60
Sie hatte einmal von einem asiatischen Glauben gehört, der besagte, dass man in seinem jetzigen Leben das Gesicht jener Person trug, die man in seinem vorherigen Leben geliebt hatte. Damals hatte ihr dieser Gedanke gefallen, eine Zeit lang hatte sie sogar daran glauben können und war durch die Welt gelaufen, als wäre ihr Gesicht das schönste, das sie überhaupt hätte haben können. Sie hatte es schön gefunden, es musste schön gewesen sein, wenn sie sich einst in dieses Gesicht verliebt hatte.
„Du hattest einen guten Geschmack, in deinem früheren Leben", hatte Clayton damals zu ihr gesagt und sie geküsst. Natürlich hatte er das nur zu ihr gesagt, damit sie sich wieder für ihn auszog, aber das war ihr egal gewesen.
Für wie verrückt sie das mittlerweile empfand. Wann hatte sich ihr Denken so verändert?
Nach ihrem Eislaufunfall hatte sie ihr Gesicht nicht mehr schön gefunden, es nicht einmal mehr im Spiegel ansehen können.
Sie hätte im Auto auf dem Weg nach Hause an alles Mögliche denken können, aber sie erinnerte sich lediglich an diesen Gedanken, den sie einst gehabt hatte.
Ihr Kopf tat weh. Sie glaubte, dass sie in der letzten Stunde mehr über Izzy erfahren, als sie in den letzten fünf Jahren zu wissen geglaubt hatte. Und sie war sich unsicher, wie sie damit umgehen sollte. Stumm saß sie mit Izzys kalter Hand in ihrer da und starrte auf die Straße.
Izzy war für sie seit langem ein Rätsel gewesen. Ein Rätsel, dass sie nicht verstanden hatte und auch nicht hatte lösen können. Sie war immer so still gewesen, so blank, so aus der Welt gerissen, so desinteressiert und vor allem distanziert. Sie hatte geglaubt, das sei das Wesen ihrer Schwester gewesen. Doch wenn sie Izzy jetzt ansah, fühlte sie sich unwohl, weil sie nicht mehr wusste, wer sie war. Ob sie sich überhaupt als ihre Schwester bezeichnen konnte, wo sie doch so wenig über sie wusste. Wie sie sich ihr gegenüber jetzt verhalten sollte.
Sie linste zu ihrer kleinen Schwester hinüber. Ihre schwarzen Locken waren immer noch ihre Locken, ihre Finger immer noch ihre Finger, an denen zwei Totenkopfringe und ein Schlangenkopfring steckten, und ihre Augen waren immer noch Izzys immer traurige Augen.
Izzy trug immer noch ihre Jacke, als sie aus dem Auto ausstiegen, und sie noch einmal die Beifahrertüre öffnete und sich ins Wageninnere zu Jason lehnte, der sie besorgt musterte.
„Danke."
Er schüttelte den Kopf. „Nicht, hör auf damit. Du musst dich für gar nichts bedanken." Sie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. „Ich fahre zum Haus meiner Eltern, ruf mich an, wenn du etwas brauchst."
Sie nickte, obwohl sie nicht wusste, wie Jason ihr hätte helfen können. Sie wusste doch selbst nicht, wie sie sich, geschweige denn Izzy, helfen sollte. Als Jason davon fuhr, nahm sie Izzy wieder in die Arme, die kein Wort mehr sprach.
„Komm", flüsterte sie. „Gehen wir ins Haus."
Sie war nicht überrascht darüber, dass im Wohnzimmer noch Licht brannte. Wenn Izzy nicht nach Hause kam, dann blieb Julia meist bist in die frühen Morgenstunden wach, weil sie nicht schlafen konnte. Und manchmal, so wie heute, war auch Adam noch wach, weil er nicht schlafen konnte, wenn Julia nicht schlief.
Beide blickten zu gleichen Teilen verwirrt und erleichtert drein, als die Schwestern zur Türe hereinkamen. Izzy drückte sich an sie und mied es, Julia und Adam anzusehen.
„Hannah, was machst du hier?", wollte Julia sofort wissen, die am Küchentisch gesessen hatte und nun aufstand. „Was ist denn passiert?" Julias Blick glitt zu Izzy, die wasserleichenblass und vor Kälte und Müdigkeit zitternd neben ihr stand. „Izzy?"
Izzy antwortete nicht. Sie schob ihre kleine Schwester an Julia und Adam vorbei, Richtung Treppenaufgang, ohne dass sie sich die Schuhe auszogen.
„Ich komm gleich", wisperte sie Izzy nach und schob sie die Treppen hoch. Sobald Izzy hinauf verschwunden war und sie hören konnte, dass sie ihre Zimmertüre geschlossen hatte, drehte sie sich zu Julia und Adam um und plötzlich brachen gewaltige Schluchzer aus ihr heraus und all die Tränen, die sie mühsam heruntergeschluckt hatte, rannen in Strömen ihre Wangen hinunter.
