vor allem in welche Richtung sie gehen würden. Aber sie waren anders als normale Treffen, denn sie setzten Erwartungen voraus.
Sie wusste mit Sicherheit, wo diese Erwartungen lagen und war mehr als bereit, diese zu erfüllen, sonst hätte sie vielleicht ihre alte Perioden-Unterwäsche angezogen. Es war auch bei Weitem nicht ihr erstes Date, trotzdem hatte sie das Gefühl, nicht richtig atmen zu können, wenn sie nur daran dachte.
Eine ungute Mischung aus Vorfreude und Nervosität breiteten sich in ihrem Magen und ihrer Brust aus, als sie Drew ein paar Stunden später im Kino vor dem Snackverkauf, inmitten der vielen Menschen, in einem graublauen Hemd stehen, und das Angebot studieren, sah. Sie war alleine hergefahren, weil sie nicht gewollt hatte, dass ein praktisch Fremder sofort wusste, wo sie wohnte, obwohl er angeboten hatte, sie abzuholen, denn sie hatte eineinhalb Stunden zu dem Kino fahren müssen.
Es war ein kleines Kino, mit dunkelblauem Teppichboden, roten Plastikstehtischen und dem typischen Popcorn, Nacho und Colageruch. Draußen war es bereits dunkel.
Sie atmete tief ein, umklammerte die Jacke, die sie ausgezogen hatte, etwas fester und ging selbstsicher auf ihn zu.
„Und? Was hat die Person vor dir bestellt?"
Er drehte sich zu ihr und musterte sie flüchtig, aber so eingehend, dass es ihr einen kurzen Augenblick den Atem verschlug.
„Nachos mit Salsa", grinste er. „Das geht gar nicht, aber ich bin mit dem Angebot überfordert."
Sie kicherte. Nervös spielte sie an einer perfekt geglätteten Haarsträhne herum und wich seinem Blick aus. „Keine Nachos zu mögen ist, als würde man Hundebabys nicht süß finden."
„Ich hasse Hunde", entgegnete er unbeeindruckt. „Ich bin eher der... Schildkrötentyp. Und die würden mich vermutlich schon überfordern."
Sie hatte nicht wirklich bemerkt, dass er seine Hand auf ihren Rücken gelegt hatte, weil es so selbstverständlich schien, aber als es ihr auffiel, spürte sie seine Finger so deutlich über dem dünnen Stoff, dass sie einen wohligen Schauer unterdrücken musste.
„Popcorn?", fragt er.
Bedauernd verzog sie das Gesicht. „Ich mag Popcorn nicht."
Jetzt war es an Drew, sie entgeistert anzusehen. „Okay, du bist ein schreckliches Kinodate, das weiß ich jetzt schon."
„Das darfst du erst behaupten, wenn du mich wieder los bist. Es werden keine voreiligen Schlüsse gezogen."
„Na gut, ich geb dir noch eine Chance", meinte er großzügig.
Sie entschieden sich für eine Packung Chips, Gummibärchen, eine Cola für ihn und einen Eistee für sie.
„Warum sind unsere Plätze so weit vorne?", fragte sie, als Drew sie in dem stickigen Kinosaal in die fünfte Reihe führte. Hinter ihnen waren noch viele Plätze frei und vor ihnen erst recht. Sie war es gewohnt (wenn sie denn ins Kino ging, was selten genug passierte, weil sie es nur tat, wenn sie eingeladen wurde) in der letzten oder vorletzten Reihe zu sitzen. Ihre Plätze lagen genau in der Mitte der Reihe.
„Wenn ich zwanzig Dollar bezahle, um einen Film auf einer riesigen Leinwand zu sehen, dann will ich nicht ein Fernglas mitnehmen."
„Ich glaube eher, du brauchst eine Brille."
„Nein, ich will einfach den Film genießen, als wäre ich selber Teil davon."
Sie setzte sich neben ihn und versuchte zu koordinieren, ob sie zuerst ihre Jacke und die Tasche, oder den Eistee und die Gummibärchen weglegen sollte. „Bekommst du keine Nackenschmerzen?"
„Hast du es schon mal probiert?", fragte er, anstatt ihre Frage zu beantworten und sie schüttelte den Kopf. Bereits bei der Werbung musste sie feststellen, dass er recht hatte. Es war gar nicht schlimm. Es war sogar viel besser.
Schnell hatte sie wirklich das Gefühl, in dem Film zu versinken, mit ihm zu verschmelzen, ein Teil davon zu werden und genoss das Gefühl, alles andere zu vergessen. Drew hatte ihr den Titel des Films nicht verraten und er war auch nicht auf dem Bildschirm erschienen, aber er war wie eine Mischung aus Sherlock und Psycho, also mochte sie ihn.
Eigentlich hatte sie erwartet, dass Drew irgendwann im Laufe des Filmes ihre Hand nehmen würde. Dass er seine Finger zwischen ihre gleiten lassen und es wie eine nebensächliche Sache behandeln würde. Aber ihre kalte Hand blieb unberührt. Dafür spürte sie seine gegen Ende des Filmes plötzlich auf ihrem Knie.
Sie hätte gerne zu den Mädchen gehört, die genug Selbstachtung besaßen, um seine Hand empört wegzustoßen. Die Mädchen, die sich niemals von einem Jungen hätten berühren lassen, ohne auch nur seinen Nachnamen zu kennen, zu wissen, wo er wohnte, und wie seine Eltern drauf waren.
Sie hatte den braven Jungs nie etwas abgewinnen können, vielleicht, weil sie selbst so langweilig war. Sie mochte selbstsichere, ein bisschen gefährliche und freche Jungs. Die, die sich etwas trauten. Die die Initiative ergriffen, weil sie es nicht wagen würde. Sie gehörte nicht zu den Mädchen, die gerne den ersten Schritt taten.
In der Vergangenheit hatte ihre intuitive Männerwahl immer nur in Schwierigkeiten gebracht, aber sie lernte nicht aus ihren Fehlern und das war ihr in diesem Augenblick mal wieder schmerzlich bewusst. Sie wusste, was gut für sie war und dass sie trotzdem immer den falschen Weg einschlug. Es war einfach zu verlockend. Es reizte sie, wieder und wieder zu versuchen, das Böse zum Guten zu wenden, auch, wenn sie damit noch nie Erfolg gehabt hatte.
Anstatt seine Hand also wegzuschieben, die ihren Oberschenkel nach oben wanderte, biss sie sich lediglich auf die Lippen, um das breite Grinsen zu unterdrücken. Sie drückte sich tiefer in den weichen Kinosessel und wusste genau, wie dieser Abend enden würde.
Nach ein paar weiteren Minuten, in denen sie sich nicht auf den Film, sondern nur seine Finger konzentrieren konnte, die auf ihrem Bein auf und ab tanzten und dafür sorgten, dass ihr Puls verrücktspielte, nahm sie entschlossen seine Hand in ihre, um sich wenigstens die letzten Szenen in Ruhe ansehen zu können. Das selbstzufriedene Grinsen, das sie auf seinem Gesicht sah, als sie kurz zu ihm linste, bestätigte ihr, was sie von dieser Nacht erwartet hatte.
Als der Film zu Ende war, bestand er darauf, zu warten, bis der Abspann vorbei war, weil manchmal noch Post-Credit-Szenen gespielt wurden. Und obwohl sie kaum darauf warten konnte, aus dem Kino zu verschwinden (wohin auch immer er mit ihr verschwinden wollte), blieb sie sitzen und ließ sich ihre Ungeduld nicht anmerken.
Drew behielt recht. Der eigentliche Film, hatte kein offenes Ende gehabt, aber die Szene nach dem Abspann gab dem Film einen gemeinen Cliffhanger.
„Ich hasse dich", murrte sie beleidigt und schlürfte die letzten Reste ihres Eistees. „Wehe es gibt keine Fortsetzung." Er lächelte sie verschlagen an, sagte aber nichts dazu.
Immer noch händchenhaltend verließen sie das Kino. Draußen war es mittlerweile so kalt, dass sie wieder ihre Jacke anzog, obwohl Drew meinte, seinen Wagen nicht weit von hier geparkt zu haben. Es war ein blauer, recht großer Jeep mit einer offenen Ladefläche.
„Deiner?", fragte sie überrascht und angetan davon, dass seine Familie sich einen solchen Wagen leisten konnte. Ihre Mom hatte nie einen eigenen Wagen besessen und es ärgerte sie, weil sie ihren Führerschein seit einem halben Jahr hatte und mit keinem Auto übern konnte. Sie hatte Angst, das Fahren wieder zu verlernen.
An einem Abend vor ein paar Wochen hatten sie und Izzy sich auf dem kleinen Laptop, den sie sich für die Schule teilten, ein paar Autos angesehen und darüber debattiert, welches sie sich eines Tages holen würden. Natürlich war es eine Illusion, dass Izzy jemals einen Nissan Skyline r34 und sie einen Porsche Cayenne besitzen würden, aber Izzy hatte einen guten Tag gehabt und war in eine Decke eingekuschelt gewesen, hatte Tee getrunken und sogar gelächelt.
„Leider nein", gab Drew zu, als er ihr die rechte, hintere Wagentüre öffnete und sie auf die Rückbank rutschte. Noch im gleichen Moment fragte sie sich, warum er sie nicht vorne hatte einsteigen lassen, bis ihr auffiel, dass die Rückbank sehr geräumig und bereits ein Stück nach hinten gezogen worden sein musste. Sie grinste in sich hinein, während sie ihre Finger über den schwarzen Stoff gleiten ließ. „Ist der Wagen von meinem Dad." Das Auto roch neu. Von außen sah es auch neu aus; Kratzer oder Steinschläge waren ihr keine aufgefallen.
„Aber das zählt doch trotzdem als Bonuspunkt, oder?", grinste er, immer noch in der Türe zur Rückbank stehend.
„Hey, solange du niemanden überfährst und mich sicher zu Hause ablieferst, hättest du auch mit einem Traktor herkommen können. Oder einem Gabelstapler." Sie schnappte aufgeregt nach Luft. „Oder einem Eiswagen! Das hätte ich sogar ziemlich attraktiv gefunden. Wer braucht schon einen Jeep, wenn er mit drei Kühltruhen voller Eis durch die Stadt fahren kann?"
Er lachte und schwang sich hinters Steuer. „Wie kommst du eigentlich darauf, dass ich dich sofort zu Hause absetze?", fragte er gespielt unschuldig, als er das Auto aus der Parklücke lenkte.
Sie stellte sich unwissend. „Na, wo würden wir denn sonst noch um diese Uhrzeit hinfahren?"
Er verstand natürlich, dass sie die dümmliche Brünette spielte und grinste sie schief im Rückspiegel an, auf dem irgendetwas hing, aber sie konnte nicht erkennen, was es war. Ein Bärchen vielleicht? „Wirst du schon sehen."
„Okay, also, das klingt nach einem Satz, den ein Axtmörder sagen würde."
„Ich bin mehr der Kettensägentyp." Er grinste sie im Rückspiegel an. „Lässt sich leichter handhaben. Und deine Schreie würden unter den lauten Geräuschen verschwinden."
„Wow." Sie nickte anerkennend. „Das nenne ich einen durchdachten Plan."
„Dann sind deine Ansprüche nicht sonderlich hoch."
„Meine Ansprüche darauf, wie ich umgebracht werde?", lachte sie und er stimmte mit ein.
Das Fahrgefühl war fantastisch. So weich und geschmeidig, obwohl die Straße uneben war. Nervös fuhr sie sich durch die Haare. Es war eine gute Nervosität. Die Art von Nervosität, die freudige Aufregung auf das Kommende mit sich bringt. Ihre Gedanken und ihr Herz rasten.
Es war die Art von Nervosität, die sie seit dem Unfall nicht mehr verspürte, außer wenn sie Sex mit Jungs haben konnte, von denen sie tief im Inneren genau wusste, dass es nie zu etwas Anderem kommen würde. Nie zu einer Beziehung, nie zu Liebe, nie zu einem Menschen, den sie ins Herz schließen würde. Nicht, weil sie es nicht gewollt, sondern weil sie es nicht gekonnt hätte.
Hannah hatte Jungs nach jedem Fehlschlag abgeschworen, aber immer nur für ein paar Wochen. Dann hatte sie ihnen wieder sehnsüchtig nachgesehen, hatte sich Getränke spendieren und oft unangebrachte, aber irgendwie schmeichelnde Kommentare über ihren Hintern und ihre Taille und kürzlich erst über ihre Beine gefallen lassen.
Sie glaubte nicht daran, dass sie jemals irgendjemand so lieben würde, wie sie es vielleicht könnte, wenn sie es zuließe. Die Menschen mochten sie eine Zeit lang, aber dann war ihr Interessekessel ausgeschöpft und sie beendete Beziehungen, Bekanntschaften und Freundschaften lieber, bevor es überhaupt soweit kam.
Irgendwann hatten alle die Schnauze voll von ihr.
Sie genoss es, verwöhnt zu werden, solange es anhielt (meist ein paar Monaten, Wochen, Tage oder auch nur eine Nacht), aber sie hatte gelernt, zu gehen, bevor sie verlassen werden konnte. Das ersparte ihr eine Menge Ärger.
Trotzdem erlaubte sie sich jedes Mal, wenn sie mit einem Jungen schlief, sich vorzustellen, dass sie in einer geschlossenen Beziehung lebten und für immer zusammen sein würden. Dass sie sich liebten, eines Tages heiraten und Kinder bekommen würden. Doch sobald sie wieder alleine in ihrem Bett lag und sich der Nebel der Verwirrung lichtete, wurde ihr bewusst, wie naiv sie doch immer noch war, sich an einer solchen Vorstellung festzuhalten und wie traurig und bemitleidenswert ihre Gestalt doch war, weil sie sich all diese Dinge mit Menschen vorstellte, die sie kaum kannte.
Aber ganz loslassen konnte sie ihre Träume nicht.
Und jetzt saß sie wieder einmal auf der Rückbank eines Autos von einem Jungen, den sie seit nicht einmal einer Woche kannte und wieder verlor sie sich in ihrer Traumwelt, in der sie händchenhaltend mit ihm durch Ikea lief und Lampen und Sofakissen auswählten. Sie sah die Blicke der anderen Mädchen, weil sie keinen so attraktiven Freund hatten. Sie sah, wie er ihr Suppe ans Bett brachte, wenn sie krank war und eine Wärmflasche und Schmerzmittel, wenn sie ihre Tage hatte. Wie er mit ihr die komplette Serie Friends zum achten Mal ansah, weil er wusste, wie sehr es sie aufmunterte. Wie er ihr die Taschentücher reichte und sie an sich drückte, wenn sie weinte, weil die Kinder in Afrika hungern mussten und Hachiko für immer und ewig auf sein Herrchen warten würde. Wie er sie mit dem Jeep fahren lassen würde, weil sein Dad entspannt war und er stolz darauf war, seine Freundin hinter dem Steuer zu sehen.
Ein ganzes Leben malte sie sich mit Drew aus. Ein Leben, das sowohl zum Verlieben war, als auch völlig falsche Erwartungen in ihr weckte und ihre Wahrnehmung für kurze Zeit so stark verzerrte, dass sie sich aktiv daran erinnern musste, dass es noch gar nicht so weit war.
Dass es niemals soweit kommen würde.
„Und warum sitze ich hier hinten?", fragte sie.
„Weil man da besser rummachen kann." Seine direkte Art, drückte ihr die Atem aus den Lungen und jagte ihr einen prickelnden, angenehmen Schauer zwischen die Beine.
„Soll ich etwa mit mir alleine rummachen?", entgegnete sie trotzdem so gelassen wie möglich, obwohl ihr das Atmen schwer fiel. Es würde passieren. Hier, in diesem blauen, neuen Jeep, auf dieser neuen, noch kein bisschen durchgesessenen Rückbank mit den weichen Stoffsitzen.
„Nicht so ungeduldig." Wieder ein Grinsen im Rückspiegel.
Sie beschloss, ihren Blick aus dem Fenster zu richten, bevor sie sich sofort die Kleider vom Leib reißen und Drew auf die Rückbank zerren würde. Anhand der Straßenschilder erkannte sie, dass sie sich bereits in der Nähe von ihrer Wohnung befanden, aber sie ging nicht davon aus, dass er das beabsichtigt hatte.
Wie leichtsinnig, in das Auto eines Fremden zu steigen, dachte sie. Aber es war so aufregend! Es war so gewagt und anders als ihr strukturierter Alltag. Der Alltag, den sie liebte, aber dessen Entkommen sich immer wie ein verbotenes Abenteuer anfühlte. Es war, als würde ihr ordentliches Leben für ein paar Stunden pausiert und als würde sie in der Zeit tun und lassen können, was sie wollte, bis sie wieder zurückkehrte. Und bis es so weit war, wollte sie weiter in einem Traum schweben.
Sie bogen durch einige Straßen, die sie kannte und fuhren dann über einige riesige Brücke, auf der sie bisher jetzt nur mit dem Bus gefahren war.
Als er auf der anderen Seite die Geschwindigkeit drosselte und den Wagen im Schatten einer Allee parkte und den Motor ausstellte, war er bereits ihr Ehemann und Vater ihrer drei Kinder.
Die Lichter erloschen, er stieg aus dem Wagen und sie nutzte die wenigen Sekunden, um einmal tief durch zu atmen. Er öffnete die Türe zur Rückbank, lehnte sich hinein und sah sie an.
„Ist jetzt der Moment, in dem du mich aus dem Wagen zerrst, strangulierst und meine Leiche in den Fluss wirfst?", fragte sie spaßeshalber.
„Wenn du dir das erhofft hast, muss ich dich leider enttäuschen." Er schwang sich hinein und zog die Wagentüre wieder zu. Sie hatte sich längst abgeschnallt. Halb nervös, halb aufgeregt wartete sie darauf, was Drew tun würde.
Aber er saß nur neben ihr und musterte sie mit einem Lächeln, das sie in der Dunkelheit nur erahnen konnte. Einen Ellenbogen auf die Rückenlehne gestützt, strich er ihr sie Haare aus dem Gesicht und streichelte ihre Wange.
„Und was hast du jetzt vor?", fragte sie irgendwann, fast schon belustigt.
„Was hast du denn vor?", fragte er zurück.
„Gegenfragen gelten nicht", erinnerte sie lächelnd. In seinen Augen spiegelte sich ein spielerischer Ausdruck. Dann beugte er sich zu ihr, umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen und küsste sie. So unmissverständlich war sie selten geküsst worden.
Sie konnte sich nicht recht erinnern, wie sie so schnell unter ihm gelandet war, keine Hose und kein T-Shirt mehr anhatte, ihre Beine um seine Hüften geschlungen hatte und die zarte Haut an seinem Hals küsste, während seine Hände ihre Taille umfassten. Es war stockdunkel, aber es war warm und der Wagen roch nach Drew. Die Sitze waren so schon breit und weich, der Stoff kratzte kein bisschen und die Gurte störten auch nicht. Sie hatte Autosex bisher immer als unangenehm empfunden, aber nicht dieses Mal.
In der Dunkelheit war es noch viel leichter, als erhofft, sich den Vorstellungen hinzugeben, er wäre wirklich ihr Freund, sie hätten wirklich ein Leben zusammen und eine gemeinsame Zukunft. Sie hätten sich nachts rausgeschlichen, um ungestört zusammen sein zu können, weil sie weder seine Eltern noch Izzy hatten wecken wollen.
Seine rauen Hände streiften über ihren Körper und beanspruchten jeden Zentimeter. Ihre Finger gruben sich in seine weichen Haare. Seine Lippen glitten gierig über ihre Wange, ihren Hals, ihre Schlüsselbeine, die Schultern und ihr Dekolletee. Während ihr Atem nur stoßweise ihren Körper verließ, konnte sie ein Stöhnen kaum unterdrücken, als er sich gegen sie drückte.
Sie küssten einander so innig, dass sie schon beinahe dachte, es wäre wirklich Liebe, die zwischen ihnen knisterte, nicht nur banale und reine Lust.
Die Haut an seinem Rücken war glatt und straff und sie spürte seine trainierten Arme und die steinharte Brust. Sie presste ihr Gesicht in seine Halsbeuge, atmete seinen Geruch ein und gab einen Laut von sich, der weder Seufzen noch Stöhnen war.
Irgendwann löste Drew sich schweratmend von ihr, aber nur so weit, dass sie immer noch deutlich spüren konnte, wie hart er war. „Ist das für dich okay?"
„Ist es denn für dich okay?"
„Keine Gegenfragen."
„Es ist nicht mein erstes Mal, falls dir das Sorgen bereitet." Ihre Finger verschränkten sich in seinem Nacken, als sie sich hochzog und seine Finger den Weg zum Verschluss ihres BHs fanden. Außerdem fand sie, dass es zu spät für Rückzieher war.
„Ich hab nichts dagegen", flüsterte sie und saugte sich abermals entschlossen an seinem Hals fest, bevor der BH irgendwo im Fußraum landete und seine Lippen auf ihren Brüsten.
Sie genoss die Begierde, die sie in jedem seiner Blicke, seiner Geräusche und seiner Berührungen spüren konnte. Er hätte nie mit ihr geschlafen, wenn er sie nicht begehrenswert gefunden hätte, oder? Attraktiv. Heiß. Sexy. Das hieß, er fand sie auch mit Narbe und kleinen Brüsten hübsch, oder vielleicht war das einfach kein Hinderungsgrund für Sex mit ihr. Vielleicht akzeptierte er ihre Mängel und sie akzeptierte, dass er sich niemals mit ihr zufrieden geben würde, außer für diese eine Nacht.
Sie war gegen ein Uhr nachts wieder zu Hause. Drew hatte sie vor ihrer Türe abgesetzt und zum Abschied lediglich hinter heruntergelassenem Fenster angegrinst, bevor er wieder aus der Ausfahrt gefahren war.
Sie hatte zwar nicht gewollt, dass er ihre Adresse kannte, aber dann war ihr eingefallen, dass sie ab morgen ohnehin auf ungewisse Zeit wo anders wohnen würde.
Betrunken vor Glückseligkeit, den Nachwirkungen des Sex und der Traumwelt, in der sie gerade von ihrem Freund nach Hause gefahren worden war, schwebte sie nahezu die Treppen nach oben. Doch ihre Euphorieblase zerplatzte, sobald sie die Wohnung betrat, einen Blick in Izzys Zimmer warf und bemerkte, dass ihre Schwester nicht zu Hause war.
Natürlich war sie das nicht.
*
Am nächsten Tag nach der Schule kam Adam wie besprochen vorbei. Er hatte sie angerufen, als er auf dem Weg nach Anchorage gewesen war und jetzt ging sie aufgeregt im Wohnzimmer auf und ab. Ihr war übel und sie glaubte, zu hyperventilieren. Ihre Handflächen waren schweißnass und es war, als hätte jemand ein feuchtes Tuch ihren Rachen hinunter bis in ihre Lungen gedrückt, so schwer fiel ihr das Atmen. Sie war nervöser als bei ihrem Date gestern.
Izzy lag auf der Couch, hatte ihre Beanie auf dem Kopf und die Kapuze drüber gestülpt, ihre Kopfhörer auf und ignorierte die aufkeimende Panik ihrer Schwester gekonnt. Sie war sich nicht sicher, ob Izzy heute in der Schule gewesen war, denn sie war früher losgefahren, weil Izzy verschlafen hatte und sie nicht hatte zu spät kommen wollen.
Ab nächster Woche würde Adam sie bestimmt jeden Tag zur Schule bringen, da konnte Izzy schlecht schwänzen.
Als es nach einer gefühlten Ewigkeit unten an der Haustür klingelte, machte ihr Herz einen Satz und sie sprang zur Gegensprechanlage, um Adam aufzumachen. Sie hörte, wie unten die Türe aufging und ihre Atmung beschleunigte sich noch etwas mehr. Sie hatte ihn seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Nicht einmal, als das Jugendamt beschlossen hatte, dass sie und Izzy zu ihm ziehen würden.
Als es an der Türe klopfte, glaubte sie, ohnmächtig zu werden, und sie riss sie so eilig auf, dass sie beinahe nach hinten gestolpert wäre. Aber sie schaffte es nicht, Adam anzusehen, nicht einmal eine Sekunde lang.
„Hallo", brachte sie lediglich hervor und nach kurzem, irritiertem Zögern grüßte auch Adam sie. Seine Stimme war tiefer, als sie sie in Erinnerung hatte, aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein. Er betrat die Wohnung und sie wollte den Blick nicht sehen, mit dem er sich flüchtig umsah, aber als sie zu Izzy sah, erkannte sie, dass ihre Schwester ihn unverwandt mürrisch anstarrte.
„Hallo, Isobel", sagte er freundlich und schenkte ihr ein sanftes Lächeln, das Izzy natürlich nicht erwiderte. Dann deutete er auf die sechs Kartons, die feinsäuberlich nebeneinander standen und die Aufschriften Hannah und Izzy hatte und Untersaufschriften, wie Kleidung, Schulsachen, Kosmetika, Bücher und Diverses. Hannah hatte alles so feinsäuberlich zusammengepackt; Izzy hätte ihre Sachen nur in einen Karton geworfen, wenn sie gekonnt hätte.
„Ja, das sind unsere Sachen. Der Rest bleibt hier. Alles andere gehört eigentlich Onkel Rob." Sie merkte, wie Adam nickte und dass ihre Worte zu schnell aus ihr hervorsprudelten.
„Okay, dann tragen wir die Kisten mal nach unten." Als er sich nach einem Karton bückte, traute sie sich, ihn kurz zu mustern, weil er sie nicht ansah.
Er musste direkt aus dem Büro hergefahren sein, denn er trug Anzugshosen, Hemd und Krawatte. Einen teuren Anzug und eine dunkelblaue Krawatte, die bestimmt aus Seide war, so hübsch glänzte sie. Er hatte braune Locken (und sie fragte sich abermals, ob sie ihre nervigen Kringel von ihm geerbt hat) und einen Dreitagebart und als er den Blick hob, wandte sie ihn schnell wieder ab.
„Passen sie denn alle in den Wagen?", fragte sie, bemüht um einen lockeren Ton, obwohl sie merkte, dass sie schon wieder mit dem rechten Zeigefinger an der Nagelhaut ihres Daumens herumschabte.
„Aber ja." Er stapelte zwei Kartons aufeinander und trug sie nach draußen. Als sie hörte, wie die Treppen nach unten ging und die Haustüre unten wieder zufiel, atmete sie auf und drehte sich zu Izzy.
„Komm schon, helfen wir tragen."
Izzy seufzte, zog sich aber die Kopfhörer runter und stemmte sich von der Couch.
„Denkst du, er ist ein Snob?", fragte sie unverblümt. „Er sieht aus wie ein Snob. Er sieht aus wie ein Snob und wir sehen aus wie die Hausecken an die die Köter immer pissen."
„Ich weiß." Sie hob die Kiste mit der Aufschrift Hannah-Diverses hoch.
„Er ist bestimmt ein widerlicher, selbstgefälliger, arroganter, desinteressierter Snob."
„Wir werden es bald herausfinden."
Izzy und sie trugen jeweils eine Kiste und Adam holte die letzten beiden. Sie sperrte die Wohnungstüre ab und schrieb Onkel Rob, dass sie die Wohnung verlassen hatten. Er antwortete nicht.
Erst als alle Kisten auf der offenen Ladefläche gestapelt und mit einem breiten Gurt festgezurrt waren, fiel ihr auf, dass sein Wagen ein blauer Jeep war und zum zweiten Mal an diesem Tag blieb ihr das Herz stehen.
Nein, dachte sie. Niemals. Wie hoch waren die Chancen?
Aber sie konnte nicht ignorieren, dass sich die Sitze des Wagens genauso weich anfühlten, wie die von gestern Abend es getan hatten. Und dass das Wageninnere genauso roch. Und das Auto genau so neu aussah. Und auf dem Rückspiegel eine kleine Stofffigur baumelte- ein kleiner, violetter Affe mit großen Ohren, wie sie nun erkannte.
Zufall, dachte sie zuversichtlich. Reiner Zufall. Niemals hatte sie mit Adams Stiefsohn geschlafen. Das konnte einfach nicht passiert sein. Es musste noch einen anderen Vater in Palmer geben, der einen Sohn hatte und einen neuen, blauen Jeep fuhr an dessen Rückspiegel ein kleines Plüschtier baumelte.
Aber sie war sich doch nicht sicher genug, um Adam zu fragen, wie sein Sohn hieß, denn diese böse Überraschung hätte sie nicht ertragen.
Sie und Izzy saßen beide auf der Rückbank und während Izzy sich unverwandt wieder die Kopfhörer aufsetzte und desinteressiert ein Buch aus ihrem Rucksack zog, saß sie nur stumm schräg hinter Adam und konnte es nicht lassen, ihm ab und zu einen flüchtigen Blick zuzuwerfen.
Sie konnte sich nicht wirklich daran erinnern, wann sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Es war auf jeden Fall über zehn Jahre her und über die Zeit hatten sie so minimalen Kontakt zueinander gehabt, dass es schon gar nicht mehr zählte. Vielleicht war sie fünf gewesen. Vielleicht schon sechs.
Ihre Mom hatte nie viel über Adam geredet, deshalb wusste sie auch nicht genau, was der Scheidungsgrund der beiden gewesen war. Sie wusste, dass sie sich schon einmal getrennt hatten, kurz nach ihrem ersten Geburtstag. In dieser Zeit war ihre Mom mit Izzy schwanger geworden. Nach der Geburt ihrer Schwester war Adam zurückgekommen und hatte einige Jahre bei ihnen gelebt, aber sie hatte keine aufregenden Erinnerungen an ihn. Sie wusste nur Bruchstücke, die ihr Gehirn genauso gut erfunden haben könnte, um die Abwesenheit ihres Vaters auszugleichen. Um seinen Verbleib weniger schmerzhaft zu machen.
Er hatte ihr abends manchmal vorgelesen. Wenn er von der Arbeit nach Hause gekommen war, war sie zur Türe gelaufen, hatte sich in seine Arme geworfen und er hatte sie lachend hochgehoben. Seine Jacke hatte nach Leder und Schnee gerochen. Sie erinnerte sich daran, wie sie das erste Mal mit ihm das Eis betreten hatte, ausgerutscht und in ihrem dicken, pinken Skianzug auf den Hintern gefallen war.
Sie wusste außerdem, dass sie noch immer denselben Nachnamen hatte, wie Adam: Preston. Izzy hingegen hatte den Nachnamen ihrer Mutter. Rhoden.
Ihre Mom und Adam hatten nach der Scheidung das gemeinsame Sorgerecht gehabt, aber sie hatte ihn trotzdem nie wieder gesehen. Er musste wohl Unterhalt gezahlt haben, sonst hätte sie bestimmt nichts zum Anziehen gehabt und wer hätte ihr den Eislaufunterricht gezahlt, wenn nicht er? Aber sie hätte es unpassend gefunden, Adam danach zu fragen, wofür er in den letzten Jahren gezahlt hatte. Hatte er einen Teil ihrer Operation bezahlt? Wusste er überhaupt davon? Hatte er für ihre Zahnspange gezahlt? Für ihre Eislaufschuhe? Ihre Schulsachen? Ihr Abendessen?
Sie wusste auch nicht, ob er jemals das Sorgerecht für Izzy gehabt hatte. Ob ihre Mom ihn dazu hatte bringen können, um etwas mehr Geld zu bekommen. Ob Adam sie wohl überhaupt als seine Tochter ansah? Sie und Izzy? Er war nach Izzys Geburt eine Weile bei ihnen geblieben. Hatte er sie gemocht? Ob er jemals auch nur einen Cent für Izzy ausgegeben hatte? Er war immerhin einverstanden gewesen, sie ebenfalls bei sich aufzunehmen. Ob das jedoch schlechtem Gewissen oder einer guten Moral zuzuschreiben war, wollte sie nicht hinterfragen.
„Ich hoffe, dass es euch gefallen wird", sagte Adam und riss sie aus ihren Gedanken. Er warf ihr einen flüchtigen Blick im Rückspiegel zu und sie wandte sofort das Gesicht zum Fenster.
„Bestimmt." Ihr Lächeln war so verkrampft, dass sie es wieder sein ließ.
„Eure Zimmer liegen gegenüber voneinander. Eines ist das Gästezimmer, das andere wird später einmal April gehören, wir wollten es renovieren."
April? Hatte er nicht nur einen Stiefsohn, sondern auch eine Stieftochter, von der sie noch nichts wusste?
„Gästezimmer?", hakte sie stattdessen nach und klammerte sich mit dem Blick an dem roten Ford fest, der neben ihnen fuhr und das mit dem Tempohalten nicht so recht raushatte. Mal war der Wagen viel schneller als sie, dann wieder viel langsamer. „Wie groß ist die Wohnung denn?"
„Es ist ein Haus."
„Oh." Sie wusste nicht, was sie sonst darauf sagen sollte. Sie schämte sich nur ein bisschen für die Wohnung, aus der er sie eben abgeholt hatte. Die kleine, stinkende, hässliche, alte Wohnung. Was er darüber wohl dachte?
„Wie gefällt dir die Schule?" Er war bemüht darum, ein Gespräch aufzubauen, aber sie hatte schlagartig vergessen, wie man so etwas machte. Dabei war Small-Talk eigentlich immer etwas gewesen, das ihr unfassbar leicht gefallen war. Interesse zu Heucheln war nicht schwer, aber mit Adam eine Unterhaltung zu führen schien ihr schier unmöglich. Seine Stimme war so vertraut; es war etwas unterbewusstes, eine Erinnerung, dass sie sich bei ihm immer wohl gefühlt hatte, obwohl sie diesen Mann nicht kannte und das machte ihr Angst.
„Ganz gut." Sie wusste nicht, was sie sonst sagen sollte. Drew erzählte sie von ihren Fächern oder ihren Hausaufgaben oder ihren Mitschülern, aber sie hatte nicht das Gefühl, dass es Adam wirklich interessierte und sie wollte ihn nicht langweilen oder niederreden. Sie wollte unkompliziert sein, wenn sie schon wie ein Parasit mit ihrer Schwester in sein Leben eindrang. In sein Haus. In seine neue Familie. Er hatte bestimmt nicht darum gebeten.
Wieder warf er einen Blick in den Rückspiegel, aber diesmal auf Izzy.
„Sie redet nicht viel, oder?"
„Nicht mit Fremden, nein." Sie schüttelte den Kopf und erst einige Sekunden später fiel ihr auf, was sie da gerade gesagt hatte und biss sich beschämt auf die Zunge. Doch dann fand sie recht schnell, dass es doch stimmte. Adam war ein Fremder und ihre Schwester war noch viel weniger begeistert davon, dass sie bei ihm einziehen würden. Zumindest glaubte sie das; Izzy redete nicht viel über ihre Gefühle. Zumindest nicht mit ihr. Machte sie das auch zu einer Fremden für ihre Schwester?
Es hatte eine Zeit gegeben, in der war Izzy nach der Schule immer zuerst zu ihr gelaufen und hatte ihr aufgeregt erzählt, was sie gelernt hatte, was sie schon alles konnte, und während sie für ihre Schwester ein Fertiggericht in die Mikrowelle geschoben oder eine Dose Spaghettisauce aufgewärmt und die Nudeln abgegossen hatte, hatte Izzy die Hausaufgaben auf dem Küchentisch gemacht und laut vor sich hingerechnet.
„Fünf mal fünf ist fünfundzwanzig. Sieben mal acht ist sechsundfünfzig. Vier mal neun ist sechsunddreißig."
Sie war immer schon gut in Mathe gewesen, aber irgendwann hatte sie dieses Fach, wie alle anderen so stark schlauchen lassen, dass sie von Glück reden konnte, an der neuen Schule überhaupt aufgenommen worden zu sein. Oft hatte Hannah Izzy gefragt, warum sie so sehr mit ihrer Zukunft spielte. Warum sie sich einen Dreck um ihr Leben scherte, so oft schwänzte und nicht mehr lernte. Warum sie immer so wütend war. Warum sie ständig so still und verschlossen war.
Izzy hatte ihrer Schwester darauf nie eine richtige Antwort gegeben. Nur einmal, sie wusste es noch, als sei es gestern gewesen, hatte Izzy auf ihrem Bett gesessen, die Knie angezogen, die Arme um die Beine geschlungen, und stumm geweint, als sie hereingekommen war. Sie hatte gefragt, was los war. Izzy hatte geantwortet, dass sie es langsam nicht mehr ertragen konnte. Und als sie nachgefragt hatte, was genau Izzy damit meinte, hatte sie nur geantwortet: „Irgendwie alles."
Sie hatte nicht gewusst, wovon Izzy gesprochen hatte. Von ihrer Mom, der Schule oder vielleicht hatte Justin Mist gebaut. Beide hatten sich unter der Decke zusammengekuschelt und waren irgendwann eingeschlafen. Als sie gegen zwei Uhr nachts wieder aufgewacht war, war Izzy verschwunden. Sie war schon wieder weggelaufen und erst zwei Tage später zurückgekommen. Sie wusste auch nicht, was Izzy in dieser Zeit getrieben hatte. Wo sie gewesen war und mit wem sie sich aufgehalten hatte.
Nie wieder hatten sie darüber gesprochen, was Izzy an diesem Abend gesagt hatte, aber sie hatte diese Zeit nur zu gut in Erinnerung. Die Tage, in denen Izzy weg gewesen war. Sie hatte gedacht, ihre Schwester würde nie wieder kommen. Sei endgültig davon gelaufen mit Justin und Cassy und Riley.
Sie hatte nie wieder eine vergleichbare Angst gespürt.
„Hannah...", begann Adam, sagte aber nichts weiter und sie tat, als hätte sie es gar nicht gehört.
*
Das Haus war riesig. Natürlich nicht so riesig, dass es zu groß für eine vierköpfige Familie war und sie ging davon aus, dass es zu sechst auf Dauer etwas eng werden würde, aber es war definitiv das größte Haus, das sie selbst je bewohnt haben würde. Dabei war es nichts Besonderes. Es war keiner dieser modernen Klötze, mit riesiger Gartenanlage, Pool und hübscher Auffahrt. Es war ein Steinbau, weiß gestrichen mit dunkelblauem Dach. Zwei Klötze, wobei der kleinere im rechten Winkel zum Größeren stand. Zweistöckig. Und rund herum war nichts außer Kiesfläche und die Straße. Es war, als hätte jemand auf einer Baustelle oder einem Parkplatz ein Haus errichtet. Es hatte keine Garage, Adam parkte den Jeep direkt neben den Stufen, die auf eine schmale, überdachte Holzveranda führten unter der die Haustüre beherbergt war. Ein alter Briefkasten stand am Ansatz der Terrasse. Einige Meter gegenüber des Gebäudes stand ein großer, blecherner Schuppen, aber sie war sich nicht sicher, ob der überhaupt Adam gehörte.
Izzy zog sich neugierig die Kopfhörer runter und knickte die Ecke der Buchseite ein, bevor sie es in die Tasche zwischen ihren Füßen gleiten ließ.
Sie schwang sich aus dem Wagen und es roch nach Schnee, obwohl weit und breit keine Wolke zu sehen war. Es war ein paar Grad kälter als in Anchorage und der Tag neigte sich langsam dem Ende zu. Sie waren durch keine große Stadt gefahren, also konnte sie sich die Größe des Ortes ausmalen. Anchorage war definitiv näher am Begriff „Stadt" dran.
„Wir hatten vor, diesen Sommer mit den Renovierungsarbeiten zu beginnen", sagte Adam, als er aus dem Auto stieg und ihren wachsamen Blick bemerkte. „Aber da wussten wir natürlich noch nicht, dass ihr für eine Weile bei uns einziehen würdet." Er lächelte, aber sie wandte den Blick ab.
Es war nicht richtig, dass sie und ihre Schwester all seine Pläne durcheinanderbrachten. Sie ging also auch nicht davon aus, dass seine Frau besonders erfreut sein würde, sie zu sehen.
„Gehen wir erst einmal rein", schlug Adam vor. „Eure Sachen bringe ich euch nachher."
Sie schluckte und warf Izzy einen bedeutungsschwangeren Blick zu, den sie erwiderte. Wenn es eine Möglichkeit gegeben hätte, dieses Haus nicht zu betreten, hätten sie beide ergriffen. Sie umklammerte den Griff ihrer Handtasche etwas fester und folgte Adam. Ihre Schwester trottete missmutig hinterher.
Plötzlich überkam sie ein beängstigender Gedanke und sie sah erschrocken an sich herunter. Sah sie heute überhaupt anständig genug aus, um seine Frau kennen zu lernen? Izzy sah aus wie immer, und das hatte sie schon am Morgen kritisiert. Sie wollte nicht, dass Adam oder seine Frau dachten, dass sie völlig verwaiste Straßenkinder bei sich aufnahmen. Mädchen, die sich nicht zu benehmen wussten. Unterbelichtete Kinder, in schmuddeligen Klamotten. Aufgewachsen in einem Viertel, in dem die meisten an der Kasse bei Dollar Tree landeten.
Gut, sie fühlte sich in ihrer dunklen Jeans und dem süßen, geblümten Top mit den großen Kreolenohrringen ihrer Mutter und dem natürlichen Make-up eigentlich recht wohl. Aber ihr Wohlbefinden schwand mit jeder Treppenstufe, die sie höher auf die Veranda stieg.
Was ihre Schwester anging: Sie trug wie immer weite Jogginghosen und einen Pullover, der ihre Figur versteckte, dabei fand sie, dass ihre Schwester eine tolle Figur hatte, was sie zu Zeiten unfair fand, weil sie die Ältere war, und Izzy trotzdem die größere Oberweite, die schlankere Taille und die breiteren Hüften hatte.
Adam öffnete die Türe und warmes Licht und ein angenehmer Geruch (eine Mischung aus Gekochtem und verbrennendem Holz) fegte auf die Terrasse. Das Vorzimmer war klein, aber sie war überrascht, dass die Schuhe so unordentlich in dem kleinen Gestell standen, das schon fast überquoll, sodass die Schwestern ihre eigenen Schuhe daneben stellen mussten. Izzy streifte ihre nur ab und kickte sie mit dem Fuß zur Seite; Hannah stellte ihre Stiefel symmetrisch zueinander direkt neben das Gestell und schob Izzys dazu.
Ihr Mantel und Izzys Jacke passten gerade so noch auf die Kleiderhaken. Es war angenehm warm.
Adam führte sie weiter in die angrenzende Wohnküche. Links die Küchenzeile und ein großer Küchentisch, und rechts der weitgestreute Wohnbereich, mit Regalen, Couch, einem Fernseher in einer Größe, die sie sich nur erträumen konnte (in ihrem alten Röhrenfernseher flackerte immer das Bild), am Fenster stand ein Wäscheständer mit aufgehängter, dunkler Kleidung, ein paar große Pflanzen (mindestens so hoch wie Izzy) standen in zwei Ecken des Zimmers und eine kleinere stand ganz oben im Regal und schlang ihre Auswüchse um das Holz. Unter den Holztreppen, die nach oben führten, war eine Türe versteckt, die bestimmt in den Abstellraum führte. Neben der Küchenzeile war ein kleiner Durchgang ohne Türe und darin lag die kleine, vollgestopfte Speisekammer.
So viel frisches Essen kannte sie höchstens vom Marktstand. Bei ihnen zu Hause gab es Fertiggerichte für zwei Dollar, Pfannkuchenmischungen aus der Dose, Thunfischsandwiches zum Mittagessen und ab und zu ein paar braune Bananen oder überreife Äpfel und Schokolade die im Supermarkt reduziert war, weil sie das Ablaufdatum überschritten hatte.
Hier fand sie Säcke von Kartoffeln, weiße Zwiebeln, rote Zwiebeln, Knoblauch, Zitronen, Gurken (oder waren es Zucchini?) Paprika, Tomaten, Karotten, acht riesige Gläser, bis zum Anschlag mit verschiedenen Nudelsorten und Reisarten gefüllt (sie hatte nicht einmal gewusst, dass es mehr als zwei Reissorten gab), Orangen, Bananen, Trauben, Haferflocken... Sie konnte sich an dem Anblick der bunten Vielfalt kaum sattsehen und ihr lief sofort das Wasser im Mund zusammen.
„Ich hoffe, ihr habt Hunger."
Sie drehte sich abrupt um. Im hinteren Teil des Wohnzimmers stand ein hoher Kamin, in dessen Glasfenster sie die Flammen zucken sehen konnte (jetzt wusste sie, woher der Holzgeruch kam) und direkt daneben war eine weitere Türe, in dessen Rahmen eine Frau stand. Sie schätzte die Frau Ende dreißig, mit blondem Haar, das sie unordentlich mit einer großen, schwarzen Klammer am Hinterkopf zusammengenommen hatte. Sie trug kuschelige, dicke Socken und ein lockeres Shirt.
Jegliche Sorgen, die sie sich über ihr Aussehen gemacht hatte, fiel von ihr ab. Die Frau stellte den vollen Wäschekorb, den sie auf der Hüfte aus dem Raum getragen hatte vor dem Wäscheständer ab kam auf die Mädchen zu, die sich (bewusst oder unbewusst) von Adam distanziert hatten, der gute drei Meter weiter weg stand und teilnahmslos durch den Raum sah, vielleicht, weil er selbst nicht mit der Situation umzugehen wusste.
„Hannah?", fragte die Frau und deutete auf Izzy. Diese schüttelte den Kopf und die Frau stieß ein halb angestrengtes, halb belustigtes Stöhnen auf.
„Okay, anders herum. Hannah." Diesmal deutete sie auf Hannah. „Und Isobel." Sie lächelte. „Freut mich, euch kennenzulernen. Ich bin Julia." Ein bisschen überrumpelt von der freundlichen, wachen Persönlichkeit dieser Frau, nahm sie ihre ausgestreckte Hand entgegen und Izzy haderte kurz mit sich, schüttelte aber schließlich auch ihre Hand.
Julia ging an den beiden vorbei. „Habt ihr Durst? Die Fahrt war lang. Was wollt ihr haben? Wir haben Cola, Eistee, Orangensaft, Himbeersirup, Sprite, ich kann euch auch einen Tee oder Kaffee machen?" Julia sah die beiden erwartungsvoll an. Sie fing sich etwas schneller, als ihre Schwester.
„Ich... Einen Eistee. Bitte." Sie hätte gerne gefragt, was für einen Eistee, aber sie wollte nicht die Dreistigkeit besitzen, bei einem so riesigen Angebot wählerisch zu sein.
Julia kam ihr zuvor. „Zitrone? Pfirsich? Grüner Tee? Mango haben wir glaube ich auch irgendwo..." Sie blinzelte Julia an und glaubte, dass sie einen Scherz gemacht hatte, aber Julia lächelte nur. „Ich habe einen neunzehnjährigen Sohn. Der gibt sich mit Mineralwasser nicht zufrieden." Julia zwinkerte und sie musste wieder an Drew denken.
„Pfirsich", sagte sie dann und Julia öffnete einen der Schränke über der Arbeitsfläche, um zwei Gläser heraus zu holen.
„Isobel? Für dich?"
„Cola", erwiderte Izzy nur. Kein Danke, kein Bitte und sie trat ihrer Schwester unauffällig gegen das Bein. „Bitte."
Julia lächelte, während sie aus dem Kühlschrank zwei riesige Flaschen der zuckerhaltigen Getränke herausholte.
„Ich geh mich mal umziehen", meldete sich Adam zu Wort. „Ihr seid hier in guten Händen." Er lächelte und drückte Julia einen Kuss auf die Wange, bevor er zwischen den Mädchen zu den Treppen ging und im Oberstock verschwand.
Wie seltsam, dachte sie, dass dieser Mann mein Vater ist.
Ein Mann, der so glücklich aussah, ein Haus und eine Frau hatte und ein Leben lebte, das sich so grundliegend von ihrem eigenen unterschied.
„Setzt euch doch, macht es euch bequem. Fühlt euch wie zu Hause!" Julia deutete auf den Küchentisch und die Sitzgarnitur im Wohnzimmer und drückte beiden ihre Getränke in die Hand.
„Das dürfte... ziemlich schwer fallen", gestand sie, in Anbetracht der Tatsache, dass ihr zu Hause nicht annähernd so schön und gemütlich war.
„Wieso das?" Julia ging zu dem Wäscheständer und begann, T-Shirts, Hosen und Socken zusammen zu legen. Sie und Izzy bewegten sich mit ihren Gläsern vorsichtig auf die Couch zu, und ließen sich darauf sinken, als sei sie Jahrhunderte alt und unentbehrlich, dabei war es nur ein graues Stoffsofa. Aber was für eines! Es war so weich und zum ersten Mal seit langem schmerzte ihr Rücken beim Sitzen kein bisschen und sie ließ sich erleichtert gegen den Stoff sinken.
„Das kann man nicht wirklich beschreiben." Sie winkte ab. „Aber ihr habt es hier wirklich sehr schön."
Julia lächelte. „Ach, was. Das ist doch gar nichts. Gerade heute -es ist total unaufgeräumt, überall liegen Aprils Spielsachen herum und ich hatte gar keine Zeit, mich herzurichten." Julia fummelte kurz in ihren Haaren herum.
Erst jetzt fiel ihr auf, dass auf dem Boden einige bunte Holzspielsachen herumlagen, die definitiv für ein Kleinkind waren. Izzy bemerkte es auch und warf ihr einen grimmigen Blick zu.
„Wie alt ist April denn?", fragte sie, ignorierte den Kloß in ihrem Hals und versuchte einen fröhlichen Ton anzuschlagen.
„Vor kurzem zwei geworden." Julia lächelte stolz.
„Oh", brachte sie nur heraus. „Ist... ist... ich meine..." Sie brachte die Frage nicht zu Stande, aber Julia schien aus ihrem Gestammel auch nichts erraten zu können, also gab sie sich einen Ruck. „A-April ist... ist sie Adams Tochter?"
Julia ließ ein T-Shirt sinken, das sie eben hatte falten wollen und sah zwischen den Mädchen hin und her. „Wusstet ihr das nicht?"
Sie schüttelte den Kopf. Sie war davon ausgegangen, dass April ein Kind war, vielleicht ein Teenager, und nicht Adams leibliche Tochter.
„Also, ist sie..." Sie schluckte. „Meine... Halbschwester?" Sie traute sich kaum, es auszusprechen. Wer wusste schon, ob Julia ihre Tochter als ihre Halbschwester ansehen wollte?
Julia legte den Kopf schräg und sah beinahe traurig aus. „Du wusstest das wirklich nicht?" Sie legte das T-Shirt zur Seite, ging Richtung Treppen und verschwand oben.
Izzy warf ihr einen trockenen Blick zu. „Herzlichen Glückwunsch, es ist ein Mädchen."
„Halt die Klappe."
Julia kam mit einem kleinen Kind auf dem Arm zurück, das ein Kuscheltuch in den Händen hielt. Die Kleine war ganz blond und hatte blaue Augen, aber sie fand April unwiderstehlich süß und begann gegen ihren Willen zu lächeln, als Julia ihre Tochter auf dem Boden abstellte, aber die Kleine versteckte sich hinter den Beinen ihrer Mutter.
„Sie ist ein wenig schüchtern", zwinkerte Julia. „Das wird schon. In ein paar Tagen will sie wahrscheinlich nur noch eure Hand beim Einkaufen halten und nur noch auf eurem Schoß beim Essen sitzen."
„Wunderbar", flüsterte Izzy wenig begeistert, sodass nur sie es hören konnte, aber sie war ohnehin zu gefesselt von dem Gedanken, dass dieses kleine, süße Wesen ihre Schwester war. Sie war unendlich froh, das Julia nichts dagegen zu haben schien, dass die beiden blutsverwandt waren und sie wollte nichts mehr, als das Mädchen auf ihren Schoß nehmen, ihr etwas vorzulesen oder mit ihr zu spielen.
Gleichzeitig fragte sie sich, warum Adam ihr nicht gesagt hatte, dass sie noch eine Schwester hatte. Die Antwort auf diese Frage bestätigte nur ihre allgegenwärtigen Vermutungen: Adam wollte sie schlicht nicht in seinem neuen Leben haben. Und vielleicht war das ja auch besser so. Sie war bestimmt kein gutes Vorbild für April. Man musste sich doch nur ihre andere Halbschwester ansehen, oder?
Sie passte nicht in dieses Leben. Und Adam sah sie auch nicht als dauerhaften Teil davon, sonst hätte er ihr davon schon vor langem erzählt. Sonst hätte er gar nicht erst den Kontakt auf Geburtstagsglückwünsche und Frohe-Weihnachten Textnachrichten und Emails beschränkt.
„Wir können in einer halben Stunde essen", ließ Julia sie wissen. Sie linste auf die Töpfe in der Küche und hatte vorhin im Vorbeigehen gesehen, dass etwas im Ofen war, wusste aber nicht, was.
„Andrew kommt bestimmt gleich."
Sie schloss die Augen und biss sich auf die Unterlippe. Sie spürte den Blick ihrer Schwester und erwiderte ihn zögerlich. Nach einem kurzen Schockmoment begann Izzy laut zu lachen und Julia warf ihr einen unsicheren Blick zu, sagte aber nichts.
„Kein Wort", zischte sie mahnend.
Izzys schlechte Laune war wie weggeblasen; sie lehnte sich zurück, schlug einen Arm hinter den Kopf und schlürfte schadenfroh an ihrer Cola.
„Du bist am Arsch", flüsterte sie mit einem breiten Grinsen auf den Lippen.
Schön, dachte sie, dass einzig und allein mein Leiden ihr Freude bereitet.
„Nur, wenn es jemand rausfindet."
Izzy hörte trotzdem nicht auf zu kichern.
„Wo ist er denn?", fragte sie dann an Julia gewandt. „Drew- Andrew!-, meine ich."
„Bei einem Freund. Hat er gesagt." Julia sah sie vielsagend an und sie war sich nicht sicher, was dieser Blick bedeuten sollte. Ging Julia davon aus, dass Andrew bei einem Mädchen war? Izzy stieß sie in den Oberarm, aber sie ignorierte es.
Als Andrew auch nach einer Stunde nicht zu Hause war, beschloss Julia, dass es an der Zeit war, ohne ihn anzufangen. Er wusste, wann Essenzeit war, wenn er nicht rechtzeitig da war, dann würde er sich sein Essen eben warm machen.
Sie half Julia eifrig dabei, den Tisch zu decken, während Izzy mit irgendjemandem simste (Justin, wie sie im Vorbeigehen erspähte) und Adam April auf der Couch fütterte und anschließend schlafen legte.
Sie gab sich größte Mühe, dieses Bild zu ignorieren. Ein Bild, in dem Adam ein kleines Kind so liebevoll fütterte, mit ihm herumblödelte und sie sich nur einmal mehr fragte, was sie falsch gemacht hatte, dass er sie in so jungen Jahren verlassen hatte. Es tat ihr nicht weh, weil sie in irgendeiner Weise eine Verbundenheit zu Adam spürte (-sie hatte ihn heute zum ersten Mal seit Jahren wieder gesehen, und es war seltsam-) sondern einfach, weil sie nicht verstand, warum er sie verlassen hatte, aber bei April blieb. (Würde er April auch in zwei oder drei Jahren verlassen?) So, wie sie auch nicht verstand, warum Onkel Rob sich nie um sie geschert hatte, warum sie ihre Großeltern nie kennengelernt hatte, warum Clayton sie so schlecht behandelt und warum ihre Mom sie auch noch alleine gelassen und gemeint hatte, dass es für sie im Augenblick zu anstrengend war, sich um ihre zwei Kinder zu kümmern. Anstrengend.
Gut, dann würde sie eben alles Erdenkliche tun, um hier nicht als anstrengend empfunden zu werden. Sie würde reden, wenn sie gefragt würde, würde im Haushalt anpacken, keine Freunde einladen, keine laute Musik hören, den Fernseher nur besetzen, wenn keiner zu Hause war, kurz duschen, das Licht immer sofort ausschalten, wenn es überflüssig war und so wenig wie möglich essen, um ihnen nicht auf der Tasche zu liegen. Auch wenn ihr der letzte Punkt wohl am schwersten fallen würde, als ihr mehr und mehr klar wurde, dass Julia offenbar generell gerne und viel kochte.
„Okay!", sagte Julia zufrieden, als alles auf dem Tisch stand. „Also, wir haben Lasagne, die Hälfte davon habe ich mit Fleisch gemacht, die andere ohne, ich wusste nicht, ob ihr Fleisch esst."
„Ich schon, Izzy isst nur Huhn", sagte sie und schämte sich beinahe ein kleines Bisschen dafür, denn Julia hatte sich bestimmt sehr viel Mühe gegeben und es roch besser, als jede Tiefkühllasagne, die sie je in einer Plastikbox in die Mikrowelle geschoben hatten. Aber Julia störte sich nicht daran, sondern erklärte Izzy lediglich, dass sie die fleischlose Seite mit Basilikum bestreut hatte. „Dann haben wir Ofengemüse -das sind Zucchini, Kartoffeln, Süßkartoffeln, Paprika, Pilze, Knoblauch und ein paar Gewürze. Ihr seid doch hoffentlich auf nichts davon allergisch, oder?"
Sie schüttelte den Kopf und war hin und her gerissen von der Umsichtigkeit dieser völlig fremden Frau. Julia nickte erleichtert.
„Gut und hier sind noch zwei Schüsseln Salat. Einmal einfacher Blattsalat und hier einer mit Gurken, Tomaten, Zwiebeln und Paprika. Ich habe heute Vormittag Schoko und Vanille Cup-Cakes gebacken. Als kleinen Nachtisch." Izzy warf ihr ein kleines Grinsen zu und sie wusste, was es bedeutete. Die Cup-Cakes (noch dazu selbstgebackene und zum Nachtisch, nicht als Hauptmahlzeit) würden das Highlight des Tages werden. Julia setzte sich endlich neben Adam, der sie dankbar anlächelte.
„Es sieht köstlich aus, mein Schatz. Vielen Dank!"
„Bitte, greift zu, bevor Andrew kommt und euch alles wegisst", lächelte sie. Während dem Essen quetschte Julia sie und Izzy über ihre Lieblingsspeisen aus und darüber, was sie gar nicht mochten. Sie war sehr vorsichtig, welche Antworten sie gab. Sie wollte nicht zu wählerisch oder verzogen rüberkommen. Im Grunde genommen war sie dankbar für alles, was weder aus der Mikrowelle oder von der Arbeitsstelle ihrer Mutter lauwarm, total zerkocht oder steinhart in Plastikboxen auf dem Esstisch in der Küche auf sie wartete.
Izzy zuckte meistens mit den Schultern, wenn Julia oder Adam sie etwas fragten und irgendwann gaben sie es auf und unterhielten sich ausschließlich mit Hannah.
„Eine unkomplizierte Esserin, also", lächelte Julia. „Das ist doch perfekt. Innereien mag ich auch nicht sonderlich, das können wir also direkt von der Liste streichen. Und Kümmel verwende ich nur, wenn ich Kraut zubereite", meinte sie nachdenklich und schnitt sich ein weiteres, sehr, sehr dünnes Streifchen von der fleischlosen Seite der Lasagne. „Walnüsse benutze ich manchmal, wenn ich Zimtschnecken backe, aber die kann ich auch durch Haselnüsse oder Mandeln ersetzen."
„Das ist doch nicht nötig", erwiderte sie schwach, aber bei dem Gedanken an saftige Zimtschnecken lief ihr das Wasser im Mund zusammen.
Julia winkte ab. „Ich bitte dich, das macht für mich doch keinen Unterschied, welche Nüsse ich beim Backen verwende."
Die Haustüre flog auf und ihr gesamter Körper spannte sich an. Sie konnte nicht sehen, wer hereingekommen war, aber sie wusste es. Sie wusste es und sackte in sich zusammen. Julia reckte sich, um von ihrer Position aus ins Vorzimmer sehen zu können.
„Na, wer hat denn da endlich den Weg nach Hause gefunden?", feixte sie. Das zurren eines Reißverschlusses war zu hören. Izzy stieß sie unterm Tisch mit dem Fuß an und verbarg ihr neugieriges Grinsen hinter vorgehaltener Hand, während Hannah wahre Schweißausbrüche durchlitt.
„Da war eine Umleitung auf der Hauptstraße", meinte Andrew (-und es war ganz sicher Drew!-), aber man hörte ihm deutlich an, dass er übertrieben flunkerte. „Eine ellenlange Umleitung, die hat uns fast nach Kanada geführt! Kannst du das glauben?"
„Kaum", schmunzelte Julia.
„Und dann ist Mason der Sprit ausgegangen, er hat mich auf der Tanke rausgeschmissen und ich musste den restlichen Weg zu Fuß laufen."
Julia lachte amüsiert auf und auch Adam lächelte. „Du alter Lügner", sagte Julia. „Ich kenne Mason, sowas würde er nicht machen. Hast du ihm wenigsten Spritgeld gegeben? Denn ich nehme an, der Teil mit der Tankstelle stimmt, so oft, wie ihr in seinem Auto unterwegs seid."
Er erschien im Türrahmen, aber sie traute sich nicht, ihm ins Gesicht zu sehen. Würde er schockiert reagieren? Würde er davon erzählen? Würde er es überspielen?
„Ich hab ihm einen Burger und ein Sixpack Cola spendiert", erwiderte Andrew und sie hörte nicht den Hauch von Überraschung oder Schock in seiner Stimme. Verwirrt sah sie auf.
„Cola", wiederholte Julia, aber er grinste seine Mutter nur an. „Na klar."
„Ich kann nichts dafür, dass mich der Tankwart für einundzwanzig gehalten hat. Er hat uns das Sixpack Bier fast schon ins Auto getragen." Er ließ sich auf dem Stuhl direkt neben ihr fallen und sie starrte ihn immer noch wie vom Blitz getroffen an.
„Andrew, das sind Hannah und Isobel." Diesmal schaffte Julia die richtige Reihenfolge und jetzt, sah er sie auch endlich an, aber was sie sah, hatte sie nicht erwartet.
„Freut mich." Sein schiefes Grinsen und der spielerische Blick bedeuteten nicht, dass er sich über den unpassenden Umstand ihres Wiedersehens lustig machte.
Es bedeutete, dass er genau gewusst hatte, wer sie war, als er mit ihr geschlafen hatte.
*
Das Essen schien endlos, hauptsächlich, weil sie sich jeder Bewegung und jedem Bissen so bewusst war, dass sie es vorzog, lieber ganz still zu sitzen. Izzy hingegen beäugte Andrew eingehend und warf ihr immer wieder vielsagende Blicke zu. Izzy verstand, warum sie ihn attraktiv fand, das verriet ihr das leichte Zucken ihrer Augenbrauen.
Sie hingegen verstand die Welt nicht mehr. Er hatte es gewusst, Andrew musste es gewusst haben. Er hatte doch nur eins und eins zusammen zählen müssen. Neue Schülerin an seiner Schule namens Hannah mit einer Schwester, die bald umziehen würde. Die Tochter seines Stiefvaters hieß Hannah, war in etwa im selben Alter und würde bald bei ihm einziehen. Solche Zufälle existierten nicht! Nicht in einem so kleinen Ort. Und sein wissendes Grinsen, dass ihm die böse Überraschung gefiel, die er ihr bereitet hatte, lag ihr wie ein Stein im Magen.
Ihr Aufenthalt hier würde offiziell zur Hölle werden. Natürlich hatte es einen Haken in diesem Schlaraffenland geben müssen.
Was sie hingegen überhaupt nicht überraschte, war sein Appetit, Julia hatte sie schließlich vorgewarnt. Er aß die Hälfte des Ofengemüses, bestimmt ein Drittel der Lasagne, die Reste aus beiden Salatschüsseln und drei Cup-Cakes. Und als er nach dem vierten greifen wollte (wobei sie gerade mal bei der Hälfte ihres eigenen Cup-Cakes mit Schokoladen Topping und Zuckerstreuseln war, der, wie sie mit Fug und Recht behaupten konnte, der beste war, den sie je gegessen hatte), fragte Julia ihn, ob sie ihm nicht noch etwas Vernünftiges zu Essen machen sollte, wenn er augenscheinlichen solchen Hunger hatte. Er neigte den Kopf hin und her und fragte, was sie ihm anbot. Sie fragte, was er sich denn vorstellte. Er redete von einem großen Sandwich mit Putenschinken und Julia stand tatsächlich sofort auf, ging zum Kühlschrank und holte den Schinken, Salat, Tomaten, Eier, Käse, Zwiebeln und eine Avocado heraus. Das würde ein Sandwich werden, das den Begriff Sandwich nicht verdient hatte und ihr lief wieder das Wasser im Mund zusammen, obwohl ihr Magen längst voll war.
Ihre Sandwiches sahen wie folgt aus: Brot mit Hühnerbrust; Brot mit Thunfischaufstrich; Brot mit einer Scheibe Käse. Izzys Sandwiches beschränkten sich fast ausschließlich auf Erdnussbutter Sandwiches, manchmal mit Himbeermarmelade.
Als Julia das Brot toastete und eine kleine Pfanne herausholte und Öl hineingoss, drehte sie sich um. „Hat sonst noch jemand Hunger?" Aber sie kapitulierten alle.
Sie war verblüfft. Ihre Mom hätte sich niemals einfach so in die Küche gestellt, um, nachdem sie so viel gekocht hatte, was sie ohnehin seltener als selten getan hatte, etwas Aufwendigeres als Cornflakes mit Milch zu servieren. Julia hatte ihm sogar die Wahl gelassen. Er hätte vermutlich sagen können, dass er einen Schweinsbraten haben wollte und sie hätte sich an den Herd gestellt.
Sie zerbiss einen der Zuckerstreusel auf dem Cupcake und fragte sich, ob das alles nur ein schräger Traum war. Oder, was ein bisschen wahrscheinlicher war: Fassade. Ob sie sich alle nur die ersten paar Tage so perfekt benehmen und nach einiger Zeit aufdecken würden, dass sie sich auch nur von Tiefkühllasagne und schlechtem Büroessen ernährten. Dass Julia die Wäsche gar nicht abnahm und bügelte, sondern jeder das vom Wäscheständer nahm, was er gerade brauchte und das Ding leer war, wenn es leer war, und erst dann die nächste Ladung gewaschen werden würde. Ob sie gar nicht wirklich alle dreißig Minuten hinter April aufräumte, weil sie nur Unfug anstellte, mit der Fernbedienung (aus der Julia die Batterien entfernt hatte) herumlief und sie in den Blumentopf steckte, wenn keiner hinsah, oder ihre Spielzeugpuppen auf dem Weg in die Küche verlor. Ob sie jeden Tag als Familie am Tisch saßen und zu Abend aßen.
Aber dann dachte sie, das alles konnte keine Fassade sein. Andrew zog so selbstverständlich sein Handy hervor und wartete auf sein Essen, dass sie nur annehmen konnte, dass es völlig selbstverständlich für ihn war, dass seine Mutter noch etwas für ihn kochte, wenn er Hunger hatte. Weil sie nicht wollte, dass er nur Cup-Cakes aß. Wut machte sich in ihrem Körper breit. Wie konnte er es als so selbstverständlich ansehen, dass seine Mutter ihm noch etwas zu essen machte, das aus mehr bestand, als einer Tiefkühlpizza? Wie konnte er so teilnahmslos an seinem Handy sitzen, anstatt ihr zur Hand zu gehen?
Und warum machte sie das alles so wütend, es ging sie im Grunde genommen nichts an!
Während sie und Izzy noch an ihrem eigenen Süßgebäck knabberten (besonders langsam, um jeden Bissen genießen zu können), versuchte Adam ein Gespräch mit Andrew über die Schule zu beginnen und sie unterhielten sich eine Weile, während Julia kochte und das Geschirr vom Tisch räumte.
„Lass mich dir helfen", meinte sie irgendwann, legte ihren halbaufgegessenen Cup-Cake zur Seite und begann, die Teller auf dem Tisch übereinander zu stapeln.
„Das ist doch nicht nötig", lächelte Julia, aber sie hätte sich unwohl gefühlt, wenn sie Julia die ganze Arbeit alleine hätte machen lassen. Sie war hier schließlich der Gast, sie musste Manieren zeigen und sich ordentlich bedanken, das war doch das Mindeste, nach allem, was diese Frau in nur drei Stunden bereits für sie getan hatte.
Andrew bekam nicht nur ein Sandwich, sondern gleich zwei, die so gut dufteten, dass sie direkt wieder Hunger bekam.
„Und wenn du dann immer noch Hunger hast, iss einen Apfel", mahnte Julia. „Du hattest genug Cup-Cakes für heute."
„Danke, Mom." Er lächelte sie an und biss gierig in eine Sandwichhälfte. Während er aß, versuchte Julia wieder das Gespräch zu den beiden Schwestern aufzunehmen, aber Izzy machte wieder mehr von ihren Schultern, als von ihrem Mund Gebrauch und Hannah merkte zusehends, dass Andrew sie von der Seite musterte, und so beschränkte sie ihre Antworten auf das Nötigste.
Einerseits nahm sie sich vor, ihn später damit zu konfrontieren, andererseits wollte sie die Tatsache, dass sie mit ihm in Adams Auto Sex gehabt hatte, so schnell wie möglich vergessen. Es war widerlich und beschämend.
Als Andrew fertig gegessen hatte, führte Julia die Mädchen nach oben. Am Treppenansatz im Oberstock war eine niedrige Gittertüre angebracht, die Julia leicht öffnete.
„Die ist für April", erklärte Julia. „Damit sie nicht einfach über die Treppen nach unten läuft." Ein langer Flur führte zu mehreren Zimmern ab, sie zählte sechs.
„Hier sind die zwei Bäder", sie öffnete die ersten beiden gegenüberliegenden Türen. „Das linke ist Adam und meines und das rechte gehört euch Kindern." Beide waren ähnlich eingerichtet, Dusche, Toilette, Waschbecken, Kommoden. „Dann haben wir hier links unser Schlafzimmer. Rechts ist Andrews Zimmer und hier-" Sie war bei den letzten beiden gegenüberliegenden Zimmern angekommen. „Sind eure Zimmer. Sucht euch ruhig untereinander aus, welches ihr haben wollt, eines ist das Gästezimmer, da steht ein Bett, das andere ist für April, wenn sie größer ist, also mussten wir improvisieren, aber die Klappcouch ist auch sehr bequem."
„Danke", lächelte sie und beäugte beide Zimmer. Das Kinderzimmer sah nicht aus, wie ein Kinderzimmer. Keine kitschigen Wandbemalungen, keine Kuschelecke, keine Kinderbücher. Julia bemerkte die Irritierung.
„Wie gesagt, sie schläft noch bei uns. Solange verwenden wir den Raum überwiegend als Abstellraum, für größere Sachen, die unten nicht reinpassen, aber wir haben alles ins Lager geräumt, damit ihr nicht im Krempel wohnen müsst." Das Lager war wohl der riesige Blechschuppen gegenüber des Hauses.
Ihr fehlten die Worte. „Julia, ich... Das wäre alles wirklich nicht nötig gewesen. Wir hätten uns doch auch ein Zimmer teilen können."
„Jetzt hör schon auf." Sie winkte ab und lächelte abermals. „Wir wollen, dass ihr euch hier wohl fühlt."
„Das ist auf jeden Fall schon mehr als gelungen. Danke!"
„Ich sage Andrew, er soll Adam helfen, eure Kartons nach oben zu tragen. Sucht euch einfach aus, wo ihr schlafen wollt." Mit einem letzten Lächeln verschwand sie nach unten und die Mädchen standen einander schweigend gegenüber.
„Bett oder Klappcouch?", fragte sie ihre kleine Schwester.
„Kommt drauf an, was von beidem mehr quietscht. Wenn die Klappcouch lauter ist, überlasse ich dir gerne das Bett, sonst finden Julia und Adam noch raus, dass du ihren Sohn vögelst."
Sie boxte Izzy in die Schulter, aber diese lachte nur. Ihre kleine Schwester war viel zu gut drauf. „Ich wusste nichts davon."
„Das macht es nicht weniger seltsam. Ich nehme die Klappcouch", beschloss Izzy.
„Sicher? Ich kann auch auf der Couch schlafen."
„Nein, schon in Ordnung. Wirklich."
Sie zweifelte immer noch, schob Izzy zur Seite und betrat das Zimmer mit der Klappcouch. Sie ließ sich darauf fallen, testete den Härtegrad, das Liegegefühl, ob man sich im Schlaf gut wälzen konnte, ohne von der Bettkante zu fallen und fand, dass es die angenehmste Klappcouch der Welt war. Sie war sogar angenehmer als ihre alte Matratze zu Hause, durch die man bei jeder Bewegung die harten Federn spürte und deren diverse Flecken man beim Überziehen gar nicht hinterfragen wollte. Wenn sich eine einfache Klappcouch schon so toll anfühlte, wie würde sich das Bett in diesem Paradies erst anfühlen?
Sie bemerkte erst, dass Andrew mit einer Kiste in der Türe neben Izzy stand, als sie ihre dritte Rollbewegung auf der Klappcouch vollzogen hatte.
„Markierst du gerade dein Revier?", fragte er und Izzy warf ihm einen grimmigen Blick zu und wollte eindeutig etwas Unschönes sagen, sie kam ihrer Schwester jedoch zuvor.
„Welche Kiste ist das?", fragte sie, setzte sich schnell auf und kämmte sich mit den Fingern die Haare. Er las die Aufschrift.
„Izzy-Kleidung."
Sie winkte ihn ins Zimmer. „Okay, die kommt hier rein. Ich nehme das andere Zimmer."
„Ist das nicht ein bisschen selbstsüchtig?", hakte er nach, stellte die Kiste aber ab. „Eine Klappcouch ist doch nichts im Vergleich zu einem schönen, weichen, gefederten Bett." Er grinste und ihr stieg die Röte ins Gesicht. Als er das Zimmer wieder verlassen hatte, fragte Izzy: „Soll ich auf die Tränendrüse drücken und Julia fragen, ob ich sein Zimmer haben kann? Das hätte der Arsch verdient."
„Hör auf", murmelte sie. „Sie tun doch ohnehin schon so viel für uns."
„Ich kann auch eine Woche warten und ihnen dann erzählen, dass er meine Titten begrapscht hat. Wir müssen uns das doch nicht gefallen lassen."
Doch, dachte sie, genau das musste sie. Denn würden Adam und Julia entschließen, dass sie und Izzy nicht in diesen Haushalt passten, sich vielleicht zu sehr beschwerten, zu wenig bedankten und eine zu große Last waren, würden sie in ein Jugendheim kommen. Oder zu Pflegefamilien. Womöglich noch getrennt voneinander! Das würde sie niemals zulassen, also war sie gewillt, alle Bemerkungen von Andrew über sich ergehen zu lassen, auch, wenn sie sich fragte, wo der süße, charmante Kerl von vor zwei Tagen hin war und ob er überhaupt existierte.
Er und Adam trugen die Kisten nach oben und sie navigierte, in welches Zimmer sie kamen. Dann ließen die beiden sie wieder alleine und während Izzy vermutlich nur faul auf der Klappcouch lag und Justin schrieb, begann sie akribisch ihre Sachen auszupacken und das Gästezimmer damit zu füllen. Sie war sich ziemlich sicher, dass der alte Schreibtisch ursprünglich kein Teil der Innenausstattung gewesen war, aber sie war froh, dass Adam und Julia daran gedacht hatten. Auch in Izzys Zimmer stand einer, den Adam als seinen alten Arbeitsschreibtisch bezeichnet hatte, als er die letzte Kiste nach oben getragen hatte.
In ihrem Zimmer stand nun Andrews Schreibtisch, der ohnehin einen neuen hatte haben wollen, eine Tatsache, die sie verblüffte, denn sie fand, dass der Schreibtisch absolut tadellos aussah. Er hatte zwar ein paar Kratzer und getrocknete Klebstoffflecken auf der Oberfläche und einen mit Kugelschreiber aufgezeichneten Penis, über den sie ihr Glas mit Stiften stellte, aber das war auch schon alles.
Als erstes öffnete sie die Kiste mit ihrer ganzen Kleidung. Es war nicht viel, aber genug, dass sie alles nach Farben sortieren wollte. Izzy hatte dieses Problem nicht. Sie fühlte sich wohl, wenn sie schwarz tragen konnte. Manchmal glaubte sie, ihre Schwester habe sich drei Tage nicht umgezogen, dabei hatte sie einfach keine bunten Sachen in ihrem Schrank. Nichts. Kein einziges Stück.
Nicht mal eine gottverdammte blaue Jeanshose. Alles war schwarz und weit. Sie hatte vielleicht ein oder zwei Figur betonende, hübsche Sachen, die sie Izzy aufgezwungen hatte, als das Jugendamt vorbeigeschaut hatte, aber sie war sich nicht einmal sicher, ob Izzy die Sachen mit hier her genommen hatte.
Es dauerte fast eine Stunde, bis sie alles eingeräumt und sortiert hatte. Alles was hängen musste hing im gleichen Abstand auf Kleiderhaken an der Stange, ihre Unterwäsche und die Socken lagen in zwei verschiedenen Schubladen (die hübsche, aufreizende Unterwäsche ganz hinten, weil sie paranoider Weise dachte, dass sie sonst jemand entdecken könnte), ihre Hosen gefaltet und neben ihren Shirts und Pullovern gestapelt.
Während sie ihre neuen Schulsachen in dem kleinen, hölzernen Schubladencontainer mit den Rädchen zum Verschieben ordnete, fiel ihr das Buch für Kunstgeschichte in die Hand und sie musste daran denken, dass Izzy vor fünf Jahren in psychiatrischer Behandlung gewesen war. Nicht wegen der schwarzen Kleidung. Ihre Kunstlehrerin hatte gemeint, dass es nicht schaden könne, nachdem Izzy sich an keinen Gruppenarbeiten beteiligt und nur düstere Bilder gemalt hatte. Friedhöfe, schwarze Gestalten, ertrinkende Personen, Menschen, mit unheimlichen Fratzen. Für eines hatte sie sich sogar mit einer Nadel in den Finger gestochen und mit ihrem eigenen Blut gemalt.
Das hatte sogar sie beunruhigt, auch wenn sie das meist so bizarre Verhalten ihrer Schwester gewohnt war. Izzy liebte es, Leuten Angst zu machen. Aber sie war erst zehn Jahre alt gewesen, also hatte ihre Kunstlehrerin mit ihrer Mom geredet und beide hatten sich darauf geeinigt, dass Izzy eine Therapie brauchte. Mom hatte herumtelefoniert und ihre beste Freundin hatte ihr einen super Psychiater empfohlen.
Er hatte genau drei Monate lang durchgehalten. Danach hatte Izzy sowas wie Hausverbot in seiner Praxis bekommen und Mom hatte sich mächtig über das verschwendete Geld aufgeregt, dass sie für Hannahs Eislaufstunden, oder Hannahs Kostüme, oder Hannahs Frisörbesuch hätte verwenden können. Der Psychiater hatte Izzy eigentlich an einen Spezialisten überwiesen, aber Izzy war nie dort aufgekreuzt und weder sie noch ihre Mom hatten die Zeit investiert, Izzy hinzufahren, oder sie dazu zu überreden, doch hinzugehen. Aber einmal hatte sie Izzy gefragt, warum der Psychiater sie nicht weiter behandeln wollte, aber sie hatte nicht geantwortet, sondern nur gelächelt und ihre Kopfhörer aufgesetzt. Das Blutbilderzeichnen hatte aufgehört und Izzy hatte angefangen, sich mehr und mehr zurückzuziehen.
Manchmal glaubte sie, dass ihre Schwester in einer ganz anderen Welt lebte. Vielleicht eine, die sie gar nicht sehen konnte.
Aber dafür konnte Izzy auch nicht ihre Welt sehen, in der es wichtig war, sich stets weiterzubilden, einen guten Beruf zu erlernen, Geld zu verdienen und irgendwann eine Familie zu gründen. So machte es schließlich jeder. Und jeder, der es nicht so machte, fiel aus dem System. Und sie wollte nicht aus dem System fallen. Sie hatte das Gefühl, dass es das Einzige war, das ihr Leben strukturierte und zusammenhielt, nach allem, was passiert war.
Sie hatte gar nicht gemerkt, in welche Richtung ihre Gedanken gewandert waren, bis sie im letzten Karton, ganz unten ihre Eislaufschuhe fand. Am liebsten hätte sie den Deckel wieder zugemacht und die Schuhe nie wieder angesehen. Aber etwas band sie immer noch daran. Der Anblick der scharfen Kufen und des weißen Leders und der zarten Bänder zog sie in einen Bann. Sie war nur fünf Mal mit ihnen gelaufen. Sie waren noch so gut wie neu. Behutsam zog sie sie aus dem Karton, überprüfte den Sitz der Kufenschoner und verstaute sie unter ihrem Bett, um sie nicht durch Zufall wieder sehen zu müssen. Daneben schob sie die blaue Plastikkiste mit den Medaillen und den kleinen Pokalen, den sie gar nicht erst öffnete.
Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie jede freie Sekunde in der Eislaufhalle verbracht hatte. Jeden einzelnen Tag hatte sie trainiert. Hausaufgaben hatte sie immer erst sehr spät abends gemacht. Sie war nur vom Training ferngeblieben, wenn sie Fieber gehabt hatte. Sie hatte ihre Muskeln gestärkt, Vitamine in Form von Kapseln zu sich genommen und vor Wettkampftagen hatte sie sich nur von Proteinriegeln ernährt. Sie war jeden Tag vor der Schule joggen gegangen. Am Abend, vor dem Schlafengehen, hatte sie sich fast eine Stunde lang gedehnt, nebenbei vielleicht ihren Aufsatz noch einmal Korrektur gelesen, oder die Ergebnisse der Matheaufgaben überprüft, oder für Geschichte gelernt, war Französischvokabeln durchgegangen, oder hatte mit Lauren oder Benny telefoniert, die auch gerade ihre Dehnübungen gemacht hatten.
Und sie hatte es geliebt.
Ihre kleine Gruppe von Freunden, die alle dasselbe Ziel wie sie gehabt hatten. Schulfreunde waren ihr nie so wichtig gewesen, die kamen und gingen, entwickelten sich in unterschiedliche Richtungen und waren höchstens bei Gruppenarbeiten von Vorteil. Aber in den weißen, kalten Eishallen hatten sie alle den Traum gehabt, eines Tages bei den Olympischen Spielen teilzunehmen und auf der eins zu stehen. Sie hatte davon geträumt, seit sie mit sechs Jahren die Live-Show im Fernsehen ihrer Nachbarin gesehen hatte, bei der sie und Izzy eine Woche lang geblieben waren, weil ihre Mom auf der Arbeit wieder einmal versucht hatte, sich mit den herumliegenden Brieföffnern umzubringen.
Ms Davis war nett gewesen. Sie war in ihren Fünfzigern gewesen, mit drei Katzen und der Einstellung, dass man keinen Mann brauchte, um glücklich zu sein. Sie hatte für Izzy und Hannah richtiges Essen gekocht und ihnen bei den Hausaufgaben geholfen. Sie war nicht wie Mom auf der Couch eingeschlafen oder hatte gemeint, dass nicht sie diejenige war, die in die Schule ging und ihre Hausaufgaben zu erledigen hatte. Und am Abend hatten sie und Izzy immer Fernsehen dürfen, eine Stunde lang. Jede hatte sich dreißig Minuten lang aussuchen dürfen, was geschaut wurde. Ms Davis hatte an dem Abend Kartoffelsuppe gekocht und den Fernseher nebenher laufen lassen. Die Eiskunstläufer der Olympischen Spiele waren über den Bildschirm gelaufen und als es Zeit gewesen war, dass sie sich eine Serie aussuchte, die sie sehen wollte, hatte sie sich für dieses Programm entschieden. Als Mom zurück aus der Klinik gekommen war, hatte sie ihr davon erzählt und sie hatte sie gleich in einem Kurs angemeldet, der nur drei Monate danach begonnen hatte.
Ms Davis hatte sich drei Jahre später aus dem fünften Stock gestürzt, also konnte sie mit ihrem männerlosen Leben nicht so glücklich und zufrieden gewesen sein, dachte sie immer.
Sie war sich sicher, dass ihre Freunde den Traum von einer jubelnden Menge, glitzernden Kostümen und Medaillen immer noch verfolgten, nur hatten sie Hannah irgendwo auf der Strecke dahin verloren. Wahrscheinlich nach diesen beiden schlimmen Ereignissen.
Lauren und Benny, selbst Cole und auch einige andere hatten versucht, sie dazu zu überreden, doch wieder zum Training zu kommen, als sie wieder aus dem Krankenhaus rausgekommen war, aber sie hatte erst die Schule und dann die Sache mit ihrer Mom und dem Jugendamt und dem geplanten Umzug zu Adam vorgeschoben und nun meldete sich niemand mehr bei ihr und auch sie wollte nicht mehr anrufen.
Ihre ehemaligen Freunde erinnerten sie lediglich an einen Traum, der sich nie erfüllen würde.
Die viele freie Zeit, die sie jetzt zu genüge hatte und früher mit Training vollgestopft hätte, war ihr immer noch fremd, auch, wenn sie nun doch schon ein ganzes Jahr Zeit gehabt hatte, sich daran zu gewöhnen. Sie wusste häufig nicht, was sie mit sich anfangen sollte und versuchte es mit Lernen und neuen Kursen auszugleichen.
Sie brauchte definitiv ein neues Hobby. Etwas, das ein bisschen ungefährlicher war. Vielleicht stricken. Oder schwimmen. War schwimmen gefährlich? Bestimmt nicht so gefährlich wie Eiskunstlauf. Und im Endeffekt würde sie sich mit dem gleichen Element beschäftigen. Wasser. Nur war es beim Schwimmen nicht gefroren. Diese Logik ergab selbst für sie keinen Sinn, aber das ignorierte sie.
Als sie ihre ganzen Sachen ausgepackt und die Kartons zusammengefaltet hatte, fasste sie ihren ganzen Mut zusammen und klopfte an Andrews Türe.
„Viel zu freundlich, in diesem Haus klopft man nicht an Zimmertüren, Herzchen", drang es dumpf aus dem Raum, bevor die Türe aufgerissen wurde.
„Herzchen?", fragte sie und in ihrem Magen begann es zu brodeln. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und versuchte einen Blick in sein Zimmer zu erhaschen, aber er versperrte ihr perfekt den Blick mit seinem breiten Oberkörper. Wenigstens war er nicht oberkörperfrei, wie ein Teil von ihr befürchtet hatte, das wäre wirklich unangebracht gewesen. Nein, er trug immer noch Jeans und T-Shirt.
„Was willst du?", fragte er, nicht unhöflich, aber auch nicht erfreut.
„Du wusstest es, oder?", kam sie direkt auf den Punkt.
„Dass du Adams Tochter bist und bald hier einziehen würdest? Ja, das wusste ich. Etwa zu dem Zeitpunkt, als du mir gesagt hast, wie du heißt."
„Warum dann das alles? Warum hast du mir nicht einfach gesagt, wer du bist? Warum-" Warum hast du es so weit kommen lassen und mit mir geschlafen, hätte sie am liebsten gesagt, aber sie war sich nicht sicher, wo Adam und Julia waren und ob sie sie hören konnten.
Andrew zuckte mit den Schultern. „Ich mochte deine Beine."
„Hör auf mit dem Blödsinn! Das ist nicht lustig."
„Ich finde es ziemlich komisch." Er grinste. „Warum regst du dich so auf? Es ist ja nicht so, als hätte ich dich zu irgendetwas gezwungen. Du hast beim ersten Date die Hosen fallen lassen, ganz ohne mein Zutun."
„Genau wie du", erwiderte sie ungläubig und fand es unfair, dass er mit zweierlei Maßstäben messen wollte. „Und du wusstest, wer ich bin. Hätte ich gewusst, wer du bist, hätte ich mich niemals darauf eingelassen."
„Glaube ich gerne, wer will schon, dass der Stiefbruder oder der eigene Vater erfährt, was für ein Schlampe man eigentlich ist?"
Für den Bruchteil einer Sekunde sah sie Clayton vor ihrem inneren Auge aufblitzen. Ihr blieb der Atem im Hals stecken. „Was hast du gerade zu mir gesagt?"
„Sieh es ein." Er schüttelte den Kopf. „Ich habe vier Tage gebraucht, um dich flach zu legen. Vier. Das liegt unter der üblichen Quote, aber dafür war es auch nicht besonders gut. Manchmal lohnt sich das Warten eben doch. Ärgerlich, ich hab den Sprit um sonst verfahren."
Noch bevor sie es registrierte, hatte sie ihm eine Ohrfeige verpasst, die so fest war, dass sein Kopf ein Stück zur Seite flog und er sie verdattert ansah. Sie schlug sie die Hände vor den Mund und verstand nicht, wie das hatte passieren können. Weil sie vor sich selbst erschrocken war und keine Ahnung hatte, was sie jetzt tun sollte, machte sie Kehrt und lief auf das Zimmer zurück, das nicht ihres war, in einem Haus, in dem sie nicht wirklich wohnte, bei einer Familie, zu der sie nicht gehörte.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro