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Weder sie, noch Hannah wurden oft krank. Manchmal glaubte sie, es war vorteilhaft, in so kaltem Wetter zu leben. Ihr Immunsystem hielt einiges aus, aber es war nicht aus Stahl. Und ihre Mutter hatte immer Alarm geschlagen, wenn sie oder Hannah Fieber bekommen hatten. Oft war es nur eine kleine Grippe gewesen, aber ihre Mutter hatte ihre Töchter trotzdem jedes Mal zum Arzt geschleppt.
Einmal hatte sie dabei im Wartezimmer ungefragt in ihre Tasche gegriffen und neugierig darin herumgestöbert.
„Warum hast du zwei Bücher in der Tasche?", hatte ihre Mutter gefragt.
„Warum nicht?"
„Die kannst du doch niemals jetzt lesen."
Sie hatte darauf keine Antwort gegeben und ihre Mutter hatte nach einem der Klatschmagazine auf dem niedrigen Tisch gegriffen.
„Willst du nicht etwas Richtiges lesen?", hatte ihre Mutter weiter gefragt. „Ständig diese... Horrorgeschichten. Das kann doch nicht gut sein."
„Was soll ich deiner Meinung nach denn lesen?"
Ihre Mutter hatte die Beine übereinander geschlagen und zu blättern begonnen. „Ich weiß nicht, vielleicht... etwas Klassisches."
Sie hatte geschnaubt. Wahrscheinlich hatte ihre Mutter nicht einmal gewusst, was Klassiker waren. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie ihr nicht einen einzigen hätte nennen können. Sie selbst hatte immerhin schon Dracula und Frankenstein gelesen. Horror, aber Klassiker.
Der Arzt hatte ihr Bettruhe verordnet und ihr etwas gegen die Fieberschmerzen verschrieben und als sie am Abend mit einem Buch in ihrem Bett gelegen und ihre Mutter an die Türe geklopft hatte, hatte sie es unter die Decke geschoben, weil sie sich nicht noch einen Kommentar über ihre heißgeliebten Thriller hatte anhören wollen.
„Hast du Hunger?", hatte ihre Mutter gelächelt und war mit einer Schüssel Tomatensuppe hereingekommen. Dem Geruch nach zu urteilen, war sie nicht aus der Packung gekommen und sie hatte sich gefreut. Als sie die warme Schüssel in den Händen gehalten hatte, hatte ihre Mutter sich neben sie aufs Bett gelegt. Sie war hinübergerutscht und ihre Mutter musste das Buch unter der Decke gespürt haben, denn sie hatte es neugierig hervogezogen und ihr einen halb amüsierten, halb entnervten Blick zugeworfen, tief geseufzt und sich den Klappentext durch gelesen.
Sie hatte ihre Mutter dabei betrachtet, während sie ihre Suppe geschlürft hatte. Sie war ein bisschen zu stark gesalzen, aber sie hatte nichts gesagt. Es kam zu selten vor, dass ihre Mutter selbst kochte und sie hatte nicht vorgehabt, aus dem selten ein nie zu machen, indem sie Kritik ihren Kochkünsten ausübte.
„Wo ist Hannah?", hatte sie dann gefragt.
„Beim Training. Weißt du, dieses Buch klingt nicht schlecht."
„Ist es auch nicht."
Ihre Mutter hatte sie angesehen, wie man eigentlich nur von einer besten Freundin angesehen werden konnte, die gerade etwas Verschlagenes ausheckt.
„Okay. Ich lese es", hatte sie gesagt.
„Bist du sicher?", hatte sie nachgehakt. „Willst du nicht lieber etwas Klassisches lesen?"
Ihre Mutter hatte sie angestupst, gelacht und einen Arm um sie gelegt.
„Mein Mädchen", hatte ihre Mutter glücklich geseufzt.
Wenn Hannah auch hier gewesen wäre, hätte sie den Arm ihrer Mutter weggestoßen und die Suppe nicht aufgegessen. Ihre Schwester hatte nicht wissen müssen, wie sehr sie sich nach der Aufmerksamkeit und Liebe ihrer Mutter gesehnt hatte. Wie schwach sie eigentlich war und dass sie auch jedes Mal glaubte, dass ihre Mutter sich ändern würde, wenn sie sagte, dass sie es würde. Ein endloses Auf und Ab. Ein endloser Hass. Eine endlose Liebe. Eine nie erfüllte Hoffnung.
Am nächsten Tag war es ihr besser gegangen, aber ihre Mutter hatte das Lithium wieder nicht genommen oder zu nehmen vergessen oder die Tabletten verlegt, oder sonst etwas. Als sie das nächste Mal in das Zimmer ihrer Mutter gesehen hatte, hatte das Buch unberührt auf dem Nachttisch gelegen und als sie Gill voller naiver Hoffnung gefragt hatte, ob sie das Buch vielleicht doch zu lesen begonnen und nur kein Lesezeichen verwendet hatte, damit sie endlich etwas mit ihrer Mutter teilen konnte, das ihr wichtig war, hatte ihre Mutter nur abweisend den Kopf geschüttelt.
„Nein, für diesen Blödsinn hatte ich in den letzten Tagen keine Zeit."
Das war nun bestimmt über ein Jahr her und das Buch hatte ihre Mutter nie gelesen.
Sie sagte sich gerne, wie sehr sie ihre Mutter hasste, aber die Wahrheit war, dass sie sie nur dafür hasste, nicht immer die Mutter gewesen zu sein, die sie in solchen Tomatensuppen-Momenten gewesen war. Sie hatte immer das Gefühl gehabt, dass ihre Mutter Hannah bevorzugt hatte und vielleicht stimmte das, aber vielleicht hatte ihre Schwester es auch einfach besser verstanden, die Tomatensuppen-Momente auszunutzen und für sich zu verwenden. Hannah hatte mit ihren Wünschen (nach neuen Eislaufschuhen, einem selbstgebackenen Schokokuchen, einem Buch) immer die Tomatensuppen-Momente abgewartet. Hannah war immer schon gut darin gewesen, Menschen auf ihre Seite zu ziehen. Das hatte sie gelernt.
Für sie war die ganze Sache simpler gewesen. Zu hassen war leichter, als zu lieben und das war das Ende der Gleichung. Es lebte sich leichter, wenn man nicht immer wieder verletzt und enttäuscht wurde und das schaffte man, wenn man seine Gefühle auf das absolute Minimum schraubte. Wenn man all die Liebe und Zuneigung und Leidenschaft, die man empfinden konnte, so klein zusammenquetschte, dass man sie fast nicht mehr fühlen konnte. Und je weniger Leuten man diese Gefühle entgegenbrachte, desto geringer war auch die Chance, dass sich ebendiese Gefühle gegen einen wandten.
Es wäre leichter gewesen, ihre Mutter nur zu hassen oder nur zu lieben. Sie fragte sich, ob Liebe und Hass kompatibel waren.
*
Irgendwann kam ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen in ihr Zimmer gelaufen und zeigte ihr glücklich ein Stickeralbum mit lauter Prinzessinnen, Herzchen, Krönchen und Pferdchen. Alles glitzerte und war ekelhaft pink.
Dann kam die Mutter der Kleinen hereingestürmt, entschuldigte sich bei ihr und hob das Kind hoch, um es hinauszutragen. Es hatte ihr über die Schulter seiner Mutter hinweg zugewinkt.
Das Stickerbuch lag noch auf ihrem Bett und sie blätterte darin herum.
Als sie noch klein gewesen war, waren Stickerbücher, Malbücher, Puppen und Spielzeuge ihre ganze Welt gewesen. Mehr noch, sie glaubte, dass sie als Kind in einer anderen Welt gelebt hatte. In einer fantasievollen, farbenfrohen Welt. Sie hatte sich nach der Schule auf ihrem Zimmer versteckt und sich die tollsten Fantasiewelten zusammengebastelt.
Wenn sie doch nur die Fähigkeit behalten hätte, immer und überall in eine andere Welt einzutauchen, dann wäre ihr in diesem Krankenhausbett bestimmt weniger langweilig gewesen. Vielleicht hätte sie es sogar aufregend gefunden.
Mit den Fingerspitzen pulte sie eines der Sticker herunter, betrachtete es und fragte sich, ob sie sich wieder glücklich fühlen würde, wenn sie sich wie ein Kind an solchen belanglose Dingen festklammern würde. Es war sicher angenehmer über ein verlorenes Stickerbuch zu weinen, als darüber, dass die eigene Mutter einfach so verschwand und es nicht für nötig hielt, sich nach ihr oder ihrer Schwester zu erkundigen. Es interessierte ihre Mutter nicht, was aus ihnen werden würde.
