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Lionels Eltern waren nicht zu Hause und sie hatte beschlossen, den letzten Tag der Ferien nicht damit zu verbringen, Hannah willkommen zu heißen und sich ihr Geheule darüber anzuhören, dass sie und Jason wieder getrennt waren. Davon bekam sie nur schlechte Laune. Hannah hatte eine ganze Woche in New York verbringen dürfen und besaß trotzdem die Frechheit, sich zu beschweren, dass sie nun wieder in Alaska saß.
Julia hatte ihren Hausarrest nicht direkt aufgehoben, aber sie hatte behauptet, dass Lionel auf seinen kleinen Bruder aufpassen musste und für die Mathenachhilfe nicht von zu Hause wegkonnte. Er hatte ihres Wissens nach zwar keinen kleinen Bruder, aber das konnte Julia ja nicht wissen, die vermutlich gerade in der Küche stand und ein Willkommen zurück Abendessen kochte.
Lionel hatte ihr die schlechte Laune in der Sekunde angemerkt, in der sie seine Wohnung betreten hatte, sie aber nicht darauf angesprochen. Keiner von beiden hatte an diesem Tag große Lust darauf zu lernen, besonders, weil morgen die Schule ohnehin wieder anfangen würde. Das alleine bescherte ihr einen fetten Knoten im Magen.
Wegen Rebeca und Mr. Teakin und einfach allem anderen drum herum.
„Wir könnten uns morgen nach der Schule treffen", schlug er vor, aber sie schüttelte den Kopf.
„Hab schon was vor." Sie musste nach Anchorage, um ein paar Schulden bei Dr. Hale zu begleichen. Sie hatte genug Geld beisammen, um nicht völlig armselig zu wirken, sollte sie tatsächlich bei Dr. Hale auf der Matte stehen. Außerdem brauchte sie neue Schmerzmittel. Vor zwei Tagen hatte sie kaum ihr Bett verlassen können und sich mit den letzten beiden Tabletten und mit einer fragwürdigen Pille von Justin niedergedröhnt, bis sie nicht einmal mehr gespürt hätte, wenn ein Magier sie in einer Box zersägt und dabei den Trick hinter der Sache vergessen hätte. Außerdem hatte Justin sie letztens gefragt, ob sie bald wieder nach Anchorage kommen würde, damit sie zusammen sprayen konnten. Und da Julia morgen Nachmittag einen Arzttermin hatte, würde sie nicht merken, dass sie erst abends wieder zurück sein würde. Und selbst wenn, sie konnte ihr nicht ständig verbieten, das Haus nicht zu verlassen, das war nicht fair!
Sie hatte den Kopf auf die Tischplatte in der Küche gelegt und sah müde aus dem Fenster. Es regnete und die Tropfen prallten unverschämt laut gegen die Scheibe. Sie verlagerte ihr Gewicht auf das Kinn und sah zu Lionel auf, der ihr gegenüber saß.
„Du machst dir Sorgen wegen der Schule morgen, oder?", fragte er, schob seinen Stuhl zurück und legte ebenfalls sein Kinn auf den Küchentisch. Er spiegelte gerne ihre Körperhaltung.
„Warum glaubst du das?"
„Weil du die Augenbrauen zusammenziehst."
„Das ist mein normaler Gesichtsausdruck."
Er lächelte. „Gar nicht wahr."
Sie richtete ihren Blick wieder aus dem Fenster. Die Wasserschlieren ließen den Garten zu einem abstrakten Bild von zerlaufenden Farben werden.
„Ich würde da am liebsten morgen gar nicht hin gehen", sagte sie. „Nie, nie wieder."
„Das kann ich verstehen. Aber wir müssen hingehen, damit wir irgendwann nicht mehr hinmüssen."
Das verstand sie, aber Lionel wusste nicht, was es für sie bedeutete, morgen wieder in die Schule zu gehen. Es würde das erste Mal sein, seit der Sache mit Rebeca. Seit ihrem Schulverweis. Seit Mrs. Rampling sie und Mr. Teakin in dem Klassenraum vorgefunden hatte. Das alleine raubte ihr seit ein paar Tagen den Schlaf. Lieber wäre sie an eine ganz neue Schule mit völlig neuen Schülern gekommen, als morgen an diese Höllenschule zu gehen.
„Was machen wir denn nun mit dem angebrochenen Tag?", maulte sie und Lionel lachte.
„Ich hatte keine Pläne. Dann bist du vor der Türe aufgetaucht. Ich dachte, du hättest eine Idee."
Sie stieß die Luft aus. Es war kurz nach zwei Uhr. Heute Vormittag hatte sie ein wenig gelesen, dann gezeichnet und hatte schließlich Lionel geschrieben, bevor Hannahs Flugzeug gelandet war.
„Ich war noch nie in deinem Zimmer", sagte sie.
„Da willst du auch nicht rein", lachte er.
„Wieso?", hakte sie voller Tatendrang nach, weil sie neugierig auf sein Zimmer war. „Hat eine Bombe eingeschlagen?"
Er lachte vorsichtig. „Nicht unbedingt, nein. Ich will... dich nur nicht abschrecken."
Sie richtete sich auf. Er tat das Gleiche. „Glaub mir, nach dieser Warnung sind meine Vorstellungen davon, was sich hinter deiner Zimmertüre befindet, sicher schlimmer, als die Realität."
„Na, dann", lächelte er zögerlich und stand auf.
Er ging die Treppen voran und sie folgte ihm, während sie fieberhaft darüber nachdachte, was sie an seinem Zimmer abschrecken sollte. Hatte er Poster von Pornostars an der Wand hängen? Oder von einer Boyband? Hatte er überall Stofftiere herumliegen? War er ein Satanist mit einem Altar und einem Tierschädel im Kleiderschrank?
Das hätte sie sogar ganz interessant gefunden. Die Chancen, dass sie hier blieb, wenn Lionel sich als Satanist entpuppt hätte, waren jedenfalls größer, als wenn sie gleich herausfand, dass er One Direction Fan war.
Er drückte die Türe auf und ließ sie zuerst einen Blick in sein Zimmer erhaschen. Neugierig trat sie ein. Es hatte tatsächlich keine Bombe eingeschlagen. Entgegen ihrer Erwartungen lag gar nichts verwahrlost in seinem Zimmer herum. Das lag aber nicht daran, dass er so einen Ordentlichkeitsfimmel wie ihre Schwester zu haben schien, sondern, weil er allem Anschein nach einfach kaum Gegenstände besaß, die verwahrlost herum liegen konnten. Auf seinem Schreibtisch lagen seine Schulunterlagen, in einem kleinen Regal waren Bücher einsortiert, sein Bett war ordentlich gemacht und seine Klamotten waren vermutlich alle im Schrank eingeräumt.
Das, wovor Lionel sie hatte warnen wollen, waren wohl die Wände seines Zimmers.
In Anchorage hatte sie die Wände ihres Zimmers immer zum Sprayen verwendet. Lionels Wände waren beschrieben. Mit einem schwarzen, dicken Stift (vielleicht einem Edding), waren seine hellen Wände so platzsparend beschrieben, dass sie kaum ein freies Fleckchen fand, das größer war, als ihre Hand. Alle vier Wände des Zimmers und sogar ein paar Stellen an der Decke über seinem Bett waren mit den schwarzen Buchstaben verziert. Es war alles nicht sonderlich groß geschrieben, anders als ihre Bilder, die sich über die ganze Wand erstreckt und die sie teilweise schon wieder übersprayt hatte.
Sie fragte sich, wie lange es wohl gedauert hatte, bis sein Zimmer so ausgesehen hatte.
„Darf ich es lesen?", fragte sie vorsichtig und erhaschte ein Lächeln auf seinen Lippen, als sie sich zu ihm drehte. Er strich sich die Locken aus der Stirn.
„Ich glaube kaum, dass man dieses Zimmer betreten kann und es schafft nichts davon zu lesen."
Ihre Bilder waren wie ein Tagebuch ihrer Gefühle gewesen, mit dem Unterschied, dass niemand außer ihr die Einträge verstanden hatte. An Worten konnte man nicht viel falsch verstehen, deshalb fühlte sie sich plötzlich so, als hätte Lionel sich vor ihr nackt ausgezogen, als sie ein paar der Dinge erhaschte, die er an die Wände seines Zimmers geschrieben hatte.
my ghost wants to escape this body but my skin locks it up; cut it open
i am a hostage inside of my house. my head. my mind. my life.
silence is an invitation for my thoughts.
i can't block myself out.
i hide myself in footnotes
NOBODY CARES
if the truth is inconvenient or boring they don't believe it
You broke every promise I made.
Sie zeigte auf den letzten Schriftzug, den sie gelesen hatte. Er stand über der Kopfseite seines Bettes. „Von wem hast du da gesprochen?"
Er hatte die Hände in die Taschen seines schwarzen Kapuzenpullovers gesteckt und zuckte mit den Schultern. „Gott? Dem Universum? Meinen Eltern? Wem auch immer man die Schuld an seinem Leben geben kann..."
Sie drehte sich wieder zur Wand. Die Worte, die er geschrieben hatte, mal kleiner, mal größer, mal in leserlicher Schrift, mal unleserlich, faszinierten sie. Sie hatte gewusst, dass er gerne las, aber er schien auch selbst gerne mit Worten zu spielen. Und dabei hatte er keine Angst vor seinen eigenen Gedanken, so viel stand fest.
Look behind my reflection and find me with a blade in my hand.
„Düster", kommentierte sie.
„Zu düster?", fragte er unsicher nach einigen Sekunden.
sometimes i can feel the reapers hand on my shoulder.
„Nein", sagte sie. „Nur düster."
Sie stand eine Weile still in seinem Raum und ließ seine tiefsten, hässlichsten Gedanken auf sich einwirken. Dass es krank war, sich dabei so wohl zu fühlen, wie sie es tat, wusste sie, aber das war ihr in diesem Augenblick egal. Dieses Zimmer gab ihr das Gefühl, dass sie alles sagen konnte, ohne Lionel damit abzuschrecken. Sie hatte nie gemerkt, wie angespannt sie jeden Tag lang war, jede Sekunde über, bis sie in diesem Augenblick spürte, dass sich ihre Schultern entspannten und sie glaubte, wieder richtig atmen zu können.
All das, was sie niemals hatte in Worte fassen können, prangte direkt vor ihren Augen. Lionel fühlte all diese Dinge auch.
maybe we are all caught in this dark tunnel, stumbling around blindly, unable to reach for each others hand
Ihr liefen Schauer über den Rücken und sie las seine Worte noch einmal.
i feel like a monster
I don't even like myself. How could others?
SORRY I PRESSED MY BACK INTO YOUR KNIFE
„Warum schreibst du all das an deine Wand? Hätte es ein Notizbuch nicht auch getan?", fragte sie, nicht, weil sie ihn damit ärgern wollte, sondern weil sie selbst niemals ihre Gedanken so bereitwillig jedem, der ihr Zimmer betrat, zur Schau gestellt hätte. So... nackt. So ganz und gar pur in ihrer reinsten Form, direkt auf den Punkt gebracht.
„Ich weiß es nicht", gab er zu. „Vielleicht, weil... sich dieses Zimmer anfühlt, wie mein Kopf es tut. Als wäre es eine größer Version davon, verstehst du?"
„Aufgeräumt und leer, aber mit beschissenen Gedanken?", hakte sie nach. Es hätte ihm ein kleines Lächeln entlocken sollen, aber er nickte nur unglücklich.
Etwas Schmerzhaftes zog sich durch ihre Brust. Dass sie selbst diese grauenvollen Gedanken hatte, damit kam sie klar. Aber Lionel sollte sie nicht haben. Niemand sollte sie haben müssen. Sie saugten einem das Leben aus, jegliche Energie, jegliche Freude. Sie brachten einen dazu, sich in der besten Gesellschaft alleine zu fühlen, weil sie einen abschnitten und niemand es verstand. Man konnte sie nicht an der Türe ablegen, wenn man nach Hause kam, oder beim Duschen abwaschen, oder in Alkohol ertränken.
If suffering, pain, and grieve were triplets, i'd kill all of them.
„Du solltest ein Buch schreiben", murmelte sie. „Manches davon klingt... wunderschön."
„Und wer würde so ein Buch lesen wollen?", schmunzelte er düster.
„Ich. In den letzten zwei Minuten habe ich mehr über dich erfahren als im ganzen letzten Monat."
LEAVE ME ALONE! i need to drown.
Thank you, fuck you.
Sie schmunzelte.
I feel like a burden to anyone who might offer help.
G U I L T
„Wie wäre der Titel des Buches?", fragte er, während sie durch sein Zimmer streifte und wahllos ein paar Zeilen las.
„Keine Ahnung. Irgendetwas... Simples. Vielleicht einfach... Leben?"
Er zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen. „Ich glaube nicht, dass das hier das Leben ist. Das hier fühlt sich eher... wie der Abgrund des Lebens an. Wie die Kante, an der man entlanggeht und ab und zu abrutscht, das Gleichgewicht verliert und fast herunterfällt."
Sie drehte sich zu ihm. „Dann nenn es doch so. The Edge of Life. Mir gefällt's." Und er hatte recht. Es fühlte sich wie eine Kante an, an der sie entlanglief. Kein Seil, an dem es zu beiden Seiten hinunter ging. Nein, sie sah den sicheren Boden direkt neben sich. Es war ihr nur unmöglich einen Schritt von der Kante zurück zu treten. Der Abgrund hatte etwas Faszinierendes an sich.
Sie fragte sich, wann sie hinabfallen würde.
Lionels graue, hässliche Katze lag zusammengerollt auf dem Bett und verkroch sich mit einem missmutigen Laut, als sie sich mit dem Rücken auf sein Bett legte, um die Worte an der Decke lesen zu können.
change me like you change your mind
would they miss me?
I once was happy.
TIRED but unable to SLEEP
sometimes a cage is not meant to lock you in, but to lock the scary things out. lock me in. lock me out.
Sie hätte den ganzen Tag hier liegen und in seinen Gedanken stöbern können. Einige lasen sich wie Honig, der auf ihrer Zunge zerfloss und sie las die Worte mehrmals, weil sie kaum genug von ihnen bekommen konnte.
LIE LIE LIE LIE LIE LIE LIE LIE LIE to me.
Die Matratze gab nach, als er sich mit angemessenem Abstand neben sie legte.
sleep less ness
forget.me
if there is nothing you can't lose, why bother?
fail.me
maybe I am the monster in this story
let me go...
„Was machst du, wenn du keinen Platz mehr auf den Wänden hast?", fragte sie.
„Dann muss ich das mit dem Buch vielleicht überdenken."
Sie rollte sich auf die Seite, um ihn ansehen zu können. Er sah nicht anders aus, sein Gesicht war immer noch sein Gesicht, seine Augen waren noch seine Augen, seine Haare noch seine Haare, aber in diesem Augenblick fühlte sie sich ihm verbundener als in den Wochen zuvor. Sie fragte sich, durch welche Hölle er gegangen war, um all diese Dinge zu fühlen, oder ob sich seine Hölle einfach so und ohne Vorwarnung unter ihm aufgetan hatte.
Vorsichtig griff sie nach seinem rechten Arm, der auf seinem Bauch ruhte und schob den Ärmel nach oben, um seine Narben zu entblößen. Er ließ es ohne den kleinsten Wiederstand zu.
„Machst du es, weil du denkst, es verdient zu haben?", fragte sie leise. Sie lagen dicht beieinander, ihr Kinn berührte beinahe seine Schulter und sie konnte ihre Stimme zu einem flüstern ausklingen lassen.