„Hannah!", rief Julia erschrocken aus, stürzte zu ihr und fing ihren Körper auf, der sich so dünn und schwach und zerbrechlich anfühlte. Julia hielt sie, wie sie Izzy gehalten hatte und für einen kurzen Augenblick glaubte sie, dass all die Gefühle, die plötzlich über ihr hereinbrachen, sie umbringen würden. Wie sollte ein einzelner Mensch so viel auf einmal ertragen?
Es hatte nur ein schönes Wochenende mit Jason werden sollen und plötzlich hatte Izzy sie angerufen und sich von einer Brücke stürzen wollen. Dann war sie ohne nachzudenken mit Jason in einen Mietwagen gesprungen und hier her gefahren. Viele Sachen hatte sie gar nicht aus dem Hotel mitgenommen. Nicht einmal ihre Geldbörse, obwohl sie Izzy gesagt hatte, dass sie für alles zahlen würde, das sie an der Tankstelle essen und trinken würde, aber sie war so durch den Wind gewesen, dass sie ihr Geld vergessen hatte. Dabei hatte sie nur, was in ihrer Jacke gewesen war und das waren ihre Schlüssel. Und dann hatte Izzy ihr all diese grausamen Dinge erzählt. Die Vorstellung daran, dass Mom ihrer kleinen, wehrlosen, unschuldigen, schutzlosen Schwester Drogen gegeben hatte, machte sie ganz krank. Wütender noch machte sie der Gedanke an die Dinge, die Izzy ihr aus dem Camp erzählt hatte, während sie mit ihrer Mom ein Wellneswochenende in Anchorage gebucht gehabt hatte.
Wie hatte sie so blind sein können? So ignorant?
Wieso hatte sie nicht gewusst, dass Izzy krank war? Dass sie eine chronische Krankheit hatte, die sie zwang, sich manchmal selbst zu verletzten, damit der Schmerz kurz abklang. Eine Krankheit, die Izzy vielleicht die Chance nahm, jemals Kinder zu bekommen, wenn sie nicht behandelt wurde, was sie nicht würde, denn Izzy war nicht krankenversichert. Sie war so verzweifelt gewesen, dass sie Adam beklaut hatte, um sich Medikamente leisten zu können.
Wie hatte sie übersehen können, dass Izzy auf, wie sie es bezeichnet hatte, Suicide Partys gewesen war? Sie hatte nicht einmal daran geglaubt, dass etwas so grauenhaftes existierte. Wie hatte sie übersehen können, dass Izzy jemanden vor ihren eigenen Augen hatte sterben sehen? Wie hatte Izzy ihr verschweigen können, dass sie dabei zugesehen hatte, wie ein Junge seinen besten Freund so lange gewürgt hatte, dass er gestorben war?
Wie um alles in der Welt hatte sie auch nur eine Sekunde lang denken können, dass Izzy Rebeca mutwillig verletzt hatte? Wie hatte sie glauben können, dass an den Gerüchten zwischen Izzy und Mr. Teakin vielleicht ein klitzekleiner Funken Wahrheit steckte? Wie hatte sie Izzy so im Stich lassen können?
Sie trug eine Mitschuld daran, dass Izzy sich heute Nacht hatte umbringen wollen. Vielleicht trug sie sogar alleinige Schuld daran, denn sie hatte immer die volle Verantwortung für ihre kleine Schwester übernommen, ohne zu wissen, was das bedeutete.
In diesem Moment glaubte sie nicht, dass sie je wieder glücklich sein könnte.
Mit einem Ruck löste sie sich von Julia und beschloss, all diese Schuld, die ihr die Luft zum Atmen raubte und sie umzubringen drohte, in das hinterste Eck ihres Bewusstseins zu drücken. Izzy brauchte sie jetzt. Sie hatte sie so lange alleine gelassen, aber jetzt brauchte Izzy sie, sonst würde etwas ganz Schreckliches passieren.
Sie trocknete sich das Gesicht und Julia hatte die Arme auf ihre Schultern gelegt und sah sie fassungslos an.
„Was ist passiert?"
Sie schniefte kurz, blinzelte die erneut aufkommenden Tränen weg, ignorierte, dass sie am ganzen Körper zitterte und sagte: „Izzy wollte sich umbringen."
Julia sah sie an, als hätte sie gerade gesagt, dass in zehn Minuten eine Atombombe in Palmer einschlagen würde und sah schockiert zu Adam, der fassungslos ein Stück näher trat. Beiden hatte es sichtlich die Sprache verschlagen.
„Ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll", wisperte sie und kämpfte wieder mühsam die Tränen weg.
Julia schüttelte ungläubig den Kopf. „Ich verstehe nicht... wo-wovon redest du? Was ist passiert?"
„Ich war mit Jason in Anchorage. Dann hat Izzy angerufen und mir gesagt, dass sie sich umbringen will." Sie hätte diese Worte noch hundert Mal sagen können und sie hätte sie selbst immer noch nicht ganz begriffen.
Adam ging zur Couch, nahm die flauschige Decke und legte sie ihr um die bebenden Schultern.
„Und sie denkt, dass ihr beide sie loswerden wollt. Sie hat gesagt, dass ihr darüber geredet habt, sie umzubringen", sagte sie während sie sich die Decke enger um die Schultern zog.
„Was?" Julia sah mit jedem Wort, das sie sagte, schockierter aus.
„Worüber habt ihr heute Abend geredet?"
„Wir haben über deine Schwester geredet", nickte Julia. „Weil wir gestern schon wieder einen Anruf von Mr. Oyenusi bekommen haben. Aber wir haben doch nicht gesagt, dass wir sie umbringen werden. Das muss sie sich ausgedacht haben."
Sie schüttelte den Kopf. „Das hat Izzy sich nicht ausgedacht. Ich kenne sie." Diese Worte kamen ihr so selbstverständlich über die Lippen, dass es fast schon wehtat. „Ich meine...", ruderte sie zurück. „Ich habe ihre Angst gesehen. Sie hatte wirklich Angst hier her zurück zu kommen."
Julia zog ratlos die Augenbrauen zusammen. „Sie glaubt das wirklich?"
Sie nickte zögerlich und voller Angst. „Ich... ich weiß nicht, was mit ihr los ist, aber irgendetwas stimmt nicht mit Izzy. Wir müssen irgendetwas tun, aber ich weiß nicht was. Wenn wir nichts tun, dann wird sie mich beim nächsten Mal vielleicht nicht vorher anrufen." Sie begann entgegen all ihrer Kraft wieder zu weinen und Julia schloss sie schnell wieder in die Arme.
„Das wird nicht passieren. Soll ich mit Izzy reden? Wir können gleich morgen bei einem Arzt anrufen und fragen, an wen wir uns wenden können."
Julias Worte linderten ihre Angst nicht, weil sie aus ihrem Mund so ratlos klangen. Was, wenn es zu spät war, wie bei einer tödlichen Krankheit? Wie bei Ethans Mom oder Jasons Großvater und seinem Dad? Was, wenn jegliche Hilfe viel zu spät kam und Izzy trotzdem sterben würde, weil sie nicht mehr leben wollte?
„Ich gehe jetzt hoch zu ihr", sagte sie erschöpft und Julia ließ sie los. Sie wollte nicht weiter darüber nachdenken, was gut oder schlecht für Izzy war, was sie nun tun sollten, um ihr zu helfen. Sie wollte sie nur in die Arme nehmen und mit ihr einschlafen, weil sie wusste, dass Izzy sich nicht verletzen konnte, wenn sie in ihren Armen lag.
„Wenn du etwas brauchst", begann Julia. „Adam und ich bleiben noch ein Weilchen wach. Zur Sicherheit." Sie nickte und hätte wieder losweinen können.
Mom hatte sich nie auch nur ansatzweise so sehr um sie und Izzy gekümmert. Sie hätte es nie gekonnt. Sie hatte zu wenig Mitgefühl, war nicht empathisch und mit Kindern und deren Gefühlen hatte sie sowieso nie etwas anfangen können. Es war nicht gerecht. Izzy hätte jemanden wie Julia in ihrem Leben verdient, dann wäre der heute Tag vielleicht niemals so verlaufen.
Im ersten Stock klopfte sie vorsichtig an die Türe ihre Schwester. „Izzy?"
„Geh weg!", brüllte Izzy und sie zuckte zusammen. Zum zweiten Mal an diesem Tag wusste sie, woher der Ausdruck kam, dass einem das Herz in die Hose rutschte, denn es fühlte sich genauso an.
„Izzy?", fragte sie noch einmal.
„Du steckst mit den beiden unter einer Decke!", schrie Izzy und wenn sie gekonnt hätte, hätte sie sich jetzt auf dem Boden zusammen gerollt und so lange geschrien, bis ihr die Stimme versagt hätte. Was war mit Izzy los? Was war mit ihrer kleinen Schwester los?
Eine leise, böse Stimme in ihrem Kopf wisperte ihr die Wahrheit zu, die sie seit der Halloween-Nacht kannte, aber immer noch nicht glauben wollte.
„Izzy, bitte, lass mich rein", sagte sie so ruhig wie möglich.
„Ihr wollt mich alle loswerden!" Izzys Stimme klang nicht mehr wie Izzys Stimme.
Julia und Adam kamen die Treppen hinaufgepoltert. „Was ist los?", fragte Julia panisch, aber sie konnte nicht antworten, weil sich ihre Kehle zugeschnürt hatte.
„Izzy, mach die Türe auf", brachte sie nur erstickt hervor und versuchte, die Türklinke herunter zu drücken, aber die Türe rührte sich nicht. Sie schüttelte den Kopf, wieder und wieder und wieder, Tränen liefen in Strömen und ihre Gedanken rasten.
In einem kurzen Moment der Beherrschungslosigkeit schlug sie so kräftig mit der Faust gegen die Türe, dass sie sich wunderte, warum die Türe davon keinen Riss bekommen hatte.
„Izzy!"
Julia und Adam zuckten zusammen.
„Ich hasse dich!", kam es nur zurück. „Geh weg! Geh weg! Geh weg! Lass mich in Ruhe!" Es polterte und krachte in ihrem Zimmer und Gegenstände flogen gegen die Türe. „Verschwinde endlich!"
Julia presste sich in purem Terror die Hand vor den Mund.
„Izzy, hör mir zu", sagte sie mit zittriger Stimme, die kaum den Lärm übertönen konnte, der aus dem Zimmer ihrer kleinen Schwester drang. „Du weißt, dass ich dir nie wehtun würde. Ich würde niemals etwas tun, das dich verletzt. Ich liebe dich, okay? Bitte, bitte, mach die Türe auf."
Drinnen wurde es still.
„Izzy?"
Sie sah Julia und Adam an.
„Izzy?", fragte auch Julia, aber es kam keine Antwort; kein Geräusch drang mehr aus Izzys Zimmer.
April begann auf Julias und Adam Schlafzimmer zu schreien und weinen, aber Julia bewegte sich nicht vom Fleck.
Sie versuchte noch einmal die Türklinke hinunterzudrücken und rüttelte kräftig daran. „Izzy, lass mich rein! Mach die Türe auf, bitte! Izzy!"
Die gleiche Panik, die sie verspürt hatte, als sie zwei Stunden von Izzy entfernt gewesen war, spürte sie in diesem Augenblick wieder, obwohl nur eine dämliche Holztüre zwischen ihnen war. Sie wirbelte herum.
„Kann man die Türe aufbrechen?"
„Die Türe ist aus Massivholz. Wenn du dagegentrittst, ist dein Bein das einzige, das brechen wird", erwiderte Adam.
„Ich rufe die Feuerwehr", sagte Julia. „Die müssen die Türe doch aufbekommen."
Dafür war keine Zeit. Das letzte Mal, als ihre Mom sich im Badezimmer eingesperrt hatte, hatte sie sich die Unterarme aufgeschnitten.
Sie schnappte nach Luft. Das Badezimmer!
Sie stürmte auf ihr Zimmer, während April weiter schrie, kramte auf ihrem Tisch nach einem Gegenstand, der dünn genug war, um in das Schlüsselloch von Izzys Zimmertüre zu passen. Dann griff sie noch nach einem Blatt Papier und war in Sekundenschnelle wieder vor Izzys Türe.
„Was machst du da?", fragte Adam. Julia war im anderen Zimmer bei April und telefonierte.
Sie wollte Adam nicht erklären müssen, dass das Badezimmer in Anchorage auch eine Türe mit einem Schlüssel zum Absperren gehabt hatte und sie diesen Trick schon oft angewandt hatte, um zur ihrer Mom zu gelangen, wenn sie sich eingesperrt hatte.
Erleichtert stellte sie fest, dass der Bleistift unter dem Schlitz der Türe durchpasste, er sollte also groß genug sein, um auch den Schlüssel passieren zu lassen. Sie schob das Blatt Papier so weit wie möglich unter der Türe durch, an der Stelle, an der sie den Schlüssel im Schloss vermutete. Dann hantierte sie vorsichtig und langsam mit dem Bleistift und drückte von außen den Schlüssel aus dem Schloss.
Sie ließ den Stift fallen, als die das Metallstück auf der anderen Seiter der Türe auf den Boden fallen hörte.
„Bitte, sei auf dem Papier gelandet, bitte, sei auf dem Papier gelandet", murmelte sie, während sie das Blatt aufmerksam unter der Türe hervorzog und stieß einen erleichterten Seufzer aus, als der Schlüssel zum Vorschein kam.
Mit zitternden Fingern steckte sie ihn ins Schloss, drehte ihn herum und stieß die Türe auf.
Izzys Zimmer lag in völliger Dunkelheit, als wollte sie sich verstecken. Das Licht, das vom Flur hineindrang, gab einen Blick auf die Verwüstung frei.
Und inmitten des Schlachtfelds lag Izzy reglos auf dem Boden.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro