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Er hätte nicht gedacht, dass noch jemand wach war, als er die Haustüre aufschloss, aber als er einen raschen Blick ins Wohnzimmer warf, sah er, dass Licht durch den Spalt der Küchentüre drang.
Vorsichtig trat er in die Küche, um niemanden zu erschrecken.
„Jason, was machst du denn hier?", fragte seine Mom überrascht. Sie stand in ihrem himmelblauen Pyjama und flauschigen Hausschuhen an der Küchentheke mit einem Glas Rotwein vor sich.
„Kompliziert, denke ich", erwiderte er in gedämpftem Tonfall und stellte sich zu ihr.
Seine Mom nickte. „Ist es ein Ich-hätte-auch-gerne-ein-Glas-Rotwein-kompliziert oder ein Ich-will-nicht-drüber-reden-kompliziert?"
Er zog die Schultern hoch. „Ich will nicht unbedingt darüber reden, aber zum Rotwein sage ich trotzdem nicht nein."
Seine Mom lachte auf. „Zieh dir erst Mal deine Sachen aus", sagte sie und holte ein Glas aus dem Schrank, während er noch einmal aus der Küche huschte, um sich Jacke und Schuhe auszuziehen.
„Hast du schon etwas gegessen?", fragte seine Mom.
„Es ist halb vier Uhr morgens", entgegnete er. „Ich bin sicher, dass neunzig Prozent der Bevölkerung von Alaska noch nichts gegessen hat."
Seine Mom schmunzelte. „Macht der Gewohnheit. Möchtest du etwas essen?"
Er schüttelte den Kopf. Im Grunde genommen konnte er gerade nicht einmal an Essen denken.
„Willst du mir jetzt sagen, warum du um diese unchristliche Uhrzeit hier hereinschneist?"
„Wenn du nicht wach wärst, hättest du davon nichts mitbekommen."
„Jason", sagte sie mild lächelnd. Er trank einen kleinen Schluck und mied den Blick seiner Mom. „Ist etwas mit Hannah passiert?"
„Ja und nein... Es ist schwer zu erklären. Ich bin sicher, sie würde nicht wollen, dass ich es aller Welt erzähle."
Seine Mom lächelte. „Schatz, was in der Küche gesagt wird, bleibt in der Küche."
Er musste lachen. Das hatte seine Mom schon sehr lange nicht mehr zu ihm gesagt, aber wann immer er, Kody oder Mia ihrer Mom etwas gebeichtet oder ein tiefgründiges Gespräch gehalten hatten, war es in der Küche gewesen. Meistens nachts und meistens hatte seine Mom einen Vanillepudding aus dem Kühlschrank gezaubert, um ihre Kinder bei Laune zu halten und zum Weiterreden zu ermutigen. Mittlerweile war es meist Wein, zumindest bei ihm und Kody. Mia bekam sicherlich immer noch Pudding und manchmal beneidete er sie darum.
Nie hatte etwas, das in der Küche gesagt worden war, das Licht der Welt erblick. Seine Mom war gut darin, Dinge für sich zu behalten.
„Hannah hat einen Anruf von ihrer kleinen Schwester bekommen", sagte er dann.
„Okay?"
„Und... ihre Schwester hat Hannah gesagt, dass... sie sich das Leben nehmen will."
Seine Mom atmete erschrocken auf und starrte ihn entsetzt an. „Um Himmels Willen, das ist doch nicht dein Ernst."
Er nickte. „Doch. Hannah wollte natürlich sofort hierher, also habe ich mir einen Wagen vom Hotel gemietet und wir sind hergefahren."
„Geht es dem armen Kind gut?"
„Hannah oder Izzy?"
„Beiden!"
Er schüttelte den Kopf. „Glaub nicht."
„Was ist mit ihnen? Wo sind sie denn jetzt? Gott, man muss dem armen Mädchen doch Hilfe besorgen! Nun lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen."
„Mom, ich weiß nicht mehr", sagte er. „Sie haben lange geredet und ich hab sie nach Hause gefahren. Und jetzt bin ich hier."
Dass seine Mom so betroffen war, lag vermutlich nicht zuletzt daran, dass sie Mia vor ein paar Jahren fast verloren hätte und er fühlte sich schlecht, weil er ihr davon erzählt hatte. Die Zeit, in der Mia so krank gewesen war, war auch für ihn eine grausame Zeit gewesen, aber für seine Mom war sie sicherlich unvergesslich.
„Wie alt ist das Mädchen?"
Er hob nachdenklich die Augenbrauen. „Fünfzehn oder sechzehn, glaube ich."
Seine Mom legte eine Hand vor den Mund. „Wie kann man denn so jung schon den Wunsch haben, sein Leben zu beenden?"
Diese Frage stellte er sich lieber nicht. Er wusste nicht allzu viel von Hannahs Familie, nur Bruchstücke von ihrer Mom und ein bisschen etwas über Adam. Er wusste, dass Izzy oft in Schwierigkeiten steckte, nicht gut in der Schule war und gerne von zu Hause weglief. Mehr aber auch nicht.
Ihm wurde mehr und mehr bewusst, wie viel er nicht von Hannah wusste. Wie viel sie ihm verschwieg.
Sie kannten einander nicht lange genug, dass er erwartet hätte, jedes Detail über ihr Leben zu kennen, aber sie kam ihm plötzlich so fremd vor. Er glaubte, dass die dunklen Flecken, die sie an dem Abend in New York angesprochen hatte, nicht ihre dunkelsten waren. Vielleicht hatte sie ihm nichts erzählt, weil sie ihn nicht in diesem Teil von ihrem Leben haben wollte. Er hatte ihr von seiner potentiellen Huntington Krankheit erzählt -das war sein dunkelster Fleck. Aber vielleicht war Hannah nicht bereit, so weit zu gehen.
„Ich glaube, dass Hannahs Familie... ziemlich zerrüttet ist", sagte er vorsichtig.
„Das will ich doch meinen, wenn sich ein Teenager umbringen will." Seine Mom leerte den kleinen Rest, der sich noch in ihrem Glas befand, in einem Zug.
„Warum bist du eigentlich noch wach?", lenkte er das Thema um.
Sie seufzte schwer. „Ich kann nicht schlafen. Ich mache mir zu viele Gedanken."
„Worüber?"
„Jetzt über das arme Ding, das sich umbringen will."
„Und davor?"
Sie seufzte wieder und drehte ihr Haar im Nacken ein. „Deinen Dad." Er war nicht überrascht. „Das alles wird nicht leicht werden. Das war es bei deinem Großvater nicht und das wird es jetzt auch nicht. Wenn überhaupt, dann wird es jetzt nur schwerer."
Er trank noch einen Schluck von seinem Wein und seine Mom stellte die leere Flasche hinters Spülbecken. Sie trank nicht oft und wenn, dann meist nicht mehr als ein Glas, aber wenn sie eine Flasche fast alleine leerte, dann schlug ihr etwas kräftig auf den Magen.
„Hat er schon darüber gesprochen, was... irgendwann einmal passiert?", fragte er wage, während sie ihr Glas ausspülte.
„Willst du wissen, ob er auch in ein Pflegeheim möchte oder zu Hause versorgt werden will?"
Er nickte, obwohl diese Frage grausam war, denn noch ging es seinem Dad weitestgehend gut.
„Wir haben nicht darüber geredet. Ich glaube, er möchte nicht darüber nachdenken."
Er hielt den Blick gesenkt. Sollte er seiner Mom davon erzählen, dass er den Gentest veranlasst hatte? Dass er schon das Ergebnis in einem Briefumschlag zu Hause neben seinem Computer liegen hatte? Sollte er sie bitten, den Brief für ihn zu öffnen?
Sie hätte es bestimmt getan, aber als das positive Ergebnis seines Dads festgestanden hatte, hatte Mom nächtelang geweint. Tagelang gläserne Augen gehabt und nicht mehr richtig gelächelt. Sie hatte sich nur langsam gefangen und manchmal bewunderte er sie dafür, dass sie nach all den Problemen, die das Leben ihr als Mutter und Ehefrau zugeworfen hatte, immer noch so gefasst durchs Leben ging, immer noch für alle da war, und wieder richtig lächeln konnte.
„Mom, ich...", begann er, aber als sie ihn ansah, ruderte er zurück. „Ich würde gerne hier schlafen. Ist das okay?"
Sie sah ihn kurz verwundert an. „Natürlich, das musst du doch nicht fragen. Ich habe auch nicht unbedingt damit gerechnet, dass du um diese Uhrzeit zurück nach Anchorage fährst." Sie trocknete sich die Hände an einem Küchentuch. „Du musst aber dein Bett frisch beziehen. Ich habe nicht damit gerechnet, dass du hier schläfst. Die Wäsche liegt gebügelt in deinem Schrank." Er nickte. „Ich werde mich auch hinlegen. Vielleicht bekomme ich noch etwas Schlaf ab."
„Musst du morgen arbeiten?"
„Ja, aber erst am Abend." Sie legte ihm kurz eine Hand auf den Rücken, als sie aus der Küche ging. „Gute Nacht, Schatz."
„Nacht, Mom."
Er stand noch einen Augenblick reglos in der Küche und überlegte, ob er Hannah anrufen sollte. Ein Teil von ihm wünschte sich, sie nicht alleine gelassen zu haben, aber er wusste, dass sie und Izzy jetzt Zeit für sich brauchten.
Als er nach einer halben Stunde endlich in seinem Bett lag, konnte er nicht einschlafen. Die Wände seines Zimmers kamen ihm zu klein vor und er wälzte sich hin und her, bis irgendwann seine Zimmertüre leise aufging. Er hob den Kopf. Die zierliche Gestalt, die in der Türe stand, konnte nur zu Mia gehören.
„Seit wann bist du hier?", flüsterte sie.
„Bin erst gekommen", wisperte er zurück.
„Ich bin davon aufgewacht, als du die Haustüre aufgemacht hast, aber ich dachte, es ist Kody. Er hatte einen Nachtflug und wollte hier schlafen, weil seine Freundin bei einer Freundin übernachtet." Sie schloss die Türe hinter sich. „Warum bist du hier?"
Seiner Mom davon zu erzählen, dass Hannahs kleine Schwester sich das Leben nehmen wollte, war eine Sache, aber er glaubte nicht, dass es richtig gewesen wäre, es Mia zu sagen, also log er.
„Ich hab euch vermisst." Eine bessere Lüge war ihm nicht eingefallen, er war zu müde, aber Mia hinterfragte das nicht.
„Dad hat mir wieder gesagt, dass er mich lieb hat, bevor ich schlafen gegangen bin und er ist sogar nochmal auf mein Zimmer gekommen, und hat mir einen Kuss auf die Stirn gegeben, als ich schon halb geschlafen habe. Langsam macht mir das wirklich Angst. Er benimmt sich, als würde er bald sterben." Mia setzte sich auf seine Bettkante.
„Naja... Es machen sich die ersten Symptome bemerkbar. Vielleicht wird er sich seiner Sterblichkeit bewusst."
„Das ist doch bescheuert. Wir sterben alle irgendwann."
„Es gibt da so einen Spruch. Jeder Mensch hat zwei Leben. Das zweite beginnt, wenn man begriffen hat, dass man nur eines hat."
„Ekelhaft", sagte Mia und schwieg. Er wusste, dass sie über das nachdachte, was er gesagt hatte. „Warum sind wir Menschen eigentlich traurig, wenn etwas Schlimmes passiert? Warum können wir die Trauer nicht überspringen und zu dem Teil übergehen, der die weiteren, logischen Schritte mit sich bringt? Traurig sein ändert doch nichts."
„Du wärst lieber ein Roboter als ein Mensch? Das ist es doch, was uns von einem Stein unterscheidet. Wir haben Gefühle."
„Aber wieso Trauer? Ich verstehe, warum Menschen Angst haben. Selbsterhaltungstrieb und so. Aber Trauer? Der Mist tut nur weh und ist völlig unnötig, weil hinterher trotzdem alles so kommt, wie es kommen muss. Ich habe tagelang geweint, als Trüffel gestorben ist, aber deshalb kommt er nicht zurück. Wozu das alles?"
Darauf hatte er keine Antwort. Manchmal glaubte er auch, dass das Leben leichter wäre, wenn ihm vieles egal gewesen wäre. Aber man konnte sich nicht aussuchen, was einem egal war und was nicht. Nicht wirklich.
Vor dem Haus konnten sie hören, wie sich ein Wagen langsam näherte und dann der Motor ausgeschaltet wurde.
„Das ist er jetzt aber", sagte Mia und eine Minute später ging seine Zimmertüre erneut auf.
„Alter, du hättest dich echt nicht beschissener einparken können", flüsterte Kody verärgert. „Was machst du überhaupt hier?" Kodys Blick fiel auf Mia. „Und was machst du hier? Ihr könnt doch keine Pyjamaparty ohne mich schmeißen."
„Das ist keine Pyjamaparty", gähnte er. „Verschwindet jetzt, ich bin müde."
Sein Gähnen schien Mia angesteckt zu haben. „Ich geh auch wieder ins Bett." Sie stand auf, quetschte sich an Kody vorbei und verließ sein Zimmer.
Er hatte die Augen schon geschlossen, als sein Bruder fragte: „Ernsthaft, warum bist du hier?"
„Gute Nacht, Kody", murmelte er unmissverständlich und sein Bruder gab es auf.
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