„Manchmal", antwortete er mindestens genauso leise. „Aber die meiste Zeit fühlt es sich eher so an, als..." Er sagte lange Zeit nichts mehr, betrachtete nur die hellen, erhabenen Narben auf seinem Arm. Sie wusste, wie schwierig es war, etwas wie das hier einem Menschen zu erklären, der es nie gefühlt hatte. Sie hatte es gefühlt, aber bestimmt nicht auf die gleiche Weise wie er.
Niemand fühlte diese Dinge auf die gleiche Weise. Sie waren so unterschiedlich und vielfältig wie Hautfarben es sein konnten.
„Kennst du das Gefühl, wenn deine Gedanken immer lauter und lauter und lauter werden?", fragte er. Sie nickte. „Wenn sie immer aufdringlicher in deinem Kopf die Kontrolle übernehmen wollen und dir Dinge weismachen, die du nicht hören willst? Bis du anfängst dich selbst so sehr zu hassen, dass du am liebsten von einer Brücke springen würdest, nur damit diese Gedanken aufhören?"
Sie biss die Zähne zusammen. „Ja." Bisher hatte sie nur niemanden außer Justin getroffen, der ähnlich gepolt war. Und Justin sah man es an, fand sie. Sein Lebensstil verriet es. Aber Lionels? Er hatte sich gut vor ihr versteckt.
„Ich wurde vor drei Jahren mit einer Zwangsstörung diagnostiziert, die mich zwingt, bestimmte Gedanken zu wiederholen. Grauenhafte Gedanken, die sich oft auch... auf Taten beziehen. Meist handeln sie davon, mir selbst wehzutun. Es sind selten Gedanken, die ich in die Tat umsetze, aber ich hasse sie."
„Woran denkst du?", flüsterte sie.
„Ich denke daran... mit dem Auto gegen einen Baum zu fahren. Oder an der roten Ampel früher loszufahren, um in ein anderes Auto zu rasen. Ich denke daran, wie es sich anfühlen würde, meine Hand in das kochende Wasser zu tauchen, wenn ich mir eigentlich nur etwas zu Essen machen möchte, oder wie es sich anfühlen würde, wenn ich mir ein Messer in den Bauch stechen würde. Nicht einmal, um mich umzubringen, nur, um zu wissen, wie es sich anfühlt, wenn etwas so scharfes durch Haut und Fleisch und Organe sticht. Ich sehe wie ich es tu. Wieder und wieder und wieder. Diese Gedanken nerven." Er hielt inne und drehte seinen Kopf nur ein wenig in ihre Richtung, ohne den Blick auf sie zu richten. Sie konnte das Shampoo riechen, das er verwendet hatte. „Die meisten dieser Gedanken hören auf, wenn ich sie ein paar Mal habe durch meinen Kopf laufen lassen. Manche hören auf, sobald ich sie aufschreibe. Aber manchmal fühlen sich diese Gedanken so schmutzig und schwer und hässlich an, dass ich sie nur... so loslassen kann." Er betrachtete seine Narben immer noch. „Ich kann diese Gedanken erst loslassen, wenn... sie meinen Körper buchstäblich verlassen." Sie wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Es war grauenhaft. Alleine die Tatsache, dass er all diese Dinge täglich in seinem Kopf hörte und sah und sie in Dauerschleife liefen, war grausam genug. Wenn sie ihn so davon reden hörte, glaubte sie, dass er all diese Gedanken niemals in die Tat umsetzten wollte, aber Angst davor hatte, es irgendwann einmal zu tun.
„Es ergibt keinen Sinn, das weiß ich", wisperte er und zog sich dem Ärmel wieder bis zum Handgelenk herunter, als würde er sich nun doch dafür schämen.
„Solche Dinge ergeben keinen Sinn", erwiderte sie. Deshalb konnten Leute, die absolut rational dachten, Leute wie Hannah, es einfach nicht verstehen. Sich die Haut aufzuschneiden, um Gedanken loszulassen, oder sich so fest in den Oberarm zu beißen, um die Leere in einem zu vertreiben, war nicht normal. Es war nicht rational. Aber es war trotzdem da und viel zu real.
Lionel hatte seinen Arm auf der Matratze liegen lassen und ihre Hände berührten sich.
follow me into the void
Vorsichtig und ganz langsam glitten ihre Finger zwischen seine und verschränkten sich ineinander. Noch nie hatte sie jemandes Hand auf diese Weise gehalten, aber es fühlte sich nicht schlecht an.
„Es ist besser geworden, seit ich in Therapie bin", sagte er leise, den Blick auf ihre ineinander verschränkten Finger gerichtet. „Ich hab auch Medikamente bekommen, um meine Impulse und die Zwangsgedanken in den Griff zu bekommen, aber manchmal bricht es einfach durch."
„Wissen deine Eltern davon?"
„Narben zu verstecken ist eine Sache, aber mein Zimmer vor ihnen zu verstecken, eine andere", erwiderte er mit einem Lächeln in der Stimme. „Ja, sie wissen davon."
Sie war beeindruckt. Wenn ihre Zimmerwände und ihre Arme so ausgesehen hätten, wie Lionels, dann hätte es ihre Mutter nicht interessiert und Adam und Julia hätten sie längst in eine psychiatrische Anstalt abgeschoben, in der sie mit Medikamenten zugedröhnt worden wäre.