Wütend zerriss sie den Sticker in zwei Teile.
Es klopfte am Türrahmen und sie bemerkte erst jetzt, dass ihre Schwester sie beobachtete.
„Was hat dir der Sticker getan?", fragte Hannah, als sie das Zimmer betrat.
Sie zupfte einen weiteren Sticker herunter. „Wie würdest du das nennen?", fragte sie Hannah und hielt ihr den Sticker hin.
„Eine... Ballerinaprinzessin?" Hannah zog einen Stuhl an ihr Bett und setzte sich.
„Hm." Sie riss der Ballerinaprinzessing langsam ihren Kopf ab.
Hannah klappte das Stickerbuch zu und legte es weg. „Wir müssen reden."
Mit dem Körper der Ballerinaprinzessin auf dem einen Finger und ihrem Kopf auf dem anderen, sah sie zu ihrer Schwester auf. Hannah sah blass aus. Ihre Augen waren glasig und sie mied ihren Blick.
„Worüber?", fragte sie misstrauisch.
Hannah atmete schwer ein. „Über das, was Dr. Perez mit mir beredet hat."
„Und was hat sie mit dir beredet?" Dr. Perez erinnerte sie in vielerlei Hinsicht an Dr. Hale. Aber das hieß nicht, dass sie sie mochte, jetzt schon gar nicht. Dr. Perez konnte doch nicht einfach mit Hannah über etwas sprechen, das sie betraf.
Hannah knetete sich unruhig die Hände und je länger ihre Schwester nach den richtigen Worten rang, desto nervöser wurde sie.
„Jetzt spuck's schon aus."
„Dr. Perez hat gesagt, dass du vielleicht bipolar bist."
Nichts.
Im ersten Augenblick prallten Hannahs Worte an ihr ab, wie Wasser an Lotusblättern. Hannah hätte ihr genauso gut sagen können, dass sie Cornflakes zum Frühstück gegessen hatte. Sie wartete ruhig auf den Moment, in dem diese Worte an Bedeutung gewannen und ihr nicht mehr egal waren. Sie hatte das Gefühl, eine Spirale entlang zu gleiten, aber nicht am Boden anzukommen.
Hannah sah sie die ganze Zeit über an.
„Was?", fragte sie irgendwann und hoffte, dass eine Wiederholung der Worte etwas Klarheit in ihren Verstand bringen würde.
„Sie meinte, dass du manische und depressive Episoden hast. Und es dir deshalb so schlecht geht."
Sie konnte den Blick nicht von Hannah abwenden. Was sollte sie mit dem anfangen, was sie ihr gesagt hatte? Wie sollte sie reagieren?
„Aber es ist nur eine Vermutung, okay? Es kann sein, dass dir nichts fehlt."
Plötzlich merkte sie, wie sehr sie hoffte, dass es stimmte, was Dr. Perez vermutete. Jahrelang hatte sie sich gefragt, was mit ihr nicht stimmte. Dieses ständige Auf und Ab, das Gefühl, zu ertrinken, das Gefühl, zu fliegen, der plötzliche Wunsch von einer Brücke zu springen, die Sehnsucht danach, mit Justin wegzulaufen. Es hätte erklärt, warum so viele Leute fanden, dass sie zu viel war. Warum niemand mit ihr zurecht kam. Warum sie so extrem war.
Zugegeben, bestimmt hatte sie einfach ein extremes Naturell, aber sollte es stimmen, dass sie krank war, dann konnte sie vielleicht gesund werden. Sie hatte so lange Zeit geglaubt, dass es nun Mal ihr Schicksal war, so zu sein. Dass das sie war. In ihrer vollkommenen Gesamtheit. Aber wenn sie krank war, wenn etwas in ihrem Gehirn einfach nicht richtig verkabelt war und sie deshalb so fühlte, wie sie fühlte, dann-
Ihre Lippe begann zu zittern, sie kniff die Augen zusammen und weinte.
Sie weinte vor Erleichterung.
Hoffentlich, hoffentlich behielt Dr. Perez Recht. Hoffentlich war sie einfach nur völlig falsch gepolt. Denn wenn nicht, dann wusste sie nicht, wie lange sie sich von der nächsten Brücke würde fernhalten können.
„Keine Sorge", murmelte Hannah und griff nach ihrer Hand. „Ich bin mir sicher, dass du auch ohne bipolare Störung ziemlich schräg wärst."
Sie musste auflachen und Hannah schlang die Arme um sie.
„Ich verspreche dir, dass alles gut wird."
Angst vor Dr. Perez vorläufiger Diagnose bekam sie erst am Abend, als Hannah und sie in dem Krankenhausbett Karten spielten und sie sich daran erinnerte, dass ihre Mutter einmal völlig ausgerastet war, als sie beim Uno spielen verloren hatte. Sie hatte den Tisch umgeworfen, alle Karten waren auf den Boden gesegelt und die Plastikbecher waren auf dem Boden herumgerollt. Alles war nass mit klebrigem Saft und Wein gewesen.
„So ein dummes Kinderspiel!", hatte ihre Mutter gebrüllt und sie war wie versteinert dagesessen, während Hannah die Flüssigkeiten hastig vom Boden gewischt hatte. Sie hatte geglaubt, dass ihre Mutter nach ihr ausholen würde, wenn sie sich auch nur einen Millimeter bewegt hätte.
„Hey, was ist denn?", fragte Hannah und legte die Karten weg.
Jemanden zu lieben, der bipolar war, bedeutete nichts anderes, als Gefühle zu entwickeln, die genauso bipolar waren. Eine durchdringende, widerwärtige Hassliebe. Eine Hassliebe, die sie für ihre Mutter empfand. Eine Hassliebe, die Hannah für sie empfinden würde. Es vielleicht längst tat.
„Hast du Angst?", wisperte Hannah.
„Nicht vor der Krankheit", entgegnete sie. „Ich hab Angst davor, dass du auch so von mir denkst, wie von unserer Mutter." Hannah sah sie empört an, aber sie winkte ab. „Oh, bitte, ich weiß, was du von ihr denkst. Du denkst das gleiche, das ich von ihr denke. Dass sie schwach ist und uns alleine gelassen hat und sich nur mehr anstrengen müsste, damit es ihr besser geht. Willst du mir etwa erzählen, dass du sie nicht zumindest ein klein wenig hasst?" Hannah schwieg und ihr schossen wieder Tränen in die Augen. „Irgendwann wirst du auch so von mir denken."
„Hey, Izzy, nein!" Hannah rutschte entschlossen näher an sie heran. „So werde ich nie von dir denken, du bist nicht wie Mom. Das bist du nicht."
„Aber vielleicht werde ich es." Wer wusste schon, ob es nicht schlimmer werden würde? Ob sie nicht genauso wie ihre Mutter werden würde, wenn sie es doch war, von der sie es geerbt hatte? Ihre Mutter hatte sie auf mehr als einer Ebene verletzt und sie wäre lieber von zehn Brücken gesprungen, als diesen Schmerz einer anderen Person aufzubürden.
Hannah wischte ihr die Tränen von der Wange. „Niemals. Das lasse ich nicht zu, okay? Du wirst nicht Moms Leben leben. Du wirst ein gutes Leben leben. Du wirst deine Medikamente nehmen, du wirst zur Therapie gehen, ich werde immer bei dir sein und alles wird gut."
Sie wollte es glauben. Sie wollte sich daran festhalten. Im Grunde genommen konnte es jetzt nur besser werden, oder? Wenn sie eine bipolare Störung hatte, dann lebte sie schon einiger Zeit damit. Es zu wissen, änderte nichts an der Schwere der Krankheit, obwohl sie sich so fühlte, als würde sie bald sterben.
„Wenn es so leicht ist", begann sie und fing Hannahs Blick ein. „Warum hat unsere Mutter es dann nicht hingekriegt?"
Darauf hatte Hannah keine Antwort.
*
Seit sieben Tagen hatte sie das Gefühl, in einem dunklen, leeren, absolut stillen Raum zu sitzen. Als hätte man ihr alle Sinne geraubt.
Es fühlte sich an, wie diese widerlichen Tage, an denen man verzweifelt etwas tun wollte, das einen ausfüllte und einem Befriedigung verschaffte, aber nicht wusste, was das war und man schließlich schlecht gelaunt ins Bett ging. Multipliziert mit einer Milliarde.
Als sie die erste Nacht in ihrem Bett schlief fühlte sie eine seltsame Mischung aus Erleichterung und Hoffnungslosigkeit. Eine Angst und Perspektivenlosigkeit und gleichzeitig fühlte sie sich wohl und geborgen.
Sie war froh, als Hannah sich unter ihre Decke schmuggelte und ihre Arme um sie legte und ihr über die Haare streichelte.
An diesem Morgen hatte ihre Ärztin sie entlassen und Dr. Perez hatte Adam die Visitenkarte für ihre Praxis gegeben, in der sie vier Tage in der Woche arbeitete, wenn sie nicht im Krankenhaus war. Der Gedanke daran, bald in Therapie zu gehen, drehte ihr den Magen um. Sie wollte nicht mit Dr. Perez zusammenarbeiten. Sie wollte nehmen, was auch immer sie ihr verschrieb und in Ruhe gelassen werden. Den Rest würde sie schon alleine schaffen. Irgendwann. Sie hatte keine Lust, daran zu arbeiten, dass es ihr besser ging. Im Augenblick wollte sie in ihrer Misere ertrinken, für alles andere hatte sie keine Kraft.
Aber Julia würde sie in zwei Tagen um dreizehn Uhr in die Praxis schleppen und danach dreimal die Woche.
Weit nach Mitternacht lag sie immer noch wach, obwohl Hannah längst schlief. Sie war auch dementsprechend müde am nächsten Tag, aber das war nicht weiter schlimm, denn sie musste nicht in die Schule gehen. Hannah freute sich regelrecht darauf, wieder den Unterricht zu besuchen. Sie hatte ihre Tasche feinsäuberlich gepackt, bunte Fineliner und Textmarker und Klebezettel eingesteckt und war Feuer und Flamme. Sie nervte am Morgen sogar Andrew, dass er sich beeilen sollte.
Dr. Perez hatte ihr eine ärztliche Bestätigung geschrieben, dass sie die Schule nicht besuchen konnte. Auf ihrer Entschuldigung stand tatsächlich: „...ist bis auf weiteres unfähig, am Schulunterricht jeglicher Art teilzunehmen". Mit einem Praxisstempel und Dr. Perez Unterschrift.
Die meiste Zeit über, wie auch jetzt, blieb sie im Wohnzimmer bei Julia und April, weil sie nicht alleine sein wollte, obwohl sie kaum sprach. Auf dem Schoß hatte sie Lionels Notizbuch liegen, und obwohl sie vermutlich nicht in der richtigen Verfassung war, seine Gedanken zu lesen, so tat sie es dennoch. Auch, wenn sie die Worte, die er als die einzig positiven, optimistischen bezeichnet hatte, nicht las.
Sie war nicht bereit, etwas Optimistisches zu hören.
Manche seiner Worte brauchten lange, bis sie auch nur Ansatzweise begriff, was sie bedeuten konnten.
my body feels like a 24/7 drive through
Sie wünschte, er säße neben ihr und sie hätte ihn fragen können, warum er so fühlte, was er damit meinte und wie er überhaupt auf diese Wortwahl kam.
Take what you need and leave.
Darunter hatte er ein Exit Schild gezeichnet.
Je öfter sie dieselben Zeilen las, desto mehr Bedeutungen entdeckte sie darin.
My past feels like a perfect mix of love and trauma.
Aber eine Zeile las sie wieder und wieder und wieder und wieder und irgendwann griff sie nach einem Kugelschreiber und unterstrich die Worte.
i am living on the fine line between nostalgia and regret
„Was liest du da?", fragte Julia irgendwann neugierig, während sie mit dem Schneebesen in einer Schüssel rührte. Seit Julia und Adam wussten, dass sie geglaubt hatte, die beiden würden sie umbringen wollen, behandelten beide sie ein bisschen vorsichtiger, aber Julia ließ es sich weniger anmerken.
Sie wusste nicht, wie sie diese Frage beantworten sollte.
„Das letzte Mal hast du so intensiv auf Buchseiten gestarrt, als du Harry Potter gelesen hast. Den sechsten Band."
Sie sah auf und betrachtete Julia, die ihren Blick nicht bemerkte, weil sie mit Kochen beschäftigt war. Sie war fasziniert davon, wie viel Julia auffiel, wie viel sie unbemerkt bemerkte, wie viele Empfindlichkeiten sie auffing.
„Der sechste?", hakte sie nach und Julia grinste.
„Beim sechsten Band hast du beim Dreiviertel des Buches mit den Fingern an deinen Lippen herumgezupft und nicht einmal bemerkt, dass deine Schwester nach Hause gekommen und auf ihr Zimmer gegangen ist."
Sie richtete den Blick zurück auf das Notizbuch. Dann las Julia eine Stelle daraus vor.
„Is that what depression feels like? Being unable to sleep and being unable to get out of bed?" Ein dunkles Wesen, das sie nicht recht zu beschreiben wusste, erstreckte sich über die gesamte Seite. Die Worte standen klein und unauffällig in der rechten unteren Ecke. Lionels Skizzierungen unterschieden sich kaum von ihren eigenen.
Julia drehte sich zu ihr. „Wer hat das geschrieben?" Ihr Tonfall verriet, dass Julia glaubte, dass sie es geschrieben hatte.
„Ein Freund", erwiderte sie. „Das ganze Buch ist... voll damit. Seine Zimmerwände auch. Ziemlich schräg."
Aber sie fühlte sich immer noch wohler in diesen Seiten, als sie das hätte sollen, das wusste sie, aber es machte ihr nichts aus. In den letzten Wochen hatte es nicht vieles gegeben, dass ihr ein so seltsames Gefühl von Trost geben konnte, das völlig unangebracht war.
„Du hast interessante Freunde", entgegnete Julia. „Ist dieser Freund okay? Geht es ihm gut?"
Sie nickte, weil es einfacher war, als ihr zu erklären, wie kompliziert es war.
i fell in love with someone who fell in love with the darkness
am I in love with the darkness?
Sie fragte sich, ob er in diesen Zeilen von ihr sprach, wollte aber nicht so selbstgefällig sein und davon ausgehen, dass er sich einfach so in sie verliebt hatte. Als sie an der letzten Seite angekommen war, die er beschrieben hatte, nahm sie den Stift noch einmal in die Hand und schrieb etwas, noch bevor sie sich davon abhalten konnte.
As a kid my imaginary friend was fire.
I liked playing with fire.
I like playing with fire.
Sie skizzierte eine Hand, in deren Handfläche ein kleines Feuer flackerte. Es fiel ihr nicht leicht, mit Kugelschreiber zu zeichnen, aber es musste nicht perfekt sein. Nichts an diesem Buch war perfekt.
Zwischendrin fragte sie sich, ob sie gerade etwas kaputt machte, das Lionel viel bedeutete, aber sie konnte nicht aufhören und musste an etwas denken, das Cassy einmal gesagt hatte.
Cassy liebte es, in Bücher hineinzuschreiben. Sie liebte es, Textstellen zu markieren und ihre Gedanken festzuhalten. Als sie sie gefragt hatte, warum sie die Textstelle nicht einfach in einem Notizbuch zitierte und dann ihre Gedanken dazuschrieb, um das Buch nicht zu demolieren, hatte Cassy schlicht geantwortet: „Der Absatz gehört in das Buch. Meine Gedanken gehören zum Absatz. Und nirgendwo anders hin."
Nach dem Mittagessen, das Julia für sie gekocht hatte, schrieb sie Lionel eine kurze Textnachricht.
Du fehlst mir irgendwie.
Sobald sie auf Senden gedrückt hatte, rollte sie mit den Augen und fasste sich an die Stirn.
Irgendwie. Sie hatte geschrieben, dass er ihr irgendwie fehlte. Was sollte denn der Blödsinn? Warum hatte sie nicht etwas anderes schreiben können? Sie wusste nicht einmal, wie man jemanden irgendwie vermissen konnte.
Verärgert über sich selbst, pfefferte sie ihr Handy aufs Bett, war jetzt aber zu nervös, um irgendetwas anderes zu tun, also griff sie sofort wieder nach ihrem Handy.
Ihr Herzschlag verdoppelte sich, als eine neue Nachricht einging.
Du mir irgendwie auch.
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