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Während sie auf den Bus wartete, der nur jede Stunde einmal von hier nach Anchorage fuhr, blies sie den Rauch ihrer Zigarette in die Luft und schloss die Augen. Die letzten Nächte hatte sie nicht geschlafen. Keine Sekunde lang. Sie war zu aufgewühlt gewesen. Hatte zu viel gedacht. Hatte zu viel gefühlt.

Es war nun fast zwei Wochen her, dass Mr. Teakin entlassen worden war und das spürte sie. Sie spürte es an jedem Tag, an dem sie in der Schule war. Erst gestern hatte Rebeca wieder einen Streit mit ihr anfangen wollen, als sich ihre Mitschüler über die vielen Matheaufgaben beschwert hatten. Mit einem simplen: „Ich weiß schon, bei wem ich mich dafür bedanken darf", hatte Rebeca es geschafft, dass ihr kurz darauf all ihre Mitschüler scharfe Blicke zugeworfen hatten. Dabei hatte sie es schon schlimm genug gefunden, die erste Unterrichtsstunde wieder in der neunten Stufe zu verbringen.

„Sieh mal einer an", hatte Rebeca gehöhnt, als sie das Klassenzimmer betreten hatte. „Ich frage mich wirklich, wieso du so plötzlich und unvorhergesehen wieder bei uns bist, jetzt, da Mr. Teakin weg ist."

„Halt den Mund", hatte sie nur gemurmelt und sich in die hinterste Reihe verzogen.

Mr. McNeill war nicht unbedingt ihr größter Fan und das bestätigte vielleicht jegliche Vermutungen des Lehrpersonals, was sie und Mr. Teakin betraf, aber das war ihr mittlerweile egal. Sie hatte gänzlich aufgehört, irgendetwas für die Schule zu tun. Wozu auch? Wiederholen musste sie das Jahr so oder so, in ein paar Tagen war schon April und es gab absolut keine Möglichkeit, wie sie dieses Jahr gut genug abschließen würde, um versetzt zu werden.

Sie hatte mit niemandem über Mr. Teakins Verlassen der Schule gesprochen, aber sie glaubte, dass selbst Hannah sauer auf sie war.

Andrew war es ganz bestimmt. Seit ein paar Tagen beschwerte er sich leidenschaftlich, wenn er bei den Mathehausaufgaben saß.

Lionel war vermutlich aus einem anderen Grund sauer auf sie, der womöglich etwas damit zu tun hatte, dass sie sich, seit ihrem Rauswurf aus der zehnten Klasse, nicht mehr bei ihm gemeldet hatte.

Und alle anderen aus der Schule hassten sie sowieso.

„Vielleicht ist eine Nachhilfe keine so schlechte Idee", hatte Julia haute Nachmittag geseufzt, kurz bevor sie beschlossen hatte, zu Justin zu fahren.

Andrew, der am Küchentisch gesessen, ein Sandwich gegessen und seine Mathehausaufgaben zu lösen versucht hatte, hatte genuschelt: „Vergiss es, Mom. Mr. Teakin war der einzige Lehrer, der mich vielleicht bis zum Abschluss geboxt hätte. Aber diese alte Schachtel McNeill? Der lässt mich mein Abschlussjahr wahrscheinlich auch nochmal wiederholen."

Julia hatte sich zu ihm gebeugt. „Vielleicht kannst du Izzy fragen, ob sie dir hilft."

Er hatte aufgelacht. „Ja klar. Sie ist doch Schuld daran, dass Teakin gehen musste."

Es war zu viel gewesen. In der Schule mit diesem Thema beworfen zu werden, war erträglich, aber nicht, an einem Ort, an dem man sich laut Duden, sicher und wohl fühlen sollte.

Sie hatte ihr Buch zusammengeklappt, laut auf den Couchtisch geknallt und war an ihm vorbei ins Vorzimmer gerauscht, um sich Jacke und Schuhe anzuziehen und zu Justin zu fahren.

Julia hatte sie nicht aufgehalten.

Als sie endlich im Bus saß, setzte sie sich in die hinterste Reihe ans Fenster, kuschelte sich in ihre Jacke und lehnte den Kopf gegen die Scheibe. Ihr Körper war erschöpft, aber ihr Verstand war noch völlig klar, weshalb sie keine gute Ausrede dafür hatte, warum sie sich seit Tagen nicht mehr bei Lionel gemeldet hatte. Während ihrer schlaflosen Nächte war sie zu dem Entschluss gekommen, dass er sie gar nicht mögen konnte. Wer, außer Justin und Cassy und Riley (die sie aber seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatte), hätte das schon gekonnt? Vielleicht wollte er nur ihren Körper. So wie Danny, Ryan, Ethan und unzählige, widerwärtige Geldbringer, an die sie nicht denken wollte. Gestern Nacht war ihr ein noch viel grausamer Gedanke gekommen. Sie hatte an die Schule denken müssen und daran, wie Lionel ihre Hand gehalten hatte. Wie er sie angesehen hatte, nach ihrer kleinen Auseinandersetzung mit Rebeca auf dem Schulflur.

Sie tat ihm leid. Das war die andere Möglichkeit. Er empfand Mitleid für sie und wollte nur deshalb Zeit mit ihr verbringen, weil er ein guter Mensch war und in ihr eine hoffnungslose, einsame, bemitleidenswerte Kreatur sah. Das fand sie noch viel schlimmer, als die andere Option.

Sie presste die Augen zusammen und gab ein Grummeln von sich. Sie wollte nicht an Lionel denken. Sie wollte gar nicht mehr denken, aber ihre Gedanken tanzten in ihrem Kopf wie um ein Lagerfeuer herum, lachten laut und versuchten mit ihren Bewegungen aufzufallen. Sie wollten alle gesehen werden. Im Gegensatz dazu, wollte sie sich einfach nur verstecken.

Die Busfahrt nach Anchorage fühlte sich an wie pure Folter. Die vorbeiziehende Landschaft wirkte fast hypnotisch auf sie und zog ihre Aufmerksamkeit geschickt wieder zu den Lagerfeuer-Gedanken.

Sie bückte sich und kramte in ihrer Tasche nach ein paar Schmerzpillen. Es war lange her, dass sie bei Dr. Hale gewesen war. Mr. Teakins Kündigung hatte sie so sehr geschockt, dass sie an dem Nachmittag darauf vergessen hatte und danach hatte ihr die Zeit gefehlt. Die Pille war ihr schon vor zehn Tagen ausgegangen und langsam merkte sie, wie schlecht es ihr ohne sie ging.

Für den Rest der Fahrt schloss sie die Augen und versuchte, nicht zu denken.

*

Sie versteckte sich oft auf der Schultoilette. Wenn sie eine Zigarette rauchen wollte, und es draußen zu kalt war, dann stellte sie sich während einer Unterrichtsstunde meist an die Fenster der Mädchentoilette, und blies den Rauch nach draußen. Sie hatte hier schon oft Mrs. Ramplings Unterricht geschwänzt und auf einem der heruntergeklappten Toilettendeckel gesessen, um zu lesen. Manchmal hatte sie nur mit Justin geschrieben.

Viel öfter aber hatte sie sich vor Schmerzen gekrümmt, ihre brennheiße Stirn ausgelaugt gegen die kühlen Kacheln gelehnt, sich übergeben und sich kaltes Wasser über die Handgelenke laufen lassen, bevor sie ein paar Schmerzpillen geschluckt und dann oft den Rest des Tages geschwänzt hatte.

So oft, wie sie sich vor Schmerzen übergab, fand sie es unfair, nicht wenigstens längst die Figur eines Supermodels zu haben.

An diesem Tag war es ihr nicht anders ergangen. Ihr war schwarz vor Augen geworden, als sie sich aus der Kabine gekämpft hatte, ihr gesamter Mageninhalt in den Abflussrohren des Schulgebäudes, und ihren Rucksack neben sich an den Waschbecken hatte fallen lassen. Sie hatte das kalte Wasser auf ihren Händen gespürt und sich in den Nacken und gegen die Stirn gedrückt.

Gerne wäre sie nach Hause gegangen und hätte im Stillen gelitten oder zumindest wäre sie gerne zurück in einer der Kabinen gekrochen, um sich auf dem Boden zusammenzukrümmen. Sie war sich nicht ganz sicher gewesen, aber sie hatte geglaubt, Fieber zu haben. Vielleicht war wieder eine Zyste geplatzt.

Als sie in den Spiegel gesehen hatte, hatten ihr zwei leere, glasige Augen entgegengestarrt und hinter ihnen hatte sie ein teuflisches Augenpaar ins Visier genommen. Als sie sich umgedreht hatte, hatte Rebeca hinter ihr gestanden, mit verschränkten Armen und einem Lächeln, bei dem sie am liebsten noch einmal gekotzt hätte. Vielleicht auf Rebecas Schuhe.

Sie hatten eine Freistunde gehabt und ihr war klar gewesen, dass niemand die Mädchen vermissen würde. Oder Felix, den Klassenclown, der vor der Mädchentoilette herumgelungert hatte. Den Kerl, der neben ihm stand, hatte sie nicht gekannt.

„Ich hoffe, ich stehe dir nicht im Weg", hatte sie trocken bemerkt. Ihre Stimme hatte dumpf und nasal geklungen und ihr Hals hatte geschmerzt.

„Du stehst mir im Weg, ganz egal, wo du bist", hatte Rebeca erwidert.

Sie hatte nach ihrem Rucksack gegriffen. „Ich hab keine Zeit für dein gequetschtes Ego, weil ich in Mathe eine Klasse übersprungen habe."

Rebeca hatte sich ihr flink in den Weg gestellt, bevor sie die Türe hatte erreichen können. „Du denkst es geht mir darum, dass du eine Klasse übersprungen hast, weil du einen Lehrer vögelst? Bitte. Außerdem ist das doch Schnee von gestern, oder nicht?" Rebecas selbstgefälliger Blick hatte sich in ihren gebohrt.

„Was ist dein Problem?"

„Du bist mein Problem." Rebeca hatte sie gemustert, als wäre sie nichts weiter, als die Larve einer Kleidermotte, die Rebeca früher oder später die Klamotten zerbeißen würde. Damit hätte sie kein Problem gehabt. „Jedes Mal wenn ich dich sehe krieg ich das Kotzen."

„Dann schau wo anders hin." Erneut hatte sie versucht, sich an Rebeca vorbei zu drängen, aber Rebeca war nicht aus dem Weg gegangen und sie hatte ihr nicht näher kommen, oder sie aus dem Weg schubsen oder anfassen wollen.

„Geh mir aus dem Weg", hatte sie genervt geknurrt. Es war absolut nicht der richtige Tag für eine Konfrontation mit diesem Mädchen gewesen.

Rebeca hatte die Arme vor der Brust verschränkt. „Mal ehrlich, deine Schwester tut mir schon ein bisschen Leid, dass sie mit dir verwandt ist."

Die Türe war plötzlich aufgestoßen worden und die beiden Jungen waren hereingetrudelt. Ihre Blicke waren noch durch die Verglasungen in der Türe nach draußen gehuscht. Wahrscheinlich war am Ende des Flurs ein Lehrer vorbeigehuscht.

„Und was wird das jetzt?" Ihre Schmerzen hatten ihr dabei geholfen, zynisch zu bleiben. „Mädchentoilette. Oder reichen wir gleich einen Sprechstab herum und reden über unsere Probleme?"

Rebecas Blick war zu dem Jungen geglitten, den sie nicht gekannt hatte (ein bisschen größer als sie, kein Haar auf dem Kopf und mit einem Yankees T-Shirt), und ihr Blick hatte sich verändert.

„Mein Freund, Ollie, hier", hatte Rebeca gegrinst. „Hätte gerne, dass du ihm einen bläst."

Sie hatte Rebeca einen Augenblick lang betrachtet, um sicher zu gehen, dass sie es nicht ernst meinte, und das hatte sie vermutlich auch nicht getan, aber Ollie hatte so ausgesehen, als hätte er es ernst meinen können.

„Dann blas du ihm doch einen", hatte sie trocken erwidert. „Er sieht nicht so aus, als könne er meinen Preis bezahlen."

Die Jungen schienen Spaß mit ihrer Schlagfertigkeit gehabt zu haben, Rebeca hingegen war dabei gewesen, die Geduld zu verlieren.

„Welchen Preis könntest du schon haben? Für Teakin hat es doch auch gereicht."

„Wenn du das sagst."

„Ich frage mich, ob wir dafür irgendwelche Beweise finden", hatte Rebeca angemerkt. „Eine kleine, unschuldige SMS, vielleicht?"

Obwohl sie geglaubt hatte, dass ihre Sinne von dem Adrenalin, das durch ihre Adern pumpte, geschärft waren, hatte Felix ihren Rucksack von ihrer Schulter gerissen, bevor sie bemerkt hatte, dass er sich überhaupt bewegt hatte.

„Hey!" Sie hatte nach ihrem Rucksack greifen wollten, sich wütend in Felix Richtung gestürzte, aber Ollie hatte es geschafft, sie auf halbem Weg abzufangen, nach ihren Armen zu greifen und sie hinter ihrem Rücken festzuhalten.

„Spinnst du?! Lass mich los!", hatte sie gefaucht und ihre Haare waren ihr vors Gesicht gefallen, als sie sich loszureißen versucht hatte, aber Ollie war stark. Felix dagegen war eine Lauchstange, der sich einfach nur für unfassbar witzig hielt, und hätte sie niemals festhalten können.

Felix hatte Rebeca ihren Rucksack zugeworfen, die ihn achtlos auf den Boden hatte fallen lassen. Dann hatte er sich vor sie gestellt und seine Hände hatten suchend ihre Taschen abgetastet.

„Fass mich nicht an!", hatte sie gefaucht, als seine Hände in ihre Hosentaschen geglitten waren, aber er hatte blitzschnell ihr Handy hervor gezogen, es unschuldig mit beide Hände hochgehalten und spielerisch gegrinst. „Ich hab, was ich wollte."

Er hatte wirklich ausgesehen, wie ein Kind, das Freude daran hatte, andere Kinder auf dem Spielplatz in den Dreck zu schubsen und sich dann wunderte, warum sie nicht mit ihm lachten.

Während Ollie sich wesentlich dichter an ihren Rücken gedrückt hatte, als ihr lieb gewesen wäre, hatte Felix sich mit ihrem Handy beschäftigt. „Schade", hatte er gemurmelt. „PIN-Code erforderlich."

„Das hätte ich dir gleich sagen können", hatte sie hasserfüllt gezischt.

„Dann ist das hier unnötig." Felix hatte grinsend ihr Handy hochgehalten und war damit rückwärts zu den Kabinen verschwunden, die sie nicht hatte einsehen konnte.

Sie hatte hören können, wie ihr Handy mit einem metallischen Geräusch in die Kloschüssel gefallen. Panik hatte sie überflutet und sie hatte abermals versucht, sich loszureißen. Was sollte sie ohne ein funktionierendes Handy machen?

Zehn Sekunden später hatte sie noch etwas Anderes hören können und über Rebecas Gesicht hatte sich in etwa die Reaktion ausgebreitet, die sie in ihrem Magen verspürt hatte. Pure Abscheu.

Rebeca hatte sich zu den Kabinen umgedreht, ohne auch nur einen Fuß in Felix Richtung zu setzen. „Was zur Hölle machst du da?"

„Ich muss pinkeln", war es aus der Kabine zurückgekommen.

„Du bist wirklich widerlich", hatte Rebeca ausgestoßen, der die Freude vergangen zu sein schien.

Nachdem er die Klospülung betätigt hatte, kam Felix wieder heraus. Konnte man ein Handy die Toilette runterspülen? War das möglich?

Ihre Wut war mit jeder Sekunde, die verstrichen war, mehr und mehr gewachsen. Warum hatte sie zurückstecken und versuchen müssen, vernünftig zu bleiben, während die drei-

Nein. Sie würde sich das nicht gefallen lassen. Das Maß war voll.

„Das ist wahrscheinlich der Grund, warum du keine Freundin hast!", hatte sie Felix hasserfüllt zugezischt. „Und egal wie viele Handys du für Rebeca ins Klo wirfst: Sie wird sicher nicht mit dir schlafen."

Die Reaktion der beiden hatte ihr Genugtuung verschafft. Felix war abgeschreckt gewesen, Rebeca von dem Gedanken daran sichtlich angewidert.

Ollie hatte seine Hand an ihren Hals gelegt und seine Wange über ihre Schulter hinweg gegen ihre gedrückt. Vielleicht hatte er ihr auch etwas ins Ohr gemurmelt, aber sie war mit ihren Gedanken schon zu weit weg gewesen, um es zu registrieren, und als er seine Lippen an ihre Wange gedrückt hatte, hatte sie ihm kräftig mit der Ferse auf den Fuß getreten, seine Schrecksekunde, in der er sie losgelassen hatte, genutzt, um beide Ellenbogen zurückzuziehen und noch während er sich zusammen gekrümmt hatte, hatte sie ihn kraftvoll auf den Boden gestoßen und er hatte sich den Kopf angeschlagen. Sicherlich nicht allzu schlimm, denn das dumpfe Geräusch war nichts im Vergleich zu dem Geräusch, das sie gehört hatte, als Ryan-

Sie hatte auch Rebeca kraftvoll zur Seite gestoßen, die nicht gefallen, sondern nur getaumelt war, als sie zu den Kabinen gestürzt war.

Ihr Handy hatte noch im unteren Teil der Kloschüssel gesteckt und war völlig untergetaucht. Ohne lange nachzudenken, hatte sie in die Schüssel gegriffen, ein paar Streifen Toilettenpapier abgerissen, und versucht, ihr Handy trocken zu tupfen. Sie hatte versucht, es einzuschalten, aber der Bildschirm war schwarz geblieben.

Als sie es in ihren Rucksack gestopft hatte, waren ihre Finger auf kaltes Metall gestoßen.

Ihr Gehirn hatte einen Augenblick gebraucht, um sich daran zu erinnern, dass es Justins altes Taschenmesser gewesen war. Er hatte es ihr vor etwa einem Jahr geschenkt. Früher hatte er damit immer die Korken von teuren Weinflaschen gedreht, die die Freunde seiner Mom mitgebracht hatten, das Kokain kleingehackt und aufgeteilt, er war in seine eigene Wohnung eingebrochen, als er seinen Schlüssel vergessen hatte, und einmal, das wusste sie noch ganz genau, hatte er das Messer einem Kerl gegen den Bauch gedrückt, der sich geweigert hatte, zu zahlen.

„Was soll ich denn damit?", hatte sie gefragt und das Klappmesser abschätzend beobachtet. Er hatte sich zu ihr auf sein Bett gesetzt.

„Dir wird schon was einfallen", hatte er gelächelt. „Tu dir nur nicht weh, wenn du damit spielst." Es hatte ein Scherz sein sollen, aber bevor sie an dem Abend gegangen war, hatte sie ihm versprechen müssen, sich niemals mit diesem Taschenmesser selbst zu verletzen.

„Und was machst du, wenn ich es mitnehme?", hatte sie gefragt. „Dieses Messer ist doch praktisch deine ganze Existenz."

Er hatte sie angegrinst, sich sein T-Shirt wieder angezogen und gemeint: „Du willst mit mir über Existenzialismus reden?"

Sie hatte die Bedeutung des Wortes nicht gekannt und als sie ihre Schwester am nächsten Tag gefragt hatte, was es bedeutete, war ihr klar geworden, dass Justin seine Bedeutung wohl auch nicht völlig verstanden haben konnte.

Es hatte zumindest nicht viel mit einem Taschenmesser zu tun.

Bis zu diesem Moment war ihr nicht ganz klar gewesen, warum Justin ihr sein Taschenmesser gegeben hatte. Gleichzeitig hatte sie es aber auch nie aus ihrem Rucksack genommen, als hätte sie gewusst, dass sie es früher oder später brauchen würde.

Und an diesem Tag auf der Mädchentoilette war ihr bewusst geworden, dass Justin das auch gewusst hatte. Ob sie das Messer nun einem Obdachlosen gegenüber zog, der sie mit heruntergelassener Hose überfallen wollte, oder ein paar Idioten in der Schule, die sie angriffen, spielte eigentlich keine Rolle. Justin hatte gewusst, was in diesem Leben auf sie zukommen würde. Dass sie nie auf die Butterseite fallen würde, so wie Hannah. Und Justin hatte immer auf sie aufgepasst, ihr gezeigt, wie sie sich wehren konnte, ihre Zunge geschärft, ihr dieses Messer gegeben.

„Du bist doch völlig Irre", hatte Rebeca aufgebracht gebrüllt, die Ollie aufgeholfen hatte, als sie wieder zu den dreien gestoßen war.

„Ich bin hier die Irre?", hatte sie ungläubig entgegnet, mit einem Sicherheitsgefühl, weil sie das Messer tief in der Bauchtasche ihres Hoodies ausgeklappt versteckt gehalten hatte. „Was hattest du überhaupt vor? Außer mein Handy zu schrotten?"

Rebeca hatte ihr darauf keine Antwort gegeben und sie war sich nicht einmal sicher, ob Rebeca ein Ziel verfolgt hatte.

Ollie war ein wenig getaumelt und hatte sich den Kopf gehalten, während Felix sie abschätzend angesehen hatte. Er war vielleicht der Klassenclown, aber sie hatte nicht geglaubt, dass er sich getraut hätte, sie anzufassen.

Rebeca hatte das bemerkt, und in ihrem Gesicht war etwas aufgeblitzt, das man vielleicht mit selbst ist die Frau hätte beschreiben können, wenn es nicht darum gegangen wäre, gleich ein anderes Mädchen zu verprügeln.

Als Rebeca kampfbereit auf sie zugetreten war, hatte sie zu lange gezögert. Sie hatte das Messer nicht herausholen wollen. Sie hätte Rebeca ernsthaft verletzen können. Was, wenn sie ungeschickt abgerutscht wäre und das Messer in Rebecas Bauch versenkt hätte?

Noch nie zuvor hatte sie sich mit einem Mädchen geschlagen und sie glaubte auch nicht, dass Rebeca es je getan hatte, denn obwohl Rebecas Finger sich in ihren Haaren vergraben hatten und ihr Tritt gegen ihre Kniescheibe gezielt war, wirkten sie zurückhaltend. Sie hatte Rebeca in den Bauch geboxt, versucht, auf ihr Zwerchfell zu zielen. Rebeca hatte ihre Hand aus ihren Locken gezerrt, und ihr dabei mit den Nägeln über ihre Wange gekratzt. Es hatte gebrannt und sie hatte Rebecas Hand kräftig weggeschubst.

„Was soll das?", hatte sie hervorgebracht. Nicht, dass irgendetwas, das Rebeca je getan hatte, aufschlussreich gewesen wäre, aber das hier hatte weit abseits der Grenze jeglicher Logik gelegen. Als Antwort hatte Rebeca nur kräftig an ihrem Arm gezogen, sodass sie das Gleichgewicht verloren hatte und fast kopfüber gegen Rebeca geprallt wäre, die ihr Knie hochgerissen hatte und ihr in den Unterleib getreten hatte. Ihr war die Luft weggeblieben.

Wenn vorhin keine Zyste geplatzt war, hatte sie gedacht, war sie es jetzt bestimmt.

Als Rebeca diesmal in ihre Haare gegriffen hatte, hatte sie das Taschenmesser aus ihrem Hoodie gezogen und es ohne Abwägung der Konsequenzen einmal quer durch die Luft gezogen.

Rebeca hatte einen erschrockenen Schrei ausgestoßen und sie augenblicklich losgelassen. Blut war sofort auf den Boden getropft, aber sie war immer noch zu sehr damit beschäftigt gewesen, wieder zu atmen, als dass es sie interessiert hätte. Rebeca war zum Waschbecken gelaufen und hatte ihren blutenden Arm darüber gehalten, während Felix und Ollie sie erst schockiert angestarrt hatten und Ollie sich dann getraut hatte, eine finstere Miene aufzusetzen und einen Schritt auf sie zuzumachen.

„Die ist völlig übergeschnappt", hatte Rebeca hysterisch gekreischt. „Nehmt ihr das Messer ab! Das Miststück hat mich geschnitten, sie hat mich geschnitten, ich blute!"

Mit dem Rücken hatte sie die Türe der Toilette aufgestoßen, das Messer teils schützend, teils warnend ausgestreckt von sich gehalten, nach Luft geschnappt und den Jungen, die zögerlich auf sie zugegangen waren, warnend entgegengerufen: „Ich bring euch um!"

*

Das mit dem nicht denken hatte nicht sonderlich gut geklappt, dachte sie, als sie in Anchorage wieder aus dem Bus stieg und ihre Haut kribbelte, bei dem Gedanken an das, was vor kurzem mit Rebeca und den Jungen passiert war.

Von der Bushaltestelle aus zu Justins Wohnung dauerte es nicht lange, aber sie fror trotzdem, als sie ankam.

„Meine Mom ist nicht da", ließ er sie wissen als sie seine Wohnung betrat. Sie entspannte sich ein wenig. Es war eine Weile her, seit sie einander gesehen hatten und ohne seine Mom war Justin entspannter und somit war sie auch entspannter.

„Wieder unterwegs?"

„Keine Ahnung. Hab sie vor drei Tagen das letzte Mal gesehen." Er schloss die Türe hinter ihr.

Manchmal dachte sie, dass sie sich Justin deshalb so verbunden fühlte, weil er viele der Dinge nachempfinden konnte, die ihr so sehr wehtaten, ohne dass sie es zugab.

Justin steckte sich die Zigarette zwischen die Lippen und zog sie näher zu sich. „Deine Nase ist ganz rot gefroren."

Sie atmete den Qualm ein, der aus seinem Mund drang. In gewisser Weise war sie dankbar, denn der Geruch holte sie aus der Mädchentoilette hier in seine Wohnung. „Es ist heute auch arschkalt draußen."

Er rieb ihr über die Oberarme und sie nahm ihm die Zigarette aus dem Mund und nahm selbst einen tiefen Zug.

„Wolltest du nicht aufhören?", grinste er.

„Hab ich ja", entgegnete sie, blies ihm den Rauch entgegen und nahm noch einen Zug. „Heute habe ich wieder angefangen."

Er klaute sich seine Zigarette zurück und sie zog sich die Wintermontur aus, in der sie schnell zu schwitzen begonnen hatte, bevor sie ihm auf sein Zimmer folgte. Es war unordentlich wie immer. Mit der Zigarette zwischen den Zähnen winkte er sie zu sich. „Komm her. Wir müssen dich ein bisschen aufwärmen", zwinkerte er anzüglich. Sie setzte sich zu ihm aufs Bett.

„Nicht in Stimmung."

Er nahm einen letzten Zug bevor er sich zum Nachttisch beugte und die Zigarette in dem gläsernen Aschenbecher ausdrückte, der fast überquoll.

„Ist etwas passiert?"

Sie schüttelte stumm den Kopf. Warum sie heute besonders schlechte Laune hatte, wollte sie jetzt nicht thematisieren.

Jason war wieder in Palmer und obwohl Hannah ihn erst vor zwei Wochen gesehen hatte, hatte sie ihre Sachen gepackt, um den Freitagnachmittag und den Samstag mit ihm in seinem Hotel zu verbringen, bevor er am Samstagabend wieder arbeiten musste. Hannah war vermutlich gerade nicht sonderlich weit von ihr entfernt, auch irgendwo in Anchorage, und der Gedanke wurmte sie, denn im Augenblick wollte sie so weit wie möglich von ihrer Schwester entfernt sein.

Die letzten Tage hatte sie ihre Schwester in der Schule oft zusammen mit Hao beobachtet. Die beiden schienen ständig aneinander zu kleben. Auf dem Flur, beim Mittagessen, auf dem Pausenhof... Vielleicht war er Hannahs einziger Freund an der Schule. Und vielleicht war das ihre Schuld, wie Rebeca indirekt gemeint hatte. Vermutlich hatte sie damit recht. Sie zog Hannah mit sich in den Abgrund. Genauso, wie ihre Mutter sie in den Abgrund gezogen hatte und es immer noch tat, obwohl sie gar nicht da war.

Sie war nicht besser als ihre Mutter. In dieser Sekunde ekelte sie sich mehr vor sich selbst, als vor dem Gedanken an Danny.

„Den Blick kenn ich", sagte Justin. „Hannah. Hab ich recht?"

„Ich will nicht drüber reden", grummelte sie.

„Was für ein glücklicher Zufall, ich habe auch keine Lust, zu reden." Mit einer Hand strich er über ihren Rücken, bis zu ihrem Nacken, die andere Hand lag auf ihrem Bein.

„Ich bin wirklich nicht in Stimmung", widerholte sie genervt. Am liebsten hätte sie nur geschlafen. Aber sie war immer noch hellwach. Seine Finger erreichten den Saum ihres Pullovers und sie ließ ihn sich widerstandslos über den Kopf ziehen. Darunter trug sie ein ärmelloses Shirt.

Justins Blick blieb an ihrem Arm hängen.

„Du hast dich wieder gebissen", bemerkte er und sie zuckte mit den Schultern. Dass ihre Schmerzen seit dem Absetzen der Pille wie ein Hammer zurückgekommen waren und das Umleiten dieses Schmerzes der einzige Weg für sie gewesen war, überhaupt einen klaren Gedanken zu fassen, war noch so eine Sache, über die sie nicht reden wollte.

„Belassen wir es dabei, heute zu schweigen", grummelte sie.

„Soll mir recht sein."

Als er begann, ihre Schulter zu küssen, schob sie ihn halbherzig von sich weg. „Ich mag wirklich nicht. Es geht mir nicht gut."

„Komm schon, Iz."

„Ich habe Schmerzen."

„Sex hilft gegen Schmerzen."

„Nicht bei solchen Schmerzen, du Idiot."

„Ich mach es ganz schnell, versprochen." Er deutete einen leichten Schmollmund an, küsste auffordernd ihren Hals und sie gab seufzend nach, obwohl sie nicht weniger Lust darauf hätte haben können. Sie legte sich auf den Rücken auf sein Bett, dessen Laken nach abgestandenem Rauch, seinem Deo und Schweiß rochen, und innerhalb von zehn Sekunden hatte Justin sich ausgezogen und war auf sie geklettert. Er zog ihr nicht einmal den BH aus, sondern nur die Kleidungsstücke, die eindeutig im Weg waren. Dann küsste er sie mit gieriger Leidenschaft, aber sie verspürte nicht denselben Drang. Die Lagerfeuergedanken warfen ihr Bilder von Lionel zu, wie sie auf seinem Bett gelegen und ihn geküsst hatte und sie musste gestehen, dass Justins Kuss nicht einmal ansatzweise mit dem zu vergleichen war, den sie mit Lionel geteilt hatte.

Sie bereute ihre Entscheidung bereits jetzt und Lionels letzte Textnachricht brannte ihr hinter den Lidern.

Hab ich etwas falsch gemacht? Warum ignorierst du mich?

Ihr Kopf warf ihr wieder die beiden nie endenden Gedanken zu, dass er lediglich wollte, was Justin gerade bekam und gleichzeitig bemitleidete, was sie war.

Aber zwischen diese beiden Gedanken mischte sich noch ein dritter, den sie nicht zu Ende denken konnte, weil Justin sich in sie hinein zwängte und ein höllischer Schmerz durch ihren gesamten Körper fuhr. Sie fragte sich, ob Justin seinen Penis wohl durch ein Steakmesser ersetzt hatte.

Instinktiv versuchte sie, ihn an den Schultern wegzudrücken, aber er war viel zu schwer. Sie biss die Zähne zusammen und unterdrückte bei jeder seiner Bewegungen ein Wimmern. Genau vierundzwanzig Sekunden hielt sie durch. „Hör auf", presste sie hervor.

„Sekunde, ich komm gleich", entgegnete er und beschleunigte das Tempo.

„Hör auf, es tut wirklich weh!" Sie begann, sich unter ihm zu winden, wollte sich wegdrehen und die Sache beenden, aber in diesem Augenblick packte er sie grob am Hals und drückte sie energisch ins Kissen. Ihr blieb einen Augenblick lang die Luft weg.

„Gib mir nur zehn verdammte Sekunden!", knurrte er laut und sie war so erschrocken darüber, dass sie sich nicht mehr bewegen konnte. „Scheiße!", knurrte er frustriert, ließ sie los und schlug mit der rechten Faust aufs Kissen, hörte aber nicht auf, sondern versuchte, sich selbst wieder in Stimmung zu bringen.

Die Lagerfeuergedanken verstummten, ihr Kopf kam ihr völlig leer vor. Ihr fiel nur auf, dass die Farbe an der Decke abblätterte und Justin nach Schweiß roch. Die Schmerzen in ihrem Unterleib rückten weit nach hinten in ihr Bewusstsein und ein komischer Nebel füllte die Gedankenlosigkeit.

Als sie sich wieder gefangen hatte, lag Justin bereits schweratmend auf ihr. Seine Haut klebte auf ihrer, seine Lippen berührten ihre Schulter. Wie viel Zeit genau vergangen war, wusste sie nicht, selbst jetzt schien die Zeit viel schneller zu vergehen und sie schien sich langsamer zu bewegen.

Was zur Hölle war gerade passiert?

Plötzlich erfüllte sie eine unbändige Wut und sie schob Justin mit einem kräftigen Stoß von sich, stand auf, stampfte ins Badezimmer, knallte die Türe zu und sperrte ab. Sie setzte sich auf die Toilette und merkte, dass sie wieder blutete. Seit ihr die Pille ausgegangen war, hatte sie nicht geblutet. Tränen aus Frust stiegen ihr in die Augen.

„Fuck", murmelte sie. Und weil es sich gut anfühlte, wiederholte sie es noch ein paar Mal, während sie dasaß, ihre Finger in ihren Haaren vergrub und so lange daran zog, bis der Schmerz an ihrer Kopfhaut alles andere verdrängte, und weinte, ohne recht zu wissen, warum sie weinte.

Was zur Hölle war gerade passiert?

Es klopfte an der Türe und sie riss sich Toilettenpapier herunter, um sich die Tränen zu trocknen und wartete ab, bis das meiste Blut abgeronnen war. Mit Justin zu reden war das aller Letzte, das sie jetzt wollte. Wäre sie nicht halbnackt gewesen und hätte dieses Bad ein Fenster gehabt, wäre sie vielleicht durch dieses Fenster geklettert, um Justin jetzt nicht sehen zu müssen.

„Iz."

„Geh weg!"

„Izzy." Er klang genervt.

„Verschwinde, du elender Wichser!", schrie sie mit rauer Stimme nach draußen und ihr liefen erneut die Tränen über die Wangen.

„Komm schon", seufzte er entnervt. „Es waren zehn Sekunden. Mach kein Drama draus."

„Zehn Sekunden?" Sie lachte ungläubig auf. Es waren deutlich mehr als zehn Sekunden gewesen, aber das war es nicht, was sie so wütend machte. „Justin, ich schwöre bei Gott, wenn du das noch einmal abziehst, dann bringe ich dich um! Ich reiße dir deinen Schwanz ab und schiebe ihn dir zehn Sekunden in den Arsch, wir werden ja sehen, wie dir das gefällt!"

„Sei nicht so dramatisch. Es tut mir leid, dass du Schmerzen hattest, aber erst Ja und dann Nein zu sagen, und im Nachhinein rumheulen ist nicht unbedingt fair."

Sie war sich nicht sicher, ob die Krämpfe oder die Wut in ihrem Bauch dafür zuständig waren, dass sich alles in ihr zusammenzog.

„Fair?! Du willst mit mir über Fairness reden?!" Sie sprang von der Toilette runter, ohne zu spülen und riss die Türe auf. „Gut, reden wir über Fairness. Reden wir darüber! Denkst du, dass auch nur eine beschissene Sache auf dieser Welt fair ist? Denkst du, dass mein Leben fair ist? Denkst du, ich finde es fair, dass mich alle Leute wie Dreck behandeln? Denkst du, ich finde es fair, jeden Tag mit Schmerzen aufzuwachen und nichts dagegen tun zu können? Denkst du, es ist fair, dass mir jede beschissene Sache genommen wird, die mir auf dieser Welt Freude bereitet? Denkst du, irgendetwas daran ist fair?!"

Sie funkelte ihn zornig an und Justin blinzelte zurück. „Hast du gerade deine Tage gekriegt?"

„Noch ein Wort und ich schlag dir so hart eine runter, dass es an Weihnachten noch knallt!", rief sie. Sie fühlte sich völlig verrückt und beschämt, Justin nackt und blutend und weinend nach dem Sex wie eine Irre anzubrüllen. Sie wollte einfach nur weg, ihre Gedanken sortieren, die sich gerade vor ihr zu verstecken schienen, zog sich in rasendem Tempo wieder an und warf sich die Tasche über die Schulter.

„Jetzt spiel nicht verrückt. Soll ich dir einen Kaffee machen?", seufzte Justin, zog sich selbst Unterhose und Hose an und ging ihr nach, als sie in den Flur hinausstürmte.

„Izzy", sagte er, als sie sich Schuhe und Jacke anzog und nach ihrem Rucksack griff.

„Iz." Justin fasste sie am Arm, um sie vom Gehen abzuhalten, nicht grob, aber fest genug, dass ihr endgültig der Kragen platzte. Er wirbelte sie herum und im selben Moment trat sie ihm so kräftig zwischen die Beine, dass er nach Luft schnappend auf die Knie sank und sie schlug ihm mit der Faust gegen die Kehle. So hatte Justin ihr einmal gezeigt, wie sie sich zu wehren hatte, sollte es jemals darauf ankommen.

Sie hatte nur nie gedacht, dass sie sich einmal gegen ihn wehren würde.

„Fass mich nie, nie wieder an, hast du verstanden?!", brüllte sie, blieb noch einen Augenblick, um zu sehen, wie er sich halbnackt auf dem Boden krümmte und nach Luft röchelte, drehte sich dann abrupt um und verschwand aus seiner Wohnung.

*

So lange die Fahrt von Palmer nach Anchorage auch gewesen war, so kurz kam ihr die Rückfahrt vor. Draußen war es bereits stockdunkel und sie zitterte am ganzen Körper. Sie sehnte sich nach einer warmen Dusche, Kuschelsocken, ihrem Bett und vielleicht einem Buch. Irgendetwas, das sie ablenkte.

Schlafen. Sie musste endlich schlafen.

Als sie die Haustüre öffnete, hörte sie bereits Adams und Julias Stimmen. Die beiden unterhielten sich leise in der Küche. Geräuschlos schloss sie die Türe hinter sich. Das Licht in Küche und Wohnzimmer war gedimmt.

„Was bleibt uns denn noch anderes übrig?", fragte Adam leise und sie hielt inne, versteckte sich hinter der Ecke. Worüber auch immer die beiden redeten, es klang wichtig. Heikel. Und sie würden aufhören, darüber zu reden, würden sie sie erst entdecken. „Gil ist seit Wochen verschwunden."

„Ich weiß", wisperte Julia zurück. „Aber das geht doch etwas weit, oder nicht?"

„Es ist der perfekte Zeitpunkt. Hannah ist nicht hier, Drew ist bei Mason und sie ist schon oft weggelaufen."

Sie drückte sich gegen die Wand. Wovon sprachen die beiden?

„Ich sage", fuhr Adam in bestimmtem Flüsterton fort. „Wenn sie nach Hause kommt, dann beenden wir die Sache, ein für alle Mal. Die Leute würden ihr Verschwinden nicht bemerken. Hannah würde vielleicht Fragen stellen, aber sie würde nichts infrage stellen."

Ihr blieb der Atem im Hals stecken. Sprachen die beiden davon, sie... aus dem Weg zu räumen? Nein, das konnte nicht stimmen. Irgendetwas lief hier gewaltig falsch!

„Dann wären wir sie endlich los", stimmte Julia zu. „Hannah wäre sie endlich los."

„Es darf nur keine Spuren hinterlassen."

Ihr wurde so übel und schwindelig, dass sie sich vielleicht direkt auf dem Vorzimmerteppich übergeben hätte, wenn sie nicht sofort die Türe aufgestoßen hätte, nach draußen gestolpert und gesprintet wäre, was ihre Energiereserven hergaben.

Julia und Adam wollten sie umbringen! Julia und Adam wollten sie töten! Sie ein für alle Mal loswerden.

Sie rannte so schnell, als wäre der Teufel hinter ihr her.

Als sie die Gegend erkannte, in der sie sich befand, raste sie auf die rechte Straßenseite, noch ein, zwei, drei Häuser weiter, öffnete das Gartentor, rannte die Treppenstufen zur Haustüre hinauf und hämmerte dagegen, während sie sich immer wieder umdrehte, in der Angst, Adam und Julia könnten gleich hinter den Hecken auftauchen.

Als die Türe geöffnet wurde, stolperte sie mehr hinein, als dass sie eintrat, und schlug die Türe auch sofort wieder zu. Sie lief atemlos in die Küche und sah zwischen den Vorhängen durch das Fenster. Niemand war auf der Straße.

„Will ich es wissen?", fragte Ethan mit rauer Stimme, bestimmt hatte er schon geschlafen.

„Mach nicht das Licht an!", rief sie, als sie sah, wie sich der Schatten seiner Hand an den Lichtschalter herantastete. Er zuckte zusammen. Die Nacht war klar und der Mond voll genug, dass sie selbst seine Gesichtszüge ausmachen konnte.

„Wir müssen die Polizei rufen", keuchte sie.

„Okay?" Es war mehr die Frage nach einer Erklärung, als eine Zustimmung.

Sie versuchte ihre Atmung zu beruhigen, aber sie war bestimmt zehn Minuten lang gesprintet, wenn nicht länger, sie war überrascht, dass sie überhaupt noch auf den Beinen stand, nach drei Nächten ohne Schlaf. Irgendetwas stimmte mit ihr nicht, irgendetwas stimmte absolut nicht, aber sie wusste nicht, was es war.

„Adam und Julia wollen mich umbringen, wir müssen die Polizei rufen!"

Ethan sah sie erschrocken an. „Das... was?"

„Ich hab's gehört", fuhr sie fort. „Sie wollen mich umbringen, sie haben es gesagt."

Ethan bewegte sich keinen Millimeter, als er sagte: „Bist du sicher?"

„Ich hab's doch gehört!"

„Ich... kann mir nicht vorstellen, dass die beiden so etwas gesagt haben sollen. Wir reden hier von Andrews Eltern."

„Denkst du, ich denk mir sowas aus?!"

„Nicht so laut", zischte er und hob beruhigend die Hände. „Du schreist noch die ganze Nachbarschaft zusammen." Ethan trat einen vorsichtigen Schritt auf sie zu. „Wo ist deine Schwester?"

Wütend funkelte sie ihn an. „Ist das dein ernst? Ich hab dir gerade gesagt, dass Adam und Julia mich umbringen wollen und du fragst nach Hannah?"

„Ich mach mir Sorgen um dich..."

„Dann ruf endlich die Polizei, hilf mir!" Sie merkte erst, dass ihr Tränen über die Wangen rollten, als ihre Stimme zu zittern begann.

Irgendetwas stimmte nicht!

Warum wollte Ethan ihr nicht helfen? Warum wollte ihr kein Mensch helfen?

„Ethan?", das Licht ging an und sie kniff die Augen zusammen, bemüht, etwas zu sehen. An der Treppe stand jemand. Aber es war nicht Katy. Es war ein blondes Mädchen mit nackten Beinen und einem grauen T-Shirt, das ihm über die Oberschenkel reichte.

Ethan ging zu dem Mädchen und murmelte etwas, das wie ein: „Geh wieder nach oben, ich komm gleich, mach dir keine Sorgen", klang.

Es fühlte sich so an, als würde etwas ganz Kleines in ihrem Kopf explodieren, eine Silvesterrakete, aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein, als sie daran dachte, dass sie eben noch bei Justin gewesen war. Und nun war sie hier. Davor war sie zu Hause gewesen. Wie hatte das alles passieren können? Wann hatte all das passieren können? Ihre Erinnerung daran fühlte sich plötzlich so dumpf an, wie ihre Erinnerungen an Ryan. Sie wusste, dass es passiert war, aber es ergab plötzlich keinen Sinn mehr. Nichts von dem. Die Zeit, irgendetwas stimmte mit der Zeit nicht. Ihre Daumen glitten über ihre Fingerspitzen und sie spürte ihre taubgefrorenen Hände kaum.

War das hier echt? War irgendetwas davon echt? Verlor sie jetzt den Verstand?

Sie hörte, dass Ethan ihr noch nachrief, aber da war sie schon längst wieder auf der anderen Straßenseite und rannte in die Nacht.

*

Das Metall unter ihren Fingern war so eisig, dass sie sich fragte, ob sie überhaupt nach unten fallen würde, wenn sie loszulassen versuchte, oder ob ihre Finger klebenbleiben würden. Der Wind schnitt in ihre Haut, kroch durch ihre Jacke und unter ihr rauschte der reißende Fluss entlang. Seine Strömung schien heute noch bedrohlicher als sonst.

Seit sie hier war, hatte kein Auto die Brücke überquert und selbst wenn, dachte sie, dass bestimmt kein Auto stehen geblieben wäre. Die meisten Leute hätten zu große Angst davor gehabt, darin verwickelt zu werden, dass sie von dieser Brücke springen wollte.

Nein, sie wollte nicht springen. Sie wollte sich fallen lassen. Sie wollte endlich loslassen, fallen und all dem ein Ende bereiten.

Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals so verzweifelt und hoffnungslos gewesen zu sein. Sie konnte nicht nach Hause, zu Ethan konnte sie auch nicht mehr, zu Justin schon gar nicht und Hannah war Gott weiß wo.

Als sie an ihre Schwester dachte, begann sie wieder zu weinen. Seit sie hier an der Brüstung stand, hatte sie damit nicht aufgehört.

Zwei Teile ihres Kopfes standen in heftigem Krieg miteinander. Der eine wollte unbedingt, dass sie sprang, sagte ihr, dass es sich gut anfühlen würde, dass sie zu viel schreckliches erlebt hatte und dann endlich alles vorbei war und sie gleichzeitig all den Leuten einen Gefallen tat, denen sie so lange wie ein Zementblock am Bein geklebt hatte.

Der andere Teil sagte ihr, dass es Wahnsinn war, was sie da tat, das sie nicht so war, wie die Leute, die sie auf all den Suicide-Partys getroffen und dann nie wieder gesehen hatte, dass Hannah... vielleicht nicht erleichtert, sondern am Boden zerstört wäre. Sie, jedenfalls, wäre am Boden zerstört gewesen.

Der Gedanke an Hannah war gleichzeitig schmerzhaft und warm wie eine Kuscheldecke.

Aber Hannah war bei Jason. Hannah war immer wo anders gewesen als bei ihr. Bei ihrem Eislauftraining, bei ihren Freunden, oder einfach nur auf ihrem Zimmer, um in Ruhe zu lernen. Und jetzt war sie bei jeder Gelegenheit bei Jason. Selbst, wenn Hannah neben ihr saß, war sie bei Jason.

Vielleicht hatte sie einfach keinen Platz mehr im Leben ihrer großen Schwester. Vielleicht war eingetroffen, wovor sie sich immer schon gefürchtet hatte.

Ihre Wut wurde schnell wieder von ihrer Verzweiflung verdrängt. Was spielte Jason jetzt noch für eine Rolle? Sie stand buchstäblich am Abgrund des Todes. Am Abgrund des Lebens.

Sie wusste nicht, was sie sich von Hannah in diesem Augenblick erwartete, aber dennoch löste sie ihre eisigen Finger zaghaft von der Metallstange und zog ihr Handy heraus. Kurz überlegte sie, ob sie Hannah eine SMS schicken sollte. Aber die Tränen versperrten ihr die Sicht auf die Tastatur ihres Displays und sie begann wieder zu weinen. Sie wollte Hannahs Stimme hören. Sie wollte ihre Arme um ihren Körper spüren, sich darin verstecken, und nie wieder hervorkriechen.

Vielleicht wollte sie auch, dass ihre Schwester irgendetwas sagen konnte, das sie davon abhielt, zu springen.

Zitternd umklammerte sie das Handy und presste es gegen ihr Ohr. Der Wind peitschte gegen sie und sie musste sich konzentrieren, den Ton überhaupt zu hören, der sie wissen ließ, dass es klingelte.

Nach dem dritten Läuten wurde sie unverwandt aus der Leitung geschubst. Ungläubig starrte sie auf das Display. Ein unbeschreibliches Gefühl, als würde jemand eine Glaskugel auf den Boden fallen lassen, die in tausend Teile zersprang, machte sich brennend in ihrer Brust breit.

Tränen lösten sich von ihren Wimpern und fielen in die Tiefe, als sie begriff, dass Hannah ihren Anruf weggedrückt hatte. 

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