„Wie gehen sie damit um?", flüsterte sie.
„So, wie Eltern wohl damit umgehen, wenn das eigene Kind so schräge Sachen veranstaltet."
„Sie sind so oft nicht da", merkte sie an. „Haben sie keine Angst, dass du dir... etwas Schlimmeres antust?"
Er schüttelte den Kopf. „Wir reden ziemlich offen und... etwas Schlimmeres ist nicht mehr so aufdringlich in meinem Kopf wie früher. Die Gedanken sind zwar jeden Tag da, aber ich kann sie ganz gut kontrollieren. Sie vertrauen mir."
„Sie akzeptieren also einfach, dass du dich so sehr verletzt?", hakte sie ungläubig nach.
Er zuckte mit den Schultern. „Wie sollten sie es mir verbieten? Wenn ich diesen Impuls habe... es tun zu müssen, dann wird er nur stärker, je länger ich ihn zu unterdrücken versuche." Er schwieg eine Weile. „Als ich fünfzehn war, habe ich ihn einmal zu unterdrücken versucht. Ich wusste, dass es krank war und falsch und dachte ich sei schwach. Das Ergebnis war, dass ich nicht aufhören konnte mich zu schneiden." Seine Stimme war kaum noch ein flüstern. „Ich hing über dem Waschbecken im Badezimmer und hatte das Gefühl, dass es nicht genug ist, dass... nicht alles... raus kommt, was raus kommen soll, verstehst du? Ich hab einfach immer weiter gemacht und immer tiefer und als ich aus diesem-" Er brach ab und sie war sich ziemlich sicher, dass er Wahn hatte sagen wollen. Sie war froh, dass er es nicht tat. „Als ich wieder aus diesen furchtbaren Gedanken aufgetaucht bin, ich-" Er schloss die Augen und stieß den Atem aus. „Ich bin so sehr über das erschrocken, was ich gesehen habe. Das Waschbecken war mit Blut getränkt, es ist sogar schon auf den Boden getropft, meine Arme völlig zerschnitten, aber ich habe den Schmerz nicht einmal gespürt. Total schockiert habe ich nach meiner Mom gerufen. Ich hatte Todesangst. Ich konnte nicht glauben, dass ich mich selbst so wenig unter Kontrolle hatte und was diese Gedanken mit mir gemacht haben. Meine Mom hat Geschirrtücher um meine Arme gewickelt und mich sofort ins Krankenhaus gebracht. So haben meine Eltern davon erfahren, es war grauenhaft." Als er die Augen wieder öffnete, sah sie Tränen in ihnen. „Ich hab zum ersten Mal bemerkt, wie gefährlich meine Gedanken waren, von denen ich immer dachte, dass ich sie im Griff hätte. Ich habe begriffen, wie sehr ich in ihnen gefangen war. Ich hatte noch am selben Abend ein psychologisches Gutachten und wurde ohne Umschweife an einen Psychiater verwiesen. Ich war so erleichtert."
„Hattest du keine Angst?", fragte sie. Sie selbst würde nie wieder zu einem Psychologen oder Psychiater gehen. Nicht nur, weil die Danny nicht aus dem Kopf bekam, sondern auch, weil sie wusste, was man übe ihre Gedanken sagen würde. Lionel hatte eine Zwangsstörung. Das war erklärbar. Ihre Gedanken... die Dinge die sie tat... sie hätte selbst in den Ohren der renommiertesten Psychologen wie eine Irre geklungen.
„Ich hatte größer Angst davor, was meine Gedanken mit mir anstellen, wenn ich sie nicht unter Kontrolle bringe." Zum ersten Mal, seit dieses Gespräch begonnen hatte, sah er sie an. „Ich will nicht so sein. Ich will diese Gedanken nicht haben. Ich will mich in ihnen nicht so wohl fühlen. Ich will darum kämpfen, dass sie weggehen, egal wie hart es ist. Ich will nur normal sein."
Sie merkte, wie verzweifelt er war und jedes seiner Worte traf sie bis ins Mark. So gerne hätte sie ihm geholfen. Sie schluckte schwer. Ihre Nasenspitzen berührten einander beinahe und lange Zeit sagte keiner von ihnen etwas, weil es nichts zu sagen gab.
i am scared of everything these days
Sie sahen einander schweigend an, während sein Daumen zarte Kreise in ihre Handinnenfläche zeichnete.
„Darf ich dich küssen?", flüsterte er plötzlich und sie musste fast lachen.
„Fragst du da jedes Mal um Erlaubnis?"
„Nein, ich will nur nicht, dass du aufspringst und vor mir wegläufst, wie vor ein paar Tagen, als ich nur meine Hand auf deine legen wollte", erwiderte er mit einem leisen Lächeln, den Blick seiner blauen Augen in ihren verankert.
Ihr Herz pochte aufgeregt gegen ihren Brustkorb, obwohl sie sich lange nicht mehr so ruhig gefühlt hatte. „Werde ich nicht."
*
In der Zeit, in der sie regelmäßig, fast wöchentlich, auf Suicide Partys gewesen war, hatte sie Tagebuch geführt.
Nun, es war nicht wirklich ein Tagebuch gewesen. Ein Notizbuch vielleicht. Ein kleines, schwarzes Notizbuch mit grauem Bändchen, in dem sie auf den ersten Seiten wie üblich nur gezeichnet hatte; bevor sie dem Buch seine Bedeutung geben hatte.
Sie hatte sich oft und ausführlich mit den Partygästen unterhalten und in ihrem Büchlein jeweils eine Doppelseite für eine Selbstmordmethode gestaltet. Sie hatte darin vermerkt, was sie dafür brauchte, wie lange es dauerte, bis man tot war, wie schmerzhaft es war und vor allem, wie effektiv es war. Wie die Chancen standen, dass es schief ging. Sie hatte akribisch genau Vor- und Nachteile aufgeschrieben und hatte Namen von Leuten darin vermerkt, von denen sie wusste, dass es geklappt hatte.
Sie konnte nicht älter als dreizehn gewesen sein.
Eigentlich wäre sie immer gerne irgendwo runtergesprungen. Höhenangst hatte sie keine und im Fall konnte sie sich nicht einfach umentscheiden und kneifen. Die Chancen, tatsächlich zu sterben, wenn man vom Dach eines Hochhauses oder einer Brücke sprang, waren auch nicht unbedingt gering. Außerdem hatte sie immer gefunden, dass es etwas metaphorisch Schönes gehabt hätte, wenn sie in ihren Tod gefallen wäre. Etwas Poetisches.
Ihr Leben lang hatte sie das Gefühl gehabt, zu fallen.
Nicht so toll hatte sie die Idee des Strangulierens gefunden, obwohl die Statistik bewies, dass es anscheinend für viele Leute ein akzeptabler Ausweg zu sein schien. Aber sie hätte nicht gewollt, dass man sie so fand. Dass Hannah sie so fand. Die Vorstellung war einfach zu schrecklich.
Die Sache mit dem Pulsadern aufschneiden hatte sie ähnlich abgeschreckt. Das war eine zu große Sauerei und konnte ganz schön lange dauern. Ausbluten bedeutet, die eigene Wärme aus seinem Körper fließen zu lassen. Das eigene Leben. Sehr langsam.
Pillen wären noch eine Idee gewesen, aber so schnell und romantisch sich manche Leute diese Suizidmethode auch ausmalten: Sie hatte gelesen, dass man mit schlimmen Bauchschmerzen starb, es nicht so schnell ging, wie in Filmen suggeriert wurde und sie vielleicht an ihrer eigenen Kotze erstickte.
Die Cousine ihrer Mutter hatte ihren Kopf in den Ofen ihres Gasherdes gesteckt. Das hatte ihre Mutter ihr einmal erzählt, als sie gefragt hatte, was mit Ms Davis passiert war und ihre Mutter es ihr nicht hatte erzählen wollen. Sie war sich zwar nicht sicher, ob die Geschichte von Mariah besser war, aber ihre Mutter hatte in ihrer Mutterrolle so viel falsch gemacht, dass es darauf auch nicht mehr ankam, fand sie. Sie war sieben Jahre alt gewesen, als ihre Mutter ihr davon erzählt hatte.
Ihre Mutter hatte von den ominösen Abschiedsanrufen ihrer Cousine erzählt und davon, dass sie, Onkel Rob und der Bruder besagter Cousine versucht hatten, die Wohnungstüre erfolglos einzutreten. Irgendwann hatten sie in einem Verzweiflungsakt bei den Nachbarn geklingelt, die Situation erläutert und Onkel Rob war über den Balkon der Nachbarin auf Mariahs Balkon geklettert, um von dort aus in die Wohnung zu kommen. Ihre Mutter hatte vor der verschlossenen Türe gewartet und als Onkel Rob sie von innen aufgeschlossen hatte, war er kreidebleich gewesen. Ihre Mutter hatte sich an ihm vorbeigedrängt und hatte Mariah in der Küche auf dem Boden vor dem Herd gefunden.
Mariah war schwanger gewesen, hatte ihre Mutter erzählt. Sie war im sechsten Monat gewesen, als ihr Mann sie verlassen und sie sich das Leben genommen hatte. Diese Geschichte hatte sich in den Achtzigern abgespielt und manchmal, wenn sie an diese Geschichte dachte, dann fragte sie sich, ob ihre Mutter und Onkel Rob früher andere Menschen gewesen waren. Onkel Rob, den sie kaum kannte, der sich nicht für seine Nichten interessierte, sollte über zwei Balkone geklettert sein?
In der Zeitung hatte sie einmal von einer Krankenschwester gelesen, die sich ein in Chloroform getränktes Tuch aufs Gesicht gelegt und dann einen Plastiksack um ihren Kopf geschnürt hatte. Diesen Artikel hatte sie ausgeschnitten und zwischen eine der Doppelseiten unter ausgefallene Suizidmethoden gelegt. Sie fand, dass Menschen recht kreativ werden konnten, wenn sie ihr Leben beenden wollten. Irgendetwas daran fand sie fast schon beruhigend schön. Und sie glaubte auch, dass der Mensch immer einen Weg fand, sein Leben zu beenden, wenn er es wollte.
Dieses Notizbuch war vielleicht eines der wenigen Dinge, die sie Justin nie anvertraut hatte, obwohl er sonst alles von ihr wusste. Aber ein Buch voller Suizidmöglichkeiten hätte ihm vielleicht ernsthafte Sorgen bereitet.
