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„Ein Krug fasst 16x^5*y^4 cl Wasser. In eine Tasse passen 2x^2*y cl Wasser. Anna füllt Wasser aus dem vollen Krug in Tassen. Wenn sie ax^b*y^c Tassen füllt, was ergibt a+b+c?"
Sie hatte den blauen Gummiball zwischen ihren Sachen gefunden und warf ihn nun schon den ganzen Tag gegen diverse Wände und fing ihn wieder auf, wenn er davon abprallte. Gerade warf sie ihn gegen ihre Zimmerdecke. Irgendwie machte sie der Anblick des immer wieder zurückspringenden Balls traurig. Ihr tat der Ball leid. Seine Beschaffenheit, die Rundheit, die glatte Oberfläche zwangen ihn dazu, ein Ball zu sein. Er würde nie etwas anderes sein. Außer, wenn sie sich die Schere vom Tisch nehmen und ihn zerstechen und zerschneiden würde.
Wäre er dann noch ein Ball? War die kaputte Version eines Gegenstandes immer noch der Gegenstand selbst?
War sie, so kaputt sie auch war, immer noch sie selbst? Der Mensch war bestimmt komplexer als dieser kleine, handgroße Gummiball, aber wenn sie all ihre Kaputtheit aus der Gleichung strich, was würde dann übrig bleiben? War der Teil von ihr, den sie so gerne ausradiert hätte, ein Teil ihrer selbst? Machte er sie aus? Und wenn ja, was war sie gewesen, bevor es diesen Teil gegeben hatte? War sie immer noch sie selbst gewesen? Was war das wahre Selbst eines Menschen?
Julia hatte mit ihrer TV-Serie über Philosophen ein paar verrückte Gedanken in ihr losgetreten und das, obwohl sie nur fünf Minuten zugehört, bevor sie entschieden hatte, dass Sokrates, Platon und die ganzen alten Griechen einfach nur schlaue Möchtegernsprüche geklopft hatten.
Wenn sie seit der Diskussion mit ihrer Schwester noch einmal mit Hannah gesprochen hätte, hätte sie ihre Gedanken zu den Philosophen vielleicht mit ihr geteilt. Aber seit Hannah und sie das Thema Sex angeschnitten hatten, hatten sie nicht mehr wirklich miteinander geredet. Sie war sich nicht sicher, warum. Hannah war es unangenehm, dass sie gefragt hatte, und ihr war es auch unangenehm, dass Hannah gefragt hatte. Sie hatte nie zuvor mit Hannah über Sex gesprochen. Zumindest nicht über ihren. Hannah war mitteilungsfreudig.
Die Wahrheit war, dass sie keine Ahnung hatte, mit wie vielen Jungs und Männern sie in ihrem Leben schon geschlafen hatte. Es waren zu viele gewesen, besonders, als sie sich dafür hatte bezahlen lassen.
Unwillkürlich drifteten ihre Gedanken zu Justin und sie biss die Zähne zusammen, während sie den Ball kräftiger gegen die Wand warf.
„Hallo, jemand da? Hörst du mir überhaupt zu?"
„14", sagte sie und fing den Ball wieder auf.
Lionel schwieg. „Was?"
„Die Antwort ist 14."
„Gut, also Antwort D, aber könnten wir eventuell den Rechnungsweg in deinem Gehirn auseinanderdröseln, so dass ich ihn auch verstehe? Ich blicke nicht einmal durch die Angabe."
Sie setzte sich auf, nahm ihr Handy in die Hand und legte den Ball neben sich auf die Bettdecke.
„Du dividierst den ersten Term durch den zweiten. Das ist dann dein ax^b*y^c. Und dann addierst du nur noch die Variablen a, b und c. Ist echt nicht schwer."
„Echt nicht schwer", grummelte er und sie musste schmunzeln. „Ich hoffe, mein Mathemuskel wächst bald."
„Dein Mathemuskel?", wiederholte sie ungläubig.
„Wenn es den nicht gibt, dann ist alles hoffnungslos", erwiderte er und sie lachte. „Was machst du heute noch?"
„Zu Hause herumsitzen, einen Ball gegen die Wand werfen und dir Algebra beibringen."
„Das sind alles Dinge, die du auch bei mir machen könntest."
„Ach", schmunzelte sie.
„Ich habe eine Wand für deinen Ball."
„Wie einladend."
„Und eine Couch, auf der du herumsitzen kannst."
„Du bringst mich wirklich in Versuchung."
„Und meine Eltern sind nicht da."
„Schweig still, mein pochend Herz."
Lionel lachte. „Sag einfach Ja oder Nein."
Es war das erste Mal, dass Julia anbot, sie zu fahren. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte, aber sie lehnte nicht ab.
„Wann soll ich dich wieder abholen?", fragte Julia, als sie den Wagen in zweiter Spur vor dem Haus parkte, in dem Lionel mit seinen Eltern und der hässlichen grauen Katze wohnte, und den Blinker einschaltete.
„Kann ich dich anrufen?", fragte sie und Julia bedachte sie mit einem kurzen, unsicheren Blick. „Ich verspreche auch, dass ich nicht wieder von einen Brücke springen wollen werde."
„Zu früh", mahnte Julia sanft und sie schwang sich aus dem Wagen. „Ich meine es Ernst. Ruf an, bevor du in der Dunkelheit alleine mit dem Bus fährst."
Sie wollte Julia anschnauzen, dass sie kein kleines Kind war, dass sie auf sich selbst aufpassen konnte und warum zum Teufel sie plötzlich das Bedürfnis zu verspüren schien, sie zu bemuttern. Aber sie sagte nichts davon, schlug nur die Autotüre zu und drehte sich nicht mehr zu Julia um, während sie zur Haustüre ging und anläutete. Sie konnte es an der Türe kratzen und miauen hören, noch bevor Lionels Schritte erklangen.
Er grinste breit, als er ihr die Türe öffnete. „Endlich, das hat ja ewig gedauert."
„Hätte ich das Auto kurzschließen und selbst herfahren sollen?"
„Tu doch nicht so, als wäre das etwas, das du nicht zumindest in Betracht ziehen würdest", schmunzelte er, strich sich die Haare aus der Stirn und half ihr aus der Jacke -eine seltsam intime Geste, wie sie fand, aber zu ihrer Verwunderung störte es sie nicht.
Die Katze verkroch sich hinter der Couch und Lionel ging voraus auf sein Zimmer.
„Wo sind deine Eltern?"
„Sie treffen sich mit meiner Tante und meinem Onkel zum Abendessen und gehen danach alle zusammen ins Kino."
„Und bist du fertig mit Mathe, oder brauchst du noch Hilfe?"
„Nein, die Krug-Aufgabe war die Letzte." Er warf sich schwungvoll auf sein Bett. „Meine ganze Aufmerksamkeit gilt dir."
„So war das aber nicht abgemacht."
„Wo ist der Ball? Ich habe extra die Wände aufgezogen", schimpfte er. Es war die Empörung in seiner Stimme, die sie wieder zum Lachen brachte, als sie sich neben ihn setzte.
„Wie war deine erste Therapiestunde?", fragte er.
„Still", entgegnete sie.
„Du hast nicht viel gesagt, oder?", lachte er.
„Ich habe gar nichts gesagt. Warte, doch. Am Ende habe ich mich für ihre Zeit bedankt."
Lionel lachte wieder. „Das ist nicht wirklich der Sinn einer Therapiestunde."
„Danach ging es mir aber viel besser." Sie setzte ein starres, breites Grinsen auf. „Ich hab mich sehr befreit gefühlt. Wirklich!" Er stupste sie an und sie ließ das falsche Lächeln wieder fallen. „Das ist so dämlich. Wie sollte reden mir bei meinen Problemen helfen? Das wäre doch zu einfach."
„Es soll ja auch einfach sein. Wer hat gesagt, dass er schwer sein muss?" Ihr Leben war nie einfach gewesen und es lag in ihrer Natur, allem zu misstrauen, das ihr einfach erschien. So, wie sie bis heute, obwohl sie gut in Mathe war, jedes Ergebnis automatisch anzweifelte, das keine Dezimalzahl war. Bei ganzen Zahlen glaubte sie automatisch, sich verrechnet zu haben.
„Was könnte diese Frau mir sagen, das ich nicht längst über mein Leben weiß?" Sie hatte Lionel, als er sie das letzte Mal besucht hatte, davon erzählt, dass Dr. Perez von einer bipolaren Störung bei ihr ausging und Lionel hatte es aufgenommen, wie er alles aufzunehmen schien: Gelassen und aufgeschlossen, um mit ihr darüber zu reden, aber sie hatte nicht darüber reden wollen.
Frustriert ließ sie sich auf den Rücken fallen und er rutschte dicht an sie heran, sodass sich ihre Oberarme berührten. Sie sah an die Decke. Ein paar neue Zeilen waren hinzugekommen.
afraid of dying, but more afraid of never living in the first place
„Hör niemals auf zu schreiben", murmelte sie, fast verträumt. „Deine Zimmerwände sind... wie die wöchentlichen Erstausstrahlungen einer Serie, von der man nicht genug bekommen kann."
Er lachte. „Jeden Mittwoch um Punkt zwanzig Uhr."
„Ganz ohne Werbung."
„Vielleicht ein bisschen Werbung." Er griff nach ihrer Hand.
how am i supposed to follow my hearts lead, when my heart has lost its way?
You Bring Out The Worst In Me And I Like It
Put up all the red flags you want - I am colour blind and like to mistake red for green.
„Bist du glücklich?", fragte sie leise und drehte den Kopf zu ihm.
Er lächelte wehmütig. „Ich glaube nicht, dass ich noch weiß, wie sich das überhaupt anfühlt." Sie wünschte sich, dass er glücklich war, aber gleichzeitig fühltet sie sich vielleicht genau deshalb, weil er es nicht war, so wohl bei ihm.
„Denkst du, dass du wo anders glücklicher wärst? In einer anderen Stadt, mit anderen Leuten, an einer anderen Schule? Oder mit Geld?", schlug sie träumerisch vor. „Richtig viel Geld. Einem coolen Auto und einem großen Haus mit Garten und Pool und nie wieder Algebra."
Er schmunzelte, senkte aber den Blick. „Wenn du jetzt nicht glücklich bist, dann wird dich kein Haus und kein Auto und kein Geld der Welt glücklich machen."
„Was zum Teufel ist denn dann der Sinn an dem Ganzen?"
Er hob ratlos die Augenbraune. „Vielleicht gibt es keinen. Gegenstände machen jedenfalls nicht glücklich. Das können sie gar nicht. Sie sind nur für das ausgelegt, was sie eben tun sollen. Ein Auto muss fahren, in einer Wohnung musst du wohnen können und... das teurer Parfüm muss nur gut riechen, verstehst du? Dinge machen nicht glücklich. Aber schön wäre es schon. Wenn alle Probleme einfach so mit Geld gelöst werden könnten. Viele können es, aber das eigene Glücklichsein?"
Sie biss sich auf die Unterlippe. „Und eine neue Schule? Macht das glücklich?"
Er zuckte mit den Schultern. „Dich bestimmt, nach allem, was passiert ist, aber Arschlöcher gibt es überall."
„Du bist ganz schon deprimierend."
„Das sagt ja die Richtige."
„Was ist mit einem anderen Bundesstaat? Oder einem anderen Kontinent?"
„So schlimm ist es hier doch gar nicht." Er ließ ihre Hand los und räkelte sich. Den Blick auf die Decke gerichtet, sagte er: „Kein Ort der Welt ist hässlich. So wie es auch kein schlechtes Wetter gibt. Es gibt nur eine negative Einstellung."
„Sag das bitte das nächste Mal einem Obdachlosen, wenn du einen siehst", murmelte sie.
„Siehst du?"
„Du findest meine Einstellung negativ?"
„Ist das eine Fangfrage?"
„Wenn nichts von all den Dingen glücklich macht", beharrte sie. „Kein Gegenstand und kein... Essen, kein Buch und auch sonst nichts, was denn dann?"
Er hatte bestimmt Recht. Mit all den Dingen, die in seinem Kopf umherspukten und ihn unglücklich machten, wäre er mit allem Reichtum der Welt nicht glücklicher gewesen. Vielleicht eine Weile, aber nicht auf Dauer. Sein Herz würde immer schwer bleiben.
Und ihres vermutlich auch.
Sie stellte sich vor, wie sie in einem riesigen Haus säße. Alleine. Mit Schmerzmitteln und anderen Medikamenten auf dem Couchtisch und falschen Freunden in ihrer Kontaktliste. Einem vollen Kühlschrank, aber ohne die Kraft, sich etwas zu Essen zu kochen. Mit Pool und Garten, aber der Gedanke daran, sich in die Sonne zu legen, war zu ermüdend.
Immer noch alleine.
Immer noch zu viel.
Immer noch zu sehr sie selbst mit derselben Vergangenheit.
Nein, in diesem Leben würde sie wohl nie mehr glücklich werden.
Aber worin lag dann der Sinn? Warum durften manche Leute nur den Krieg erleben und andere den Frieden genießen?
„Was macht glücklich?", wiederholte sie.
„Ich habe keine Ahnung." Lionel sah sie ziemlich ratlos an, aber der Gedanke daran, dass vielleicht alles völlig sinnlos war, schien ihn nicht zu beunruhigen. „Du machst mich ziemlich glücklich."
Sie stieß einen angewiderten Laut aus und er schmunzelte. „Ekelhaft. Und paradox. Warum sollte dich jemand glücklich machen, der so unglücklich ist?"
Sein Grinsen wurde breiter. „Dank dir habe ich gelernt, dass zwei Mal negativ ein positives Ergebnis bringt."
Sie stieß selbigen angewiderten Laut noch einmal aus. „Jetzt hör aber auf." Er kicherte und dann war es wieder einen Augenblick lang still und sie dachte nach.
„Glaubst du, dass jeder Mensch glücklich werden kann? Irgendwann?"
Er schüttelte ohne zu zögern den Kopf. „Nein. Ich glaube, manche Menschen werden niemals glücklich sein."
Sie fragte sich, ob sie so ein Mensch war.
„Du solltest dir darüber keine Gedanken machen", lächelte er zuversichtlich, drehte sich wieder auf die Seite und sah sie an. „Solange ich dich hin und wieder zum Lachen bringen kann, weigere ich mich zu glauben, dass du für den Rest deines Lebens unglücklich bleiben wirst."
*
Als sie Hunger bekamen, fragte Lionel sie, ob sie bleiben wollte. Sie hakte nach, ob er meinte, dass sie die Nacht hier verbringen sollte.
„Nur, wenn du willst", schob er sofort hinterher und während er eine große Pizza bestellte, schloss sie sich im Badezimmer ein und rief Julia an.
„Hallo!", drang Julias fröhliche Stimme aufgeregt durchs Telefon. „Soll ich dich abholen?"
Sie ging die wenigen Schritte, die das Badezimmer zuließ, auf und ab. „Nicht wirklich... Eigentlich wollte ich fragen, ob ich..."
Julia seufzte, aber es klang nicht unbedingt genervt. „Ich hätte es wissen müssen. Das nächste Mal kann ich gleich einen Koffer für dich packen, wenn ich dich bei diesem Jungen absetze, oder?"
„Nur heute."
„Du hast morgen um zehn Uhr deinen nächsten Termin bei Dr. Perez."
„Ich weiß, ich bin pünktlich wieder zurück."
Sie wusste, dass Julia es ihr nicht verbieten würde. Sie wusste nicht, warum sie das wusste, aber es war so.
„Soll ich dich morgen Früh abholen?", fragte Julia.
„Ich geb dir noch Bescheid", sagte sie schnell und legte auf. Seit sie im Krankenhaus gewesen war, hatte sich etwas zwischen ihr und Julia verändert und noch wusste sie damit nichts anzufangen.
Die Pizza kam und sie setzten sich an den Küchentisch, während die graue Katze um Lionels Beine streifte. Als sie fertig gegessen hatten, war es kurz nach zehn und er gab ihr ein T-Shirt von sich und eine Jogginghose, die ihr viel zu lang war, aber angenehm nach ihm roch, und sie kuschelten sich in sein Bett. Seine Decke war groß und fluffigweich und erinnerte sie an die Bettwäsche, die Ms. Davis in ihrem Gästezimmer gehabt hatte, in dem sie und Hannah manchmal übernachtet hatten, wenn ihre Mutter wieder herumgestreunt war, aber diese Erinnerung war schon fast verblasst.
Ihre Gesichter lagen dicht beieinander, sie konnte seinen Atem auf ihrer Haut spüren. Er legte unter der Decke einen Arm um sie und zog sie noch näher an sich heran. Sie spürte die Wärme, die sein Körper ausstrahlte.
Ihr Puls raste. Plötzlich war ihr Mund ganz trocken. Ihre Brust schnürte sich zusammen und schwindelerregende Hitzewellen durchzogen ihren Körper. Es pochte hinter ihren Schläfen. Sie merkte, wie ihr ganzer Körper steif und angespannt wurde.
Lionel sah ihr in die Augen. „Du hast mich zwar letztens ausgelacht, als ich gefragt habe, ob ich dich küssen darf, aber..." Er betrachtete sie. „Diesmal wirst du Nein sagen, oder?"
Eben noch hatte sie sich gefreut, bei ihm bleiben zu können, dass Julia ihr erlaubt hatte, hier zu schlafen, aber jetzt drehte sich ihr der Magen um, bei dem Gedanke daran, sich mit ihm ein Bett zu teilen.
„Ich weiß auch nicht...", murmelte sie. Etwas war nicht richtig, etwas fühlte sich seltsam an.
Er ließ sie los. „Willst du doch lieber nach Hause?"
Sie schüttelte den Kopf. Ihr Körper fühlte sich an, wie damals, als ihre Mutter ihr zum ersten Mal Drogen gegeben hatte und sie Justin begegnet war. Irgendetwas in ihrem Unterbewusstsein schien zwar verzweifelt nach Hause zu wollen, aber der bewusste Teil in ihrem Kopf wollte unbedingt hier bleiben, weil sie sich doch bei ihm so verstanden fühlte. Sie entschied sich dafür, all diese ekelerregenden, widerwärtigen Gefühle, die in ihr aufkamen, niederzukämpfen.
„Mir geht's nur irgendwie... nicht gut." Ihr wurde übel.
Lionels Hand wanderte an ihr Handgelenk und seine Finger drückten sich genau an die Stelle, an der auch Justin vor ein paar Jahren ihren Puls gemessen hatte. Dachte Lionel, dass sie sich im Badezimmer vor dem Essen heimlich einen Schuss verpasst hatte?
„Es ist alles okay", sagte er ruhig. „Du hast nur eine Panikattacke. Das vergeht."
„Eine was?" Das war lächerlich. Sie bekam keine Panikattacken. Panikattacken waren etwas für schwache Menschen. Für weinerliche Menschen. Sie hatte nie welche gehabt und schon weit Schlimmeres erlebt, als neben einem Jungen im Bett zu schlafen. Lachhaft.
„Ich bin sicher, dass ich keine Panikattacke habe. Ich bekomme prima Luft."
„Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun", schmunzelte er. „Glaub Hollywood doch nicht, wie sie psychische Probleme darstellen. Nicht jeder wälzt sich bei einer Panikattacke wie ein epileptischer Fisch auf dem Trockenen am Boden herum."
Sie drehte sich auf den Rücken. Ihr Puls raste, ihr Herz hämmerte unangenehm gegen ihre Brust. Ihre Hände begannen zu kribbeln.
Was, wenn sie gerade einen Herzinfarkt bekam? Oder sonst etwas mit ihr nicht stimmte, und sie hier und jetzt sterben würde? Der Gedanke machte ihr panische Angst und sie fragte sich, wie sie es geschafft hatte, sich fast von einer Brücke zu stürzen, aber den Gedanken an einen Herzinfarkt nicht ertrug.
„Es geht vorbei", sagte Lionel noch einmal mit ruhiger Stimme.
„Hattest du sowas schon Mal?", fragte sie ihn.
Sie spürte, dass er mit dem Kopf nickte. „Das erste Mal war es so schlimm, dass ich die Treppenstufen hier nicht mehr hoch gekommen bin. Mein ganzer Körper hat sich taub und lahm und schwer angefühlt, wie bei einer richtig fiesen Grippe mit hohem Fieber. Ich hab meine Mom angerufen und sie ist von der Arbeit hergefahren und hat mich ins Krankenhaus gebracht. Als wir dort ankamen, ging es mir wieder gut. Die Ärzte haben trotzdem ein EKG gemacht, um zu sehen, ob mit meinem Herz alles okay ist, weil es so gerast hat. Aber es war alles im grünen Bereich. Meine Mom hat mich wieder mit nach Hause genommen und in derselben Nacht ist es wieder passiert. Ich dachte, ich müsste sterben."
Er sprach so ruhig und strich mit seinem Daumen sanft über ihren Unterarm.
„Ich hab aber keine Angst", sagte sie.
„Vielleicht nicht bewusst. Aber dein Körper reagiert trotzdem mit Angstsymptomen."
„Jetzt entwickelt mein Körper auch noch ein Eigenleben, wunderbar."
„Ich bin sicher, das hatte er schon davor." Er rutschte unter der Decke hervor, ging zum Fenster und öffnete es weit.
„Das hilft mir immer", sagte er, als sie der Schwall kalte Luft traf. „Ich weiß nicht, wieso, aber... Kälte hilft." Sie schob die Decke zur Seite, stellte ihre Füße auf dem kalten Boden ab und trat zu ihm ans Fenster. Sie begann schnell zu zittern, und er legte die Arme um sie, erst nur vorsichtig, um ihr den Raum zu lassen, den sie brauchte, aber sie wollte von ihm festgehalten werden, weil er immer noch so schön warm war, also drückte er sie fest an sich, während die eiskalte Luft ihre Lungen füllte. Draußen war es stockfinster, die nächste Straßenlaterne stand bestimmt fünfzig Meter entfernt und im gegenüberliegenden Haus brannte kein Licht.
Es dauerte wirklich nicht lange, bis sich ihr Puls wieder beruhigt hatte, ihre Gliedmaßen sich wieder normal anfühlten und ihr Kopf wieder leichter wurde.
„Besser?", fragte er und sie nickte, kroch wieder unter die Decke und Lionel schloss das Fenster.
Es war alles okay. Es gab absolut keinen Grund für etwas so bescheuertes, wie eine Panikattacke. Es war doch alles gut, oder nicht? Er legte sich wieder zu ihr ins Bett und schloss seine Hände um ihre eiskalten Finger.
Es war alles gut.
*
Diesmal setzte sie sich zur Wehr.
Sie trat und schlug um sich, er drückte sich mit seinem gesamten Körper gegen sie, drückte ihre Arme nach oben und presste sein Gesicht gegen ihren Hals, berührte ihren Körper, sie schrie um Hilfe, schrie nach Hannah, aber kein Laut drang aus ihrer Kehle, dafür strömten ihr die Tränen wie Bäche über die Wangen. Sie spürte ihn, sie spürte alles, den Schmerz, die Angst, ihre krampfenden Muskeln und als sie endlich aufwachte, versuchte sie immer noch, sich aus Lionels Armen zu befreien.
„Hör auf, du träumst, wach auf, Izzy! Du träumst nur. Hör auf."
Sie bekam keine Luft und ihr Gesicht war völlig nass, sie war sich nur nicht sicher, ob es Tränen waren, oder ob sie so sehr schwitzte. „Hör auf", wiederholte er, lockerte seinen Griff aber nicht. Er hielt sie fest umschlungen und drückte ihre Arme gegen ihre Brust. Ein Bein hatte er um ihre geschlungen und obwohl sie ihn eben noch von sich hatte drücken wollen, wäre sie jetzt am liebsten in ihn hineingekrochen. Ihr Körper krümmte sich zusammen und sie erwartete, dass sie gleich furchtbar Schluchzen würde, aber nichts passierte. Es waren nur ihre Muskeln, die sich anspannten und vielleicht bemühten, all ihren Schmerz gefangen zu halten.
Als sich ihr Herzschlag und ihre Atmung wieder beruhigt hatten, lockerte Lionel seine enge Umarmung.
„Hab ich dir wehgetan?", fragte er besorgt. „Ich hatte Angst, dass du dir wehtust. Oder mir, wenn wir schon dabei sind."
Sie blieb still liegen. Sie war sich unsicher, ob es etwas zu sagen gab. Sie war so erschöpft, dass sie vermutlich gleich wieder hätte einschlafen können, aber jedes Mal, wenn sie wieder in ihren Schlaf abdriftete, wachte sie ruckartig wieder auf. Nach dem vierten Mal gab sie es auf.
Mit einer Hand strich er ihr über die Haare und sie musste fast lächeln, weil es sich so anfühlte, wie es aussah, wenn er seine Katze hinter den Ohren kraulte. Jetzt begann sie doch ganz still und heimlich zu weinen. Sie wusste nicht, was sie mit einer so liebevollen Geste unmittelbar nach einem so grauenvollen Traum anfangen sollte.
Irgendwann wand sie sich aus seiner Umarmung, trocknete sich das Gesicht und setzte sich im Bett auf. Ihr war immer noch viel zu warm und sie wusste nicht recht, wohin mit sich. Sie wusste nicht, was dieser Traum zu bedeuten hatte, aber er drehte ihr den Magen um und einschlafen wollte und konnte sie nicht mehr.
So war das nicht passiert, so wäre es niemals passiert.
Plötzlich erwischte sie sich bei dem Gedanken, Justin anrufen zu wollen. Ihm zu schreiben. Zu ihm zu fahren. Den Streit zu klären, sich selbst zu beweisen, dass sie bei ihm sicher war und sie überreagiert hatte. Sich die Angst vor einem Wiedersehen mit ihm jetzt sofort zu nehmen.
Ihre Gefühle waren völlig durch den Wind und sie wusste nicht mehr, was sie denken sollte. Was passiert war, hatte sich genauso angefühlt, wie in dem Traum, aber so war es nicht gewesen. So war es nicht gewesen.
Wenn sie alleine gewesen wäre, hätte sie Justin angerufen. Das wusste sie, es hatte keinen Zweck, sich selbst zu belügen.
Aber Lionel setzte sich ebenfalls auf und fragte leise, ob sie nach unten in die Küche gehen und etwas trinken wollten und sie nickte.
Sie konnte die Kälte des Küchenfußbodens sogar durch ihre Socken hindurch spüren, obwohl die Luft warm war. Lionel setzte Wasser für einen Tee auf und sie schüttelte sich vor Kälte. Er griff nach dem Pullover, der über der Lehne der Couch hing, und gab ihn ihr, damit sie hineinschlüpfen konnte.
Der Stoff roch nach ihm und sie fühlte sich beinahe umarmt. Sie sprachen kein Wort, während er den Tee eingoss. Gänsehaut bedeckte noch immer ihren gesamten Körper.
Lionel saß neben ihr und war sich sichtlich unsicher, ob er etwas sagen, ob er sie ansehen, ob er sie berühren oder einfach in Ruhe lassen sollte.
„Willst du drüber reden?"
„Nein."
Er blickte in seine Teetasse, dann sah er sie wieder an.
„Was hast du geträumt?"
„Was hast du an meinem Nein nicht verstanden?", entgegnete sie in einem Tonfall, der ihr beinahe Angst machte. Sie sah ihm direkt in die Augen, um ihm deutlich zu machen, dass sie nicht darüber reden wollte, aber er sah nicht weg und ihr wurde unbehaglich zumute, also wandte sie den Blick selbst ab.
Sie wollte sich nicht an ihren Traum erinnern, aber er war viel zu schräg gewesen, weil sie sich nicht in Justins Zimmer befunden hatten, sondern auf dem Boden der Mädchentoilette an ihrer Schule. Sie erinnerte sich daran, dass Rebeca und die beiden Jungen da gewesen, zugesehen und sie ausgelacht hatten. Und ihre ehemalige Nachbarin, Ms Davis, war da gewesen, aber sie hatte sich nur die Hände gewaschen und war wieder gegangen.
„Willst du wirklich nicht darüber reden?"
„Hör auf damit!", blaffte sie sauer. „Mein Gott, können wir es nicht einfach sein lassen?! Es war nur ein beschissener Alptraum!"
„Okay", sagte er leise.
Ihr ganzer Körper fühlte sich an, als hätte ihn jemand von innen nach außen gekehrt und sie wippte mit dem Fuß auf und ab. Das unbändige Gefühl, dass nur Justin in Ordnung bringen konnte, was gerade passiert war -das Bedürfnis, aus seinem Mund zu hören, dass alles okay war und er sie immer noch liebte-, wurde fast übermächtig.
Lionel sah sie unsicher an.
„Lass das! Ich will nicht darüber reden, da gibt es nichts zu bereden!"
„Ich hab nichts gesagt..."
Sie kniff die Augen zusammen. War es das, wovor Dr. Perez sie gewarnt hatte, als sie gemeint hatte, dass sie alleine nicht mehr zurechtkommen würde? Hatte sich so ihre Mutter gefühlt? War sie gerade manisch? Sie war sich nicht sicher. Konnte ein einfacher Traum eine Episode auslösen? Nein, sie fühlte sich nicht gut, sie fühlte sich grauenhaft, sie konnte gar nicht manisch sein. Oder doch?
Sie hätte über sich selbst lachen können. Ihre eigene Mutter litt an einer bipolaren Störung und doch wurde ihr in diesem Augenblick bewusst, dass sie rein gar nichts über diese Krankheit wusste.
Nein, sie war okay. Der Traum war schuld an ihrem Befinden. Sie hielt sich den Kopf und versuchte ruhig zu atmen, aber das Durcheinander in ihrem Kopf fand keinen Halt. Ihre Gedanken sprangen wie ein Ping-Pong Ball in ihrem Kopf herum. Von ihrer Mutter zurück zu Dr. Perez, weiter zu Hannah, wieder zu Justin, dann zu dem Traum, zurück in die Realität, in der sie sich am liebsten in den Arm gebissen hätte, damit das alles aufhörte.
Lionel griff über den Tisch hinweg nach ihrer Hand. Sie war ganz verschwitzt.
„Ich will, dass das aufhört", sagte sie mit erstickter Stimme.
„Was kann ich tun?"
Sie schüttelte den Kopf. Wenn es in ihrem Körper eine Türe gegeben hätte, durch die sie hätte entfliegen können, wäre sie längst weg gewesen. Sie hätte ihre Hülle hier mit Lionel sitzen lassen und wäre davon gerannt.
Die Haustüre wurde aufgesperrt, sie sprang vom Stuhl auf, sah sich um, als müsste sie flüchten.
„Das sind nur meine Eltern", sagte er beruhigend. Er warf einen Blick auf die Uhr. „Sie kommen immer so spät, wenn sie abends weg waren."
Sie wollte weg, sich entweder im hintersten Eck der Küche verstecken, den seine Eltern vom Eingang aus nicht würden einsehen können, oder aber nach oben auf Lionels Zimmer laufen. Zweigespalten zwischen diesen beiden Optionen blieb sie wie angewurzelt stehen, bis Lionel aufstand und sie vorsichtig Richtung Treppenstufen schob, als die Türe aufging.
„Lionel", erklang eine erschrockene Frauenstimme.
„Wir gehen wieder hoch", sagte er nur.
„Wir?"
Sie drehte sich nicht um, aber spürte die Blicke in ihrem Rücken. „Ja. Gute Nacht." Er lächelte schief und schob sie unbeirrt die Treppenstufen hinauf.
„Deine Eltern wussten nicht, dass ich hier übernachte, oder?", fragte sie auf seinem Zimmer und setzte sich aufs Bett.
„Tja, was das angeht... Man sollte doch immer lieber um Verzeihung bitten, als um Erlaubnis, oder?"
Etwas an diesen Worten drehte ihr den Magen um und sie wandte den Blick ab.
„Aber sie kommen nicht gleich hoch und werfen mich raus, oder?"
Er lachte. „Niemals. Vielleicht werfen sie mich raus."
Ein paar Minuten später lagen beide wieder im Dunkeln und sahen an die Decke. Als Kind hatte sie immer Leuchtsterne an ihrer Decke haben wollen. War es kindisch, dass sie es sich in diesem Augenblick wieder wünschte? Würde Julia ihr das erlauben? Würde sie sich vor Hannah dafür so sehr schämen, dass sie die Sterne gleich wieder abmachen würde?
„Kann ich dich was fragen?", flüsterte Lionel in die Stille hinein, nachdem es im Haus ruhig geworden war.
„Muss ich antworten?"
„Wie du willst."
Sie kannte seine Frage. „Ich kann es dir nicht sagen. Ich... Ich weiß einfach nicht..." Sie merkte, wie sich ein Kloß in ihrem Hals bildet. Tränen tropften auf sein Kissen. Es war alles zu viel.
„Ist schon gut", wisperte er zurück, aber sie schüttelte den Kopf.
Am nächsten Morgen wartete sie auf seinem Zimmer, während er ihnen aus der Küche etwas zu frühstücken holte. Sie hatte ihm gesagt, dass sie keinen Hunger hatte, aber er wollte ihr einen Tee machen, bevor sie gehen musste und so konnte sie sich zumindest ungestört umziehen.
Sie konnte seine Mutter mit ihm diskutieren hören.
„Ich will nur vorher wissen, wenn du jemanden zu uns einlädst und hier schlafen lässt, Lionel."
„Notiert. Kann ich das Essen mit auf mein Zimmer nehmen?"
„Du kennst meine Antwort."
„Dann nehme ich die Frage zurück."
Sie konnte das Grinsen in seiner Stimme hören und die nächsten Worte seiner Mutter klangen entspannter. „Dann lass wenigstens die Türe offen."
„Mom, wenn wir Sex haben wollten, hätten wir es letzte Nacht getan."
„Lionel!"
„Hab dich lieb!", rief er noch und stieß keine fünf Sekunden später die Türe zu seinem Zimmer auf und mit dem Fuß wieder zu. Sie setzten sich auf sein Bett und sie nippte an dem Früchtetee, während er seine Cornflakes schaufelte.
„Soll ich dich dann nach Hause fahren?"
Sie merkte ihm an, dass er versuchte, gute Stimmung zu verbreiten und um ihretwillen zu ignorieren, was passiert war, aber sie war zu müde, um mitzuspielen. Die lange Nacht saß ihr noch in den Knochen und sie verspürte ein widerliches Kratzen im Hals, das sie auch mit dem warmen Getränk nicht wegspülen konnte.
Sie zuckte mit den Schultern.
„Gut, wenn es dir egal ist, dann fahre ich dich."
Zwanzig Minuten später standen beide im Hausflur und zogen sich Jacke und Schuhe an. Sie hatte ihre Hand schon auf der Türklinke, weil sie nicht noch einmal auf seine Mutter oder seinen Vater treffen wollte, als genau das passierte.
„Lionel!" Seine Mutter winkte ihn zu sich und sah sie über seine Schulter hinweg kurz an.
„Augenblick", lächelte er entschuldigend und ging zu seiner Mutter ins Wohnzimmer. Sie hatte nur einen kurzen Blick auf seine Mutter erhaschen können, aber sie war nicht so jung, wie sie gedacht hatte. Ihre dunklen Haare waren von ein paar grauen Strähnen durchzogen und sie hatte deutliche Falten unter den Augen. Augen, die sie an Lionel weitergegeben hatte.
Sie schlich sich so nahe an die beiden heran, wie es nur ging. Bestimmt hasste seine Mom sie. Welche Mutter würde sie nicht hassen? So, wie sie aussah, so, wie sie unabgesprochen hier übernachtet hatte, so, wie sie ohne ein Wort hatte gehen wollen. Sie biss die Zähne zusammen.
„Was willst du mir damit sagen?", fragte er leise. Er klang zu gleichen Teilen angespannt und verletzt.
„Was ist gestern Abend passiert, Lionel?"
„Sie hatte einen Alptraum."
„Sie sieht aus, als hätte sie die ganze Nacht geweint."
„Ja, weil sie einen Alptraum hatte!"
Beide schwiegen. Sie konnte die Anspannung spüren.
„Willst du mir etwas unterstellen?", fragte er sauer.
„Nein, ich will nur nicht, dass-"
„Ich bin nicht Charlie", unterbrach er seine Mutter. An der Art, wie seine Mutter nicht ein Wort erwiderte, glaubte sie, dass dieses Gespräch beendet war. Es kam ihr fast so vor, als hätte Lionel es eben für immer beendet, dabei wusste sie gar nicht, was los war.
Als sie seine schnellen Schritte wieder auf sich zukommen hörte, sprang sie zurück zur Türe und zog sich langsam die Handschuhe über.
„Bist du fertig?", fragte er, ohne sie anzusehen.
Sie nickte und er schob sie zur Türe hinaus, ohne sich von seiner Mutter zu verabschieden.
Die Fahrt verlief schweigend und in angespannter, erdrückender Atmosphäre. Am liebsten wäre sie an einer roten Ampel ausgestiegen. Lionel ignorierte sie und starrte stur die Straße entlang. Als sein Wagen vor Julias und Adams Haus parkte, blieb sie sitzen. Er sagte ihr nicht, dass sie gehen sollte. Seine Hände hielten immer noch das Lenkrad fest umklammert. Seine Knöchel traten weiß hervor.
„Wer ist Charlie?", fragte sie dann.
Lionel lockerte seinen Griff um das Lenkrad. Er wirkte nicht überrascht. „Mein Bruder."
Sie blinzelte überrascht. „Du hast mir nicht erzählt, dass du einen Bruder hast."
Ein bitteres Lächeln zog sich über seine Lippen. „Man geht ja auch nicht damit hausieren, wenn der eigene Bruder ein Vergewaltiger ist."
Sie war sich nicht sicher, was sie darauf sagen sollte. Nichts, das sie gesagt hätte, hätte das, was Lionel eben gesagt hatte, besser gemacht. Also richtete sie den Blick wieder nach vorne und hielt den Mund.
Sie glaubte, dass er verzweifelt darauf hoffte, dass sie etwas sagte, aber seine Worte hatten all ihre Worte aus ihrem Kopf gedrängt, um genügend Platz darin zu haben.
„Ich muss mich beeilen", sagte sie dann. „Julia fährt mich zu Dr. Perez."
Sie warf ihm einen flüchtigen Blick zu. Er nickte nur und wandte den Blick von ihr ab. Mit einem grauenhaften Gefühl in der Brust schwang sie sich aus dem Auto, schlug die Türe hinter sich zu und lief die Treppenstufen hinauf.
„Da bist du ja", begrüßte Julia sie, als sie in die Küche polterte. „Wir müssen gleich los."
„Eine Minute!" Sie rauschte an Julia vorbei, die Treppen hinauf in ihr Zimmer und atmete erst einmal tief durch. Dann riss sie sich die Kleidung vom Leib und zog sich um, bevor sie ihre Haare zusammenknotete und sich einen Kaugummi in den Mund warf.
Sie sah noch aus dem Fenster, aber Lionel war nicht mehr da.
*
Vor dem Fenster von Dr. Perez Praxis stand ein Baum. Sie wusste zwar nicht welcher Baum das war -er war völlig kahl- aber er war hübscher anzusehen, als Dr. Perez. Im Grunde genommen klebten ihre Gedanken immer noch bei Lionel, ihrem Traum und an Charlie. Sie wartete nur darauf, dass die Stunde vorbei war und Julia sie wieder abholte.
„Isobel, wenn du nicht mit mir redest, kommen wir nicht weiter", sagte Dr. Perez nun. Das letzte Mal, als sie hier gewesen war, hatte Dr. Perez sie gefragt, wie es ihr ging. Sie hatte nicht geantwortet und daraufhin hatte Dr. Perez ebenfalls geduldig geschwiegen. Sie hätte nicht gedacht, dass es jemanden gab, der ihr im Schweigen Konkurrenz hätte machen können. Fünfzig Minuten lang hatten die beiden geschwiegen.
Dr. Perez hatte heute dieselbe Frage gestellt, sie aber nur zwanzig Minuten lang Schweigen lassen.
„Ich habe gehofft, du hättest eingesehen, dass du ohne Hilfe nicht weiterkommst."
„Vielleicht will ich ja nicht weiterkommen."
„Weil es bequemer ist, da zu bleiben, wo du bist?" Sie schwieg. „Unsere Psyche ist recht witzig, wenn man darüber nachdenkt. Ich bin sicher, du warst früher anders. Ich bin sicher, du warst glücklicher. Zufriedener."
„Sie wissen gar nichts über mich."
„Das muss ich nicht. Als Kinder sind wir alle recht schlicht gepolt. Wir schreien, wenn wir Hunger haben, weinen, wenn uns etwas weh tut und lachen, wenn uns etwas gefällt. Unsere Welt ist in positive und negative Gefühle aufgeteilt. Wir streben immer nach dem positiven Teil. Zumindest, wenn wir in einem Umfeld aufwachsen, das uns zeigt, dass unsere positiven Gefühle tatsächlich schön und erstrebenswert und vor allem sicher sind. Wachsen wir in einem negativen Umfeld auf, -werden wir zu oft enttäuscht oder im Stich gelassen- kann es passieren, dass wir das Negative eher akzeptieren, weil es leichter ist. Weil wir es gewohnt sind. Wenn man glücklich ist, und jemand uns dieses Glück wegnimmt, ist es das schrecklichste Gefühl der Welt. Wenn man sich selbst aber niemals erlaubt, glücklich zu sein, wer sollte einem dann noch wehtun? Wer sollte einen enttäuschen, wenn man niemandem vertraut?" Dr. Perez legte ihren Stift zur Seite. „All die negativen Gefühle, werden nach und nach zu unserer neuen Komfortzone. Weil es leichter ist, unglücklich und alleine zu sein, als den Schmerz wieder und wieder zu ertragen, den der Verlust unseres Glücks und unseres Vertrauens und unserer Sicherheit mit sich bringt. Diese Mentalität ist für einen gesunden, erwachsenen Kopf nicht unbedingt nachvollziehbar. Aber es ist ein Selbstschutzmechanismus für viele Kinder und Jugendliche. Wenn man diese Verankerungen nicht löst, wird es im Erwachsenenalter sehr schwierig, ein gesundes Leben zu führen."
„Wenn ich Ihnen das nächste Mal direkt sage, wie es mir geht, ersparen Sie mir diesen Monolog dann?", fragte sie trocken.
Dr. Perez legte den Kopf schräg. „Izzy."
„Isobel", korrigierte sie sofort.
„Isobel. Du bist an einem Punkt angekommen, an dem du dir nicht mehr selbst helfen kannst. Du bist im Krankenhaus gelandet, für viele Tage, macht dir das keine Angst? Du kannst dir nicht mehr selbst helfen. Deine Schwester kann dir nicht mehr helfen. Lass mich dir helfen."
Natürlich machten ihr die Gedanken an ihren Krankenhausaufenthalt Angst. Natürlich machte es ihr Angst, wie kurz sie davor gestanden hatte, sich das Leben zu nehmen. Natürlich machte es ihr Angst, jemand anderem zu vertrauen, als sich selbst. Jede beschissene Sekunde, in der sie ihr Leben lebte, hatte sie Angst.
Aber noch viel größere Angst hatte sie davor, dass ihre eigenen Gedanken und Gefühle sie auffressen, sie bei lebendigem Leib verschlingen würden, wenn sie sie zuließe. Sie glaubte nicht, dass sie irgendetwas davon ertragen konnte, was sie so lange unter Verschluss gehalten hatte.
„Ich erwarte nicht von dir, dass du mir sofort dein tiefstes Innerstes vor mir offenbarst." Dr. Perez lehnte sich zurück. „Ich habe dich lediglich gefragt, wie es dir geht. Können wir da nicht anfangen?"
Sie holte tief Luft, stieß sie langsam wieder aus und drehte sich zu Dr. Perez.
„Ich weiß nicht, wie ich die Frage beantworten soll."
„Wieso nicht?"
„Weil es mir jetzt, in diesem Augenblick, nicht schlecht geht. Aber außerhalb dieses Jetzt ist alles ein bisschen komplizierter."
„Dann lass uns doch da anfangen. Wie fühlst du dich, jetzt, in diesem Augenblick."
„Genervt von Ihren vielen Fragen."
„Noch was?"
Sie seufzte. „Frustriert, weil Sie meinen Zynismus nicht verstehen."
„Oh, ich verstehe ihn, ich versuche nur, ihn zu ignorieren. Wie fühlst du dich noch?"
„Beleidigt, weil Sie meinen Zynismus ignorieren."
„Ich ignoriere ihn, weil er nichts weiter als ein Schutzmechanismus ist, der dir hilft, deine Gefühle zu verstecken und von dir fern zu halten. Das ist auch völlig okay, wenn du da draußen bist, in einer Welt, die dir beigebracht hat, so auf deine Gefühle zu reagieren. Aber wenn du meine Praxis betrittst, ist es wichtig, dass du deinen Zynismus und Sarkasmus an der Türe ablegst und mir ehrlich sagst, was in dir vorgeht. Nichts, was du sagst, wird diesen Raum jemals verlassen. Und wenn du eine meiner Fragen nicht beantworten kannst oder willst, dann musst du mir zumindest sagen, dass etwas in dir vorgeht, aber du nicht darüber reden willst."
„Gut, ich will nicht drüber reden."
„Das gilt erst, wenn du deinen Zynismus weglässt."
Sie verzog das Gesicht. „Alles an ihm?"
Dr. Perez Lippen zuckten und breiteten sich zu einem Schmunzeln aus. „Einen kleinen Teil darfst du behalten."
Sie sah wieder nach draußen. Die kahlen Äste bewegten sich im Wind. „Es ist einfach... alles scheiße."
„Was ist scheiße?"
„Alles eben."
„Zum Beispiel?"
Sie stieß genervt den Atem aus. So hatte sie sich eine Kooperation nicht vorgestellt. „Es sind zu viele Dinge."
„Nenn mir nur ein Beispiel."
„Ein Freund von mir hat mir eben gesagt, dass sein Bruder ein Vergewaltiger ist", sagte sie und sah zu Dr. Perez hinüber. „Das ist ziemlich scheiße. Zum Beispiel."
„Ein Freund von dir?"
„Ja."
„Schulfreund?"
„So in etwa."
„Warum hat er dir das erzählt?"
Sie zuckte mit den Schultern. „Ich hab gefragt."
Dr. Perez zog die Augenbrauen hoch. „Dann fragst du wohl öfter, ob die Geschwister deiner Freunde Triebtäter in Teilzeit sind?"
Sie verdrehte die Augen. „Nein, natürlich nicht." Knapp erzählte sie Dr. Perez, dass sie eine Diskussion zwischen Lionel und seiner Mutter überhört hatte, in der der Name Charlie gefallen war und dass sie nur nach dem Namen gefragt hatte.
„Er hätte es dir also nicht erzählen müssen?", hakte Dr. Perez nach. „Er war in keiner Position, in der er so etwas explizit hätte erwähnen müssen."
„Schätze nicht. Und?"
„Warum glaubst du, hat er es getan?"
„Keine Ahnung."
„Könnte es sein, dass er wollte, dass du es weißt?"
„Keine Ahnung."
„Wie war das für dich, als er das gesagt hat?"
„Können wir einen Augenblick lang nicht über mich reden? Davon bekomme ich Kopfschmerzen."
„Keine Sorge, dass sind nur die verrosteten Rädchen in deinem Gehirn. Du solltest öfter Mal über deine Gefühle nachdenken. Das schmiert diese Rädchen."
Sie starrte Dr. Perez einen Moment lang ungläubig an und dann musste sie auflachen. „Wenn Sie Sarkasmus verwenden dürfen, dann darf ich das auch."
„Nur, wenn du mir antwortest."
„Wie soll ich mich schon gefühlt haben? Wie fühlt man sich, wenn einem ein Freund sagt, dass der Bruder ein Vergewaltiger ist?"
Dr. Perez zuckte mit den Schultern. „Sag du es mir. Mir ist sowas noch nie passiert."
Sie verdrehte abermals die Augen, konnte aber nicht verhindern, dass sie anfing, so etwas wie Sympathie für Dr. Perez zu empfinden. „Keine Ahnung."
„Mein Lieblingsgefühl."
„Es hat sich... Es war..." Sie versuchte die richtigen Worte zu finden.
„Erschreckend?", bot Dr. Perez an.
„Vielleicht... Ich weiß um ehrlich zu sein einfach nicht, was ich mit dieser Information anfangen soll. Was er von mir erwartet. Ich weiß nicht, ob ich etwas darauf hätte sagen sollen."
„Manchmal wollen Menschen einfach nur, dass ihnen jemand zuhört. Sie wollen keine Antworten. Nur ein offenes Ohr." Sie nickte halbherzig. „Willst du mir etwas über diesen Freund erzählen?"
„Warum sollte ich das wollen?"
„Du willst nicht weiter über dich reden. Dann rede über jemand anderen", forderte Dr. Perez sie auf.
Sie musste zugeben, dass sie irritiert war. Sie hatte immer angenommen, dass Therapiestunden dafür da waren, das Innerste aus einem hervor zu schaben, alle Gedanken aus der Schädelinnenseite abzukratzen, vor einem aufzulegen und zu analysieren, aber das hier fühlte sie mehr nach einem Gespräch mit jemandem an, der sie zwar ernst nahm, aber dann auch wieder nicht. Es war zu oberflächlich, zu locker, zu... entspannt. So hatte sie es sich nie vorgestellt.
„Das hier ist kein Verhör, Isobel. Du kannst reden, wonach auch immer dir der Sinn steht." Dr. Perez lächelte sie an. „Aber rede."
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