68
Sie saß mit geschlossenen Augen im Schneidersitz auf ihrem Bett, die Handflächen nach oben gedreht, Mittelfinger und Daumen berührten einander, ihre Arme ruhten auf ihren Knien und sie atmete tief ein und aus, als ihre Schwester hereinkam.
Es dauerte einen Augenblick, bis sie etwas sagte.
„Soll ich... später nochmal reinschauen? Du scheinst beschäftigt."
„Ich meditiere", sagte sie, ohne die Augen zu öffnen.
„Aha."
Izzy schloss die Zimmertüre hinter sich und sie konnte hören, wie ihre kleine Schwester sich in ihrem Schreibtischstuhl niederließ.
„Ist das sowas wie... beten?"
„Fast."
„Und wofür betest du?"
„Ich bete nicht. Ich versuche meine innere Mitte zu finden. Meinen Frieden. Ich will Zen sein."
„Zen? Ich fürchte, so viel kannst du gar nicht meditieren."
„Halt die Klappe."
Das Geräusch Izzys nervigen Gummiballs, den sie auf den Boden warf und wieder auffing, erschreckte sie.
„Wer hat dir diesen Meditationsschwachsinn erzählt?"
„Eine von Julias Freundinnen schwört darauf."
„Eine von Julias Freundinnen ist auch sechsundvierzig, zieht sich immer noch an wie neunzehn, hat platinblonde Haare und bezieht Unterhalt für ihren fünfzehnjährigen Sohn, der es nicht schafft, sich die Haare zu waschen und mir auf meine Möpse gestarrt hat, als er das letzte Mal hier war."
Sie öffnete die Augen. „Halt. Die Klappe. Du störst meinen Frieden." Sie atmete tief durch, lockerte ihre Schultern und schloss die Augen wieder.
„Womit willst du denn Frieden schließen?", bohrte Izzy weiter neugierig nach.
„Ich versuche meinen Groll und meine Eifersucht gegenüber Lauren und Cole loszulassen."
„Erfolg?"
Sie seufzte angesäuert. „Nicht wirklich. Ich weiß nicht, wie das gehen soll. Man kann doch nur etwas loslassen, das man wirklich mit seinen Händen festgehalten hat. Wie soll man etwas metaphorisch loslassen? Wie geht das?"
„Da fragst du mit Sicherheit die Falsche."
Sie wollte loslassen. Sie wollte ihre negativen Gefühle so sehr loslassen. Besonders, weil sie in einer Stunde losmusste, und sich mit Lauren zu einer kleinen Probe zur Probe treffen wollte. Sie wollte Lauren helfen. Nein, eigentlich wollte sie ihr helfen wollen. Sie wollte ein guter Mensch sein, ein hilfsbereiter Mensch, ein Mensch, der über den Dingen stand. Über ihrem Hass.
„Hier!" Sie öffnete die Augen und Izzy streckte ihr einen Kugelschreiber entgegen. „Nimm den."
Sie streckte ihre Finger danach aus. „Und jetzt?"
„Stell dir vor, dass dieser Stift dein Hass auf Lauren ist."
„Okay?"
„Und jetzt lass ihn fallen." Der Stift plumpste vom Bett auf den Teppich. „Fühlst du dich besser?"
„Wahrscheinlich würde ich mich besser fühlen, wenn ich mir ein Stück Papier zwischen den Fingern durchziehen würde." Sie schob ihre Beine über die Kante des Bettes, hob den Stift auf und fragte: „Wenn ich akzeptiere, dass ich Lauren auf ewig hassen werde, habe ich dann meine innere Mitte gefunden?"
„Nein, aber vielleicht hast du dein Mordmotiv gefunden."
Sie verdrehte die Augen, während sie mit dem Kugelschreiber klickte und Izzy weiterhin ihren Ball auf den Boden warf.
Seit Lauren sie gefragt hatte, ob sie ihr helfen würde, fragte sie sich stetig, ob sie tief im Inneren vielleicht ein schlechter Mensch war, der nur verzweifelt vorzugeben versuchte, gut zu sein. Warum sonst sollte sie einen solchen Groll gegen Lauren hegen? Warum sonst sollte sie ihr helfen wollen, obwohl sie nicht helfen wollte?
Gestern Abend, als Julia und sie nach dem Abendessen noch einen Tee zusammen getrunken hatten, hatte sie sie gefragt, ob es die Gedanken waren, die einen Menschen ausmachten, oder die Taten.
„Wenn man böse Gedanken hat, sich aber zwingt, gute Taten zu vollbringen, ist man dann ein guter oder ein schlechter Mensch?"
Julia hatte sehr lange darüber nachgedacht, ohne etwas zu sagen und irgendwann hatte Andrew sein Videospiel pausiert, sich auf der Couch aufgesetzt und gesagt: „Willst du Menschen von vorneherein etwas Böses?"
Sie hatte sich zu ihm umgedreht. „Nein, natürlich nicht."
„Dann bist du kein schlechter Mensch."
„Aber was ist, wenn... wenn jemand meine Hilfe benötigt. Und ich dieser Person nicht helfen will, es aber trotzdem tue, weil es das Richtige ist, macht mich das nicht zu einem schlechten Menschen? Wenn ich in meinem Herzen gar nicht helfen möchte?"
„Nein, das macht dich höchstens zu einer Lügnerin. Oder Heuchlerin."
Sie hatte den Kopf geschüttelt, die Arme vor der Brust verschränkt und sich wieder umgedreht. „Du verstehst das nicht."
„Glaubst du allen Ernstes, dass kein Mensch auf der Welt jemals schlechte Gedanken hat? Jeder Mensch hat ab und zu keine Lust, den Guten zu spielen. Jeder Mensch ist an irgendeinem Punkt egoistisch. Jeder Mensch würde einer anderen Person am liebsten Mal so richtig eine reindonnern."
Sie hatte sich wieder zu ihm gedreht und vielsagend angesehen. „Da hast du recht."
Er hatte mit den Augen gerollt und sie hatte sich wieder umgedreht. „Das macht doch unsere Persönlichkeit aus, warum sollte das schlecht sein?"
„Was unterscheidet uns dann, von den schlechten Menschen?"
„Die Tatsache, dass wir nicht wahllos durch die Straßen laufen und Leute abknallen, vielleicht? Reicht dir das nicht?"
„Nein?", hatte sie ungläubig gefragt. „Das reicht mir nicht."
Julia war wortlos aufgestanden und hatte sich noch einen Tee eingegossen, während Andrew immer hitziger auf ihren Rücken eingeredet hatte.
„Dann sag mir, ob es mich zu einem schlechten Menschen macht, wenn ich einen Mörder umbringe."
„Was hat Mord mit meiner Hilfsbereitschaft zu tun?"
„Du würdest der Welt einen großen Gefallen tun, wenn du ein paar Diktatoren umlegen würdest, da bin ich mir sicher."
Sie hatte sich wieder zu ihm gedreht. „Okay, jetzt kommen wir also von Eislaufnachhilfe zu Attentat?"
Er hatte sie unter seiner Kapuze mit zusammengezogenen Augenbrauen angestarrt. „Ist das dein Ernst? Du denkst, du bist der Krösus der schlechten Menschen, weil du jemandem keine Nachhilfe geben willst? Hat dein Ego eigentlich keine Grenzen?"
„Okay, also erst Mal, war Krösus der letzte König des in Kleinasien gelegenen Lydiens." Aufgebracht hatte er sich von ihr abgewandt, während sie unbeirrt weitergeredet hatte. „Und zweitens habe ich nie gesagt, dass ich der grauenvollste Mensch der Welt bin! Ich wollte nur wissen, ob das, was man tief in seinem Herzen fühlt das wahre Ich eines Menschen ausmacht oder eben seine Entscheidungen und Handlungen!"
„Gute Nacht", hatte Julia mit einem amüsierten Schmunzeln gesagt und war mit ihrer Tasse die Treppen hinauf verschwunden. Andrew hatte sein Videospiel wieder aufgenommen.
„Wir bauen alle ab und zu Scheiße", hatte er gesagt und seinen Blick stur auf den Bildschirm gerichtet. „Das macht uns höchstens zu guten Menschen, die Scheiße gebaut haben."
„Gut, Hitler hat auch Scheiße gebaut."
„Komm mir nicht mit dem Zweiten Weltkrieg!"
„Ist doch wahr!" Beleidigt hatte sie sich wieder von ihm abgewandt. „Wer entscheidet das? Wer entscheidet, was gut und was schlecht ist?"
„Soll ich dir Mom's Bibel holen?" Sie hatte wieder mit den Augen gerollt und den Kopf zu ihm gedreht. Er hatte sie angesehen, während sich die Figuren auf dem Fernseher bewegt hatten. „Wären Gedanken strafbar, gäbe es keine einzige Person auf freiem Fuß mehr."
„Ich hab mit Justin geschlafen", sagte Izzy plötzlich und riss sie aus ihren Gedanken. Sie brauchte einen Augenblick, bis sie die Worte ihrer kleinen Schwester zuordnen konnte und so überrascht sie auch war, so trocken war ihre Antwort darauf.
„Schockierend."
Izzy warf den Ball noch einmal auf den Boden. „Mit Ethan hatte ich auch Sex."
„Ich bin fassungslos." Sie war fassungslos, aber das musste Izzy nicht wissen. Sie war sich sogar ziemlich sicher, dass dieses Gespräch schneller vorbei gewesen wäre, als der Tod aller umliegenden Lebewesen bei einer Atombombenexplosion, wenn sie Izzy wissen ließ, wie fassungslos sie war.
„Fehlt da nicht noch ein Dritter im Bunde?"
„Mit Lionel hab ich noch nicht geschlafen", sagte Izzy.
„Noch nicht?", hakte sie nach, diesmal vielleicht doch etwas zu fassungslos und sie merkte, wie Izzy die Röte in die Wangen schoss und sie sich am liebsten wieder in ihrem Schneckenhaus verzogen hätte, weshalb sie den Ton schnell wieder wechselte. „Und warum erzählst du mir das?"
Izzy schob den Ball in die Bauchtasche ihres Hoodies. „Dr. Perez ist der Meinung, ich soll über alles reden. Meine Gefühle. Meine Gedanken. Mein Leben. Und du hast gefragt."
„Ich finde es... schön, dass du anfängst, auf Dr. Perez zu hören", sagte sie vorsichtig.
„Aber ich verstehe nicht ganz, was das bringen soll. Worte können nicht jeden Knoten lösen. Wenn ich jemanden umbringe und mich entschuldige, ist dann alles wieder gut?"
„Tu mir einen Gefallen und fragt das Andrew, wenn du ihn das nächste Mal nerven willst."
„Was?"
„Vergiss es... aber soll das heißen, dass man sich gar nicht erst entschuldigen sollte, nur weil dadurch nicht alles wieder gut wird?", fragte sie und Izzy sah sie lange an. So lange, dass sie ihre Worte noch einmal überdachte, aber nichts Merkwürdiges daran erkennen konnte. „Was ist?"
„Du bist zu nahe dran."
„Was soll das heißen?"
„Was ich gesagt habe. Hat sich Cole je bei dir entschuldigt?"
Sie begriff, was Izzy meinte und ihr fiel auf, dass sie vielleicht wirklich von Cole gesprochen hatte. Und von Lauren. Und Mia. Und Andrew. Und Clayton. Und Mom. Und Adam. Und so vielen anderen Menschen, die ihr Unrecht getan hatten und sich niemals entschuldigt hatten. Sie fragte sich in diesem Augenblick, ob es ihr tatsächlich besser gehen würde, wenn sie eine Entschuldigung bekäme, denn eigentlich hatte Izzy recht. Worte konnten nicht wieder gut machen, was Cole und Lauren und Mia und Andrew und Clayton und Mom und Adam ihr angetan hatten.
„Ich muss mich fertig machen", sagte sie, um nicht weiter darüber nachdenken zu müssen, und stand auf.
„Kann ich mitkommen?"
Sie hielt inne. „Du? In einer Eislaufhalle?"
Izzy konnte eislaufen. Sogar ziemlich gut, dafür hatte sie gesorgt, nachdem die Eislauftrainerin Izzy als zu dick bezeichnet hatte. Sie hatte nicht gewollt, dass Izzy jemals auf dem Eis Angst haben musste. Und so oft sie auch zusammen auf zugefrorenen Seen oder auf Eislaufplätzen unterwegs gewesen waren -der Eiskunstlauf hatte Izzy seit den Worten ihrer Trainerin nicht mehr interessiert.
Ihre kleine Schwester grinste. „Sagen wir einfach, ich würde gerne sehen, wie du deine innere Mitte findest."
„Halt. Die. Klappe."
*
„Hat Jason eigentlich schon... deine innere Mitte gefunden?", lachte Izzy, als sie auf dem Weg zum Bus waren.
Sie verzog das Gesicht. „Das klingt abstoßend."
„Ach, du darfst mich über mein Liebesleben ausquetschen, erzählst mir aber nichts-"
„Vor zwei Tagen hast du noch kritisiert, dass ich meine Bettgeschichten mit dir teile."
„Und jetzt will ich es eben wissen."
Sie war verwundert darüber, wie sie es so lange Zeit geschafft hatte, zu ignorieren, was direkt vor ihren Augen stattgefunden hatte. Dass Izzy eindeutig krank war. Dass dieses ständige Hin und Her, das andauernde Auf und Ab ihrer Gefühle, Bedürfnisse und ihrer Stimmung nicht auf die Hormone eines Teenagers geschoben werden konnten.
Sie versuchte es auch jetzt zu ignorieren, aber es war schwer, weil sie nicht wusste, ob Izzys Redseligkeit und ihr Interesse an ihrem Leben echt oder nur der chemischen Imbalance in ihrem Gehirn zu verschulden waren.
„Wir warten, bis ich achtzehn bin."
„Das klingt wie ein Aprilscherz."
„Es ist kein Scherz."
„Dann ist es dämlich."
Sie seufzte. „Von mir aus."
„Du findest doch auch, dass es dämlich ist. Es gibt die Drei-Dates-Regel nicht um sonst."
„Die Drei-was?"
„Die Drei-Dates-Regel. Man vögelt immer beim dritten Date. Hast du bei Andrew doch auch gemacht."
„Okay, der nächste, der erwähnt, dass ich mit Andrew Sex hatte, kriegt eine gewischt!", schimpfte sie. „Und was ist dann mit dir und Lionel? Ihr habt euch deutlich öfter gesehen, als drei Mal."
„Für mich zählt diese Regel nicht. Ich gehe nicht auf Dates."
„Warum eigentlich nicht?"
„Weil ich keine drei Dates abwarten will", lachte Izzy und sie verdrehte die Augen.
Als sie in Anchorage ankamen, war sie froh, dass Izzy bei ihr war. So hatte sie zumindest einen berechtigten Grund, so zu tun, als würde es sie völlig kalt lassen, das Gebäude des Eislaufvereins zu betreten, die Flure entlang zu laufen, zu beten, niemandem zu begegnen, der sie erkennen würde, und letztendlich das Eis durch die Glasfronten zu erkennen, auf dem sie Lauren bereits ihre ersten Runden ziehen sah.
„Wie ausgestorben", bemerkte Izzy.
„Es ist Sonntagnachmittag", erwiderte sie und war unendlich froh, dass Lauren alleine auf dem Eis war. Die wenigen Besucher konnte sie in den Trainingsräumen üben hören, aber die meisten, die sich auf den Fluren tummelten, waren auf dem Heimweg. Izzy ging zu den Getränkeautomaten, um sich eine Flasche Cola zu holen.
Sie betrachtete Lauren durch die Glasscheiben, legte den Kopf schräg und zog die Augenbrauen zusammen. Irgendwie sah Lauren anders aus, als sie sie in Erinnerung gehabt hatte.
Izzy tauchte mit ihrer Cola in der Hand neben ihr auf und betrachtete Lauren ebenfalls eine kurze Weile.
„Spinn ich, oder versucht die Kuh eine billige Kopie von dir zu sein?"
In diesem Moment fiel ihr auf, was an Lauren so anders aussah. Jeder Mensch hatte auf dem Eis einen eigenen Stil. Nicht nur, was den Sport selbst betraf, sondern auch war die Kleidung anging.
Benny hatte immer Jogginghosen getragen, die mehr Taschen gehabt hatten, als Izzys Streetwear-Hosen und dazu hatte er meist ein eng anliegendes T-Shirt gewählt, das seine breiten Schultern, die trainierten Arme und seinen fast schon lächerlich definierten Waschbrettbauch perfekt zur Schau gestellt hatten. An den ganz kalten Tagen und an den ganz frühen Morgen hatte er auf dem Eis einen Pullover getragen. Seine Eislaufschuhe waren als einzige schwarz gewesen und Izzy hatte immer kommentiert, dass er vielleicht der einzige Junge war, der nicht schwul aussah, während er auf dem Eis Pirouetten drehte. Ihrer kleinen Schwester war die Kinnlade heruntergeklappt, als sie ihr gesagt hatte, dass Benny der einzig schwule Kerl aus dem gesamten Verein war. Oder zumindest der einzige, der sich öffentlich dazu bekannt hatte.
Cole war es egal gewesen, was er beim Training getragen hatte, solange es Markenkleidung gewesen und speziell aus einem Sportgeschäft gekauft worden war.
Lauren war immer in ihren Sportleggings und einem lockeren T-Shirt zum Training erschienen, manchmal mit Legwarmer, aber immer mit einem Pferdeschwanz und ihren schneeweißen neunhundert Dollar Eislaufschuhen.
Jetzt trug sie ein Eiskunstlaufkleid, das nicht spektakulär genug aussah, um für den eigentlichen Auftritt zu sein, aber es war dunkelblau und aus fließendem Stoff, der sich ihren Bewegungen anschmiegte. Ihre Haare hatte sie zu einem Knoten zusammen gebunden.
In anderen Worten: Lauren hatte ihren Stil übernommen.
Sie hatte zum Training immer ein Kleid getragen, das ähnlich ihrer teuren Wettbewerbs- und Meisterschaftskostümen gewesen war, um sich ein Bild davon zu machen, welche Bewegungen am besten aussahen und mit dem Schnitt und Stoff ihrer Kleidung kompatibel waren. Diese Kleider hatte sie in vier verschieden Farben gehabt. Blau, rot, weiß und schwarz. Und seit sie angefangen hatte, mit Cole zusammen zu laufen, hatte sie ihre Haare immer in einem Knoten getragen, weil sie bei manchen Figuren mit ihm Angst gehabt hatte, dass ihre Haare über das Eis schleifen oder ihm die Sicht verdecken würden.
Je länger sie Lauren anstarrte, desto unheimlicher wurde es ihr.
„Alles okay?", fragte Izzy. „Du siehst aus, als... würde gerade dein ganzes Leben an dir vorbei ziehen. Hast du gerade deine innere Mitte gefunden? Und wo ist überhaupt Cole?"
Sie drehte sich wortlos um und steuerte die Türe zur Eislaufhalle an. Cole war nicht hier, weil das ihre Bedingung für das Training heute gewesen war. Es war grausam genug, ihre ehemals beste Freundin so glücklich und unbeschwert und trainiert auf dem Eis laufen zu sehen.
Während Izzy sich in die oberste Reihe setzte und ihren Rubik's Cube aus der Tasche zog, ging sie hinunter zu Lauren, die strahlend auf sie zuraste. Ihre Knie begannen zu schlottern, je näher sie dem Eis kam, aber sie riss sich zusammen.
„Ich bin wirklich froh, dass du hier bist", lachte Lauren glücklich.
Sie versuchte sich ein Lächeln aufzuzwingen, aber sie bekam nur ein: „Du siehst anders aus", über die Lippen.
Lauren sah zögerlich an sich herunter. „Tu ich das? Ich wollte nicht ganz so schäbig auftauchen..."
Reagierte sie über? Sah sie Dinge, die gar nicht da waren? Es gab tausende Eiskunstläuferinnen, die in einem Kleid trainierten. Vielleicht hatte Lauren sie gar nicht kopieren wollen.
„Du hast neue Schuhe", bemerkte sie, nun, da sie die Eislaufschuhe aus der Nähe betrachtete.
Lauren begann zu strahlen. „War ein Geburtstagsgeschenk meiner Eltern. Maßgeschneidert aus Italien. Siehst du die goldenen Details? Und die kleinen Glitzersteinchen? Sieht richtig edel aus, oder?"
„Wie wär's wenn du mir den Teil der Performance zeige, der nicht Cole involviert?", fragte sie. Lauren verstand den Wink und nickte verhalten.
„Sicher."
Richtig edel. Maßgeschneidert aus Italien. Hätte sie nicht vorher noch meditiert, wäre sie vielleicht zu Izzy gegangen und hätte Laurens Worte beleidigt nachgeäfft. Dumme Ziege.
Sie atmete tief durch und versuchte ihren Ärger gehen zu lassen, aber es klappte nicht. Warum war sie überhaupt hier? Was wollte sie sich beweisen? Sie konnte nicht über ihren Schatten springen. Sie hätte sich am liebsten zusammengerollt und ein bisschen geschrien. Sie hätte Lauren in ihren maßgeschneiderten italienischen Eislaufschuhen gerne umgeschubst.
Sie sah zu Izzy hinauf, die ihren Blick erwiderte und gespannt dabei zusah, wie Lauren die Musik auf dem kleinen Radio von neuem startete, weil die großen Musikboxen, die die ganze Halle beschallen konnten, um diese Uhrzeit nicht mehr eingeschaltet waren, und sich in der Mitte der Eisfläche bereit machte.
Die ersten Takte der Musik, die ersten Bewegungen ihrer Freundin, raubten ihr den Atem und je länger sie zusah, desto mehr glaubte sie, in einem Alptraum gefangen zu sein.
Der Rhythmus, die Bewegungen, die Figuren, das Timing. Alles an Laurens Performance saß ihr in ihren eigenen Muskeln und Knochen. Es kam ihr vor, als starrte sie in einen Spiegel. Sie merkte kaum, wie die Zeit verging, aber als Lauren wieder auf sie zukam, hatte sie das Gefühl, als habe ihre Seele ihren Körper verlassen.
„Und? Was sagst du?", fragte Lauren mit einem unschuldigen Lächeln im Gesicht. Sie grub ihre Finger ins Geländer, um Lauren nicht wirklich umzuschubsen, ihr das Gesicht zu zerkratzen und sie zu fragen, ob Cole sie auf dem Eis auch auf den Kopf hatte fallen lassen.
„Was soll das?", fragte sie kühl.
„Was meinst du?" Lauren sah sie verwundert an und für einen Augenblick lang fragte sie sich, ob sie sich Dinge einbildete, die nicht wirklich passierten. Ob sie voreingenommen war. Sie ruderte zurück.
„Woher kam die Performance?", fragte sie, so beschwichtigend und beiläufig wie möglich. „Habt ihr euch das selbst überlegt? Du und Cole. Paddy?"
Sie neigte den Kopf hin und her. „Das... meiste kam von mir."
„Von dir", wiederholte sie und hatte keine Lust mehr, zu verstecken, was in ihr vor sich ging.
Laurens Lächeln verrutschte ein wenig. „Ich hab mich... inspirieren lassen."
„Von mir", stellte sie fest. Sie hatte es sich also nicht eingebildet. „Inspirieren?" Kopieren. Das hatte Izzy gesagt und so fühlte es sich auch an. Sie wusste nur nicht, was sie nun damit anfangen sollte. Lauren hatte zugegeben, dass mehr als die Hälfte von dem, was sie eben auf dem Eis abgeliefert hatte, eigentlich ihr Verdienst gewesen war. Es war ihre Performance, ihr Stil, ihre Kreativität, ihr Leben.
„Versuch beim nächsten Mal auf deinen Knie zu achten", murmelte sie verbissen. „Du streckst sie immer noch zu sehr durch." Sie hatte keine Lust, Lauren weitere Dinge aufzuzählen, auf die sie achten sollte, auf die man eigentlich nur Anfänger aufmerksam machen musste.
Sie hätte man darauf nicht aufmerksam machen müssen, aber sie konnte nicht an den Nationalmeisterschaften teilnehmen.
Schlecht gelaunt ging sie hinauf zu Izzy und ließ sich neben ihr fallen, während Lauren wieder ganz bei sich und der Musik war und sich elegant übers Eis bewegte.
„Und? Was hat das Chamäleon gesagt?", fragte Izzy. „War das nicht zu neunzig Prozent die Performance mit der du damals die Regionalmeisterschaften gewonnen hast? Ich frage mich, was Cole in den anderen zehn Prozent beizutragen hat." Sie antwortete nicht. „Naja. Wenn sie mit der Jury schläft, fällt das vielleicht niemandem auf."
Sie hatte selten eine so große Wut in sich verspürt, dass sie kein Wort herausbrachte. Ihre kleine Schwester schien zu merken, dass all ihre Scherze an Witz verloren hatten und richtete den Blick aufs Eis. Lauren landete einen perfekten dreifachen Flip und sie biss die Zähne zusammen. Das wenigstens unterschied sich von ihrer Performance. Sie war einen perfekten dreifachen Axel gesprungen. Sie war das einzige Mädchen in dem Verein gewesen, das einen dreifachen Axel geschafft hatte, einen Sprung mit nicht nur drei Umdrehungen, sondern dreieinhalb, weil man ihn in Laufrichtung nach vorne hin absprang, was weitaus schwieriger war, als alle anderen Sprünge, die rückwärts abgesprungen wurden.
Cole und Benny war es immer leichter gefallen, viele Umdrehungen zu schaffen, einfach, weil sie eine stärkerer Sprung- und Rotationskraft hatten, als sie sie je hätte haben können. Besonders Benny war fast unschlagbar. Seine Sprünge waren absolut fehlerfrei und sauber, messerscharf und noch nie hatte er einen Punkteabzug bekommen, weil seine Umdrehungen nicht vollständig gewesen wären.
Sie erinnerte sich noch genau daran, wie sie monatelang, jeden Abend, nachdem schon alle ihre Sachen gepackt hatten und nach Hause gefahren waren, bis zum Umfallen eine vierfache Umdrehung hatte schaffen wollen und jedes Mal frustriert gescheitert war. Sie hatte im Trainingsraum ihre Sprunghöhe trainiert und versucht, an Gewicht zuzulegen, aber über den dreifachen Axel war sie nie hinausgekommen.
Sie war sich sicher, dass sie es eines Tages gekonnt hätte und in ihrem Magen breitete sich Lava aus.
„Sie wird nie du sein", sagte Izzy in einem schwachen Versuch, sie aufzumuntern. Sie überlegte, ob sie Lauren zurufen sollte, dass sie bei ihrem nächsten Sprung auf ihren viel zu konzentrierten Gesichtsausdruck achten sollte. „Sieh sie dir an. Sie ist gut, keine Frage, aber... wenn sie läuft, dann ist da immer etwas, das nicht ins Bild passt, etwas, das nicht richtig ist, etwas, das stört. Sie hat vielleicht die Technik drauf, aber es ist einfach keine Seele in dem, was sie tut. Wenn du auf dem Eis läufst, dann sieht es absolut makellos aus. Jede Bewegung fließt wie... wie Wasser durch deinen Körper. Es sieht so einfach und leicht aus, wenn du läufst. Selbst, wenn du auf die Schnauze fliegst, sieht es elegant aus." Sie sah Izzy an und Izzy erwiderte ihren Blick mit purer Aufrichtigkeit. „Wenn du übers Eis läufst, sieht es so aus, als wärst du der freiste Mensch der Welt." Das war vielleicht das größte Kompliment, das sie von Izzy jemals bekommen hatte. „Lauren wird niemals so gut sein wie du."
„Aber sie wird trotzdem haben, was ich will", brachte sie mit zitternder Unterlippe hervor, während ihr der Zorn in den Augen brannte.
*
„Hey!", rief sie Hao nach, als sie merkte, dass er in der Pause zwischen Englische Literatur und Geschichte vor ihr flüchten wollte. Sie wusste es deshalb, weil er sie von seinem Spind aus gesehen hatte. Ihre Blicke hatten sich getroffen und als sie einen Schritt in seine Richtung gemacht hatte, hatte er die Türe seines Schließfachs zugeknallt, sich umgedreht und wollte nun davoneilen.
„Hao!" Ihre Stimme musste ziemlich energisch geklungen haben. Vielleicht sogar wütend. Vermutlich kratzte die Sache mit Lauren immer noch an ihrer sonst recht widerstandsfähigen, harten Schale.
Hao blieb widerwillig stehen, drehte sich um und wartete, bis sie zu ihm aufgeholt hatte. Als sie bei ihm war, sah er sie nicht an. Sie griff in ihre Tasche.
„Deine Karte", sagte sie und hielt ihm die Pik Acht hin.
„Danke", zögerlich nahm er sie entgegen und sagte nichts weiter. Sie war sich nicht mehr sicher, was sie eigentlich zu ihm hatte sagen wollen. Sie war einfach nur irritiert und wütend darüber, wie die Dinge standen.
„Hör zu", seufzte sie schließlich, aber er unterbrach sie.
„Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe, okay? Können wir die Sache vergessen?"
„Du weißt, dass ich mit Jason zusammen bin, oder?" Sie war nicht nur mit Jason zusammen, sie war mit dem Bruder seiner Ex-Freundin zusammen.
„Ja, das weiß ich. Es tut mir leid. Ich hätte das nicht tun dürfen. Ich muss in die nächste Stunde."
Sie wollte noch etwas sagen; sie hatte nicht damit gerechnet, einfach so abgewürgt zu werden, aber sie wusste nicht, was sie darauf noch hätte sagen sollen. Sie hatte ihm keinen Vorwurf machen, sondern nur darüber reden wollen. War ihre Freundschaft jetzt zu Ende? War es das gewesen? Einfach so?
„Hast du nächsten Dienstag Zeit?", fragte sie schnell, bevor er sich wegdrehen konnte. Sie spürte keinen Hauch ihrer Wut mehr in sich. Was sie jetzt verspürte, war eine widerliche Art der Verzweiflung, weil sie nicht wollte, dass sie schon wieder einfach so von jemandem stehen gelassen wurde, den sie gerne hatte.
„Ich muss lernen", erwiderte er knapp.
Sie lächelte vorsichtig. „Ist ja nicht so, als hätten wir nie zusammen gelernt."
Er sah ihr direkt in die Augen und ihr Lächeln verblasste. „Ich mag dich zu gerne. Verstehst du das nicht?"
Am liebsten hätte sie ihm gesagt, dass er sich darum keine Sorgen machen musste, weil es nicht anhalten würde. Es hielt niemals an. Er war nur verliebt in sie, weil sie recht hübsch war, wenn sie ihre Narbe abdeckte und ihm stets die Version ihrer selbst gezeigt hatte, die jeder sehen wollte. Wie eine Aufziehpuppe sagte sie immer, was die Leute hören wollten.
Deshalb würde das, was er empfand, nicht anhalten. Deshalb würde auch das, was sie mit Jason hatte und das nun ihre Freundschaft mit Hao aufs Spiel setzte, nicht anhalten.
„Du hast gesagt, dass ich mich immer auf dich verlassen kann..." Sie konnte die Enttäuschung in ihrer Stimme nicht verbergen. „Dass ich auf dich zählen und mich immer melden kann."
Er nickte ernst. „Das hat sich nicht geändert. Wenn du mich brauchst, bin ich da, aber..." Er drehte den Kopf kurz zu seinem Klassenraum, in den die letzten Schüler eintrudelten. „Ich muss in meinen Kurs."
Die gesamte nächste Stunde über, in der er im Wahlfach für Naturwissenschaften saß und sie in Geschichte einen Faktencheck zum Schwarzen Donnerstag durcharbeiten sollte, dachte sie daran, wie unfair es war, dass er sich in sie verliebt hatte. Warum bemühte sie sich so sehr um ihre Freundschaften, wenn am Ende immer alles um sonst war? Sie wollte nicht, dass es um sonst war, sie hatte genug davon.
Die Aufgabenstellung verschwamm vor ihren Augen und sie begriff, warum Izzy nie jemanden an sich heranlassen wollte. Den Schmerz und die Enttäuschung waren die kurzen schönen Momente nicht Wert.
In ihrer Verzweiflung stellte sie sich einen Moment lang vor, was wohl passieren würde, wenn sie Hao nach dem Schultag abfangen und vorlügen würde, dass sie auch in ihn verliebt war. Dass sie ihn nicht verlieren konnte, weil ihre Gefühle zu tief verwurzelt waren. Ob er dann bei ihr bleiben würde? Ob sie es Jason würde verheimlichen können?
Als ihr klar wurde, in welche Richtung ihre Gedanken schweiften, fand sie, dass nun endgültig feststand, dass sie ein grauenhafter Mensch war.
„Andrew?", hörte sie Izzy am Abend fragen, als sie im Zimmer vor ihren Hausaufgaben saß und die beiden sich auf dem Flur über den Weg liefen.
„Hm?", machte er desinteressiert.
„Wenn ich jemanden umbringe und mich entschuldige, ist dann alles wieder gut?"
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