Einmal, als sie high gewesen waren, hatten sie einander das Versprechen abgenommen, nur so lange auf der Erde zu verweilen, wie der jeweils andere. Würde Justin gehen, würde sie ihm folgen. Würde sie gehen, würde Justin ihr folgen.
Es war schon eine Weile her, dass sie diesen Pakt miteinander geschlossen hatten und sie war sich nicht einmal sicher, ob Justin noch ab und zu daran dachte oder sich gar noch daran erinnerte. Vielleicht wusste Justin auch gar nicht, wie oft er dem Tod entronnen war. Oder vielleicht wusste sie es nicht.
Ihren Tod hatte sie eine Zeit lang akribischer geplant als ihr Leben.
*
Andrew hatte unfassbar schlechte Laune. Ihre Schwester hatte sie an diesem Morgen vorgewarnt, als sie nach unten zum Frühstück hatte gehen wollen und Hannah bereits nach oben ins Bad geflüchtet war.
„Geh da nicht runter", hatte Hannah gesagt. „Das wird hässlich."
Aber sie glaubte nicht, dass Andrews Laune ihre an diesem Tag hätte hinunterziehen können. Man sah es ihr vielleicht nicht an, aber sie war so glücklich, wie schon lange nicht mehr.
Sie freute sich sogar auf die Schule. Freute sich auf Mr. Teakins Unterricht, aber nicht wegen Mr. Teakin, sondern weil sie Lionel wieder sehen würde. Nicht einmal der Gedanke an Rebeca machte ihr Angst.
Am liebsten wäre sie gestern bei ihm geblieben, hatte es dann aber doch vorgezogen zu verschwinden, als seine Eltern angerufen und Bescheid gegeben hatten, dass sie bald nach Hause kommen würden und Lionel gebeten hatten, die Hühnerbrust aus dem Gefrierfach zu nehmen. Er hatte ihre Hand nicht losgelassen, als er sie nach unten bis zur Türe begleitet hatte und am Eingang hatten sie sich noch einmal geküsst und sie hätte sich gerne in seine Arme gekuschelt.
Sie war sich nicht sicher, wie sich ihre Gefühl für ihn so schnell hatten verändern können und warum ausgerechnet jetzt und vor allem fragte sie sich, ob sie ihren Gefühlen vertrauen konnte. Ob sie sich diesmal darauf verlassen konnte, dass das, was sie empfand, echt und von Dauer war und nicht nur wieder eine ihrer seltsamen Launen.
„Wir können nächstes Jahr wieder fliegen", sagte Julia besänftigend, als sie die Küche hinunter kam. Julia saß mit April auf dem Schoß am Tisch und versuchte, die Kleine zu füttern, die grinste und freudig die Hände nach ihr ausstreckte, als sie sie erspähte, aber sie hatte keine Lust, von klebrigen Kinderhänden angegrapscht zu werden, also nahm sie sich nur einen Kaffee mit viel Milch.
„Nächstes Jahr", brummte Andrew. „Nächstes Jahr bin ich aus der Schule draußen und fliege nirgends mehr mit meiner Familie hin."
„Da bin ich ja froh", schmunzelte Julia. „Dann kannst du dir sicher den Flug und das Hotel selbst bezahlen und das Thema hat sich erledigt."
Sie wollte nicht unbedingt nachfragen, worum es ging. Zumal sie es sich denken konnte. Es war kein Geheimnis, dass Julia, Adam und auch Andrew bei vielen Dingen ein bisschen kürzer treten mussten, seit sie und Hannah hier waren, auch, wenn sie diese Tatsache ihrem Gewissen zuliebe meist ignorierte.
„Ich finde es einfach nicht fair", murrte er weiter und warf ihr einen flüchtigen, bitteren Blick zu. „Dass ich auf meinen wohlverdienten Urlaub am Strand verzichten muss, weil die Mutter der beiden ihr Leben nicht in den Griff bekommt."
Julia wollte augenscheinlich eingreifen, vielleicht etwas schärfer als vorhin, aber sie war schneller. „Du meckerst auf ganz schön hohem Niveau herum, weißt du das?" Sie hatte in ihrem Leben noch nie einen Strand oder das Meer gesehen oder Wetter erlebt, das über zweiundzwanzig Grad Celsius lag. „Ich würde alle Strandurlaube der Welt dafür eintauschen, eine Mutter zu haben, die auch nur einen Fick auf mich gibt. Glaubst du, mir oder Hannah macht es Spaß, hier zu wohnen und uns tagtäglich von einem verzogenen Arschloch anhören zu dürfen, dass wir hier nicht willkommen sind, weil er sein Territorium markieren und Alphamännchen spielen muss?" Sie biss die Zähne zusammen, als ihr bewusst wurde, dass sie vermutlich nicht unbedingt aus dem Hausarrest rauskam, wenn sie Andrew vor Julia beleidigte, aber Julia blieb still und sie mied ihren Blick. Andrew funkelte sie wütend an.
Ihr war die Lust auf den Kaffee vergangen und sie stellte die Tasse lautstark wieder ab. „Keine Sorge. Es gibt nicht viele Möglichkeiten, wie das hier ausgehen wird. Hannah ist bald achtzehn und Adam ist nicht mehr verpflichtet, für sie zu sorgen. Sie fällt also weg. Und was mich betrifft: Entweder taucht Gill wieder auf und ich gehe zurück zu ihr, oder sie taucht nicht wieder auf und ich kommen wie Tiere ins Heim oder zu einer Pflegefamilie. So oder so. Nächstes Jahr bist du uns sicher los und kannst deinen netten Strandurlaub genießen."
Hannah hatte Recht gehabt und sie hatte die Stabilität ihrer eigenen guten Laune überschätzt. Dummerweise wurde es nicht wieder besser, als sie Rebeca in der Schule antraf. Nicht, dass Rebeca sie direkt angesprochen hätte, aber sie hatte eine ganze Schar Freundinnen und vier Jungen um sich gesammelt, die ihr alle gut zuredeten und beruhigende Worte murmelten, die vermutlich besagten, dass sie sich vor Izzy nicht fürchten musste, weil sie alle da waren, um sie zu beschützen.
Oder einen ähnlichen Blödsinn.
Wenigstens war sie vor der Schule nicht wieder durchsucht worden.
Sie quälte sich durch die ersten Stunden, in denen sie von Schülern wie Lehrern ignoriert wurde, und war unendlich erleichtert, als sie Lionel auf dem Flur gegenüber von Mr. Teakins Klassenraum stehen sah. Er hatte den Blick auf sein Handy gerichtet und versteckte sich wie immer in einem dunklen Kapuzenpullover, aber ihr Herz machte einen Satz, als sie auf ihn zuging und sich wortlos neben ihn stellte.
„Ich hoffe, wir schreiben einen Überraschungstest", sagte Lionel, ohne den Blick von seinem Handy zu nehmen. „Dann kann ich vor Mr. Teakin damit strotzen, dass ich Exponentialfunktionen endlich gerafft habe. Halbwegs." Er ließ sein Telefon in seine Hosentasche gleiten, drehte den Kopf zu ihr und lächelte sie an. „Um ehrlich zu sein, habe ich befürchtet, dass du dich heute vor mir versteckst."
„Warum sollte ich mich vor dir verstecken?" Er war der einzige Mensch, auf den sie sich heute gefreut hatte.
Er zog die Schultern hoch. „Wegen all den Dingen, die du gestern über mich erfahren hast."
„Da braucht es schon ein bisschen mehr, um mich abzuschrecken." Sie hatte vor ihren Augen jemanden sterben sehen. Zwei Leute, wenn sie den Jungen dazu zählte, der von seinem besten Freund erstickt worden war, aber den zählte sie nicht dazu, weil sie sich einreden wollte, dass er okay war. Was hätte sie an diesem Punkt noch abschrecken sollen?
Sie hätte gerne noch einmal Lionels Hand gehalten, so wie gestern, aber es waren zu viele Schüler auf dem Flur und es wäre ihr peinlich gewesen. Es war ihr fast schon unangenehm, hier draußen mit ihm auf dem Flur zu stehen.
Ob sie es sich nun einbildete oder nicht, aber es kam ihr verdammt so vor, als machten alle Schüler einen großen Bogen um sie herum. Oder vielleicht auch um Lionel. Vielleicht um sie beide, an diesem Punkt machte es vermutlich keinen großen Unterschied mehr.
„Wie war der erste Tag nach dem Schulverweis bisher?", fragte er und jetzt war sie es, die die Schultern hochzog.
„Sagen wir mal, ich arbeite an einem Plan, noch einen zweiten Schulverweis zu kassieren."
Er grinste und stieß sie sanft an. „Ist in diesem Plan noch Platz für einen Komplizen?"
„Wie geht dieser Spruch nochmal?" Ihr drehte sich der Magen um, als sie Rebecas Stimme vernahm, die keine drei Sekunden später mit genügend Sicherheitsabstand vor den beiden stehen blieb und verachtend musterte. „Irre und Irrer sitzen auf dem Baum..."
„Hast du nichts Besseres zu tun?", knurrte sie. „Ein paar Lügengeschichten über mich und Mr. Teakin zu verbreiten, zum Beispiel?" Sie stieß sich von der Wand ab und wollte an Rebeca vorbei in die Klasse gehen, aber Rebeca warf schützend ihre Arme vor den Kopf, machte einen großen Sprung nach hinten und kreischte: „Bleib weg von mir!"
Alle Blicke waren innerhalb von Sekunden auf sie gerichtet, falls sie das vorher nicht schon gewesen waren. Sie verzog das Gesicht.
„Oh, bitte, was soll die Scheiße?", knurrte sie. „Willst du mich komplett verarschen?"
Lionel griff nach ihrem Arm und zog sie halbherzig in den Klassenraum. „Komm mit." Das Zimmer war noch völlig leer. Der Unterricht begann erst in fünf Minuten.
„Hast du gesehen, was sie abgezogen hat?", fauchte sie und riss sich sauer von ihm los.
„Lass sie reden. Das ist es nicht wert."
Unbeirrt fuhr sie fort. „Und dann gibt es allen Ernstes Leute, die ihr das abkaufen!" Noch während sie die Worte aussprach, wurde ihr bewusst, dass Rebecas Tränen der Angst vielleicht gespielt, aber sicher nicht ganz unglaubwürdig waren, nachdem sie auf der Mädchentoilette ihr Klappmesser gezogen hatte, aber das wusste Lionel nicht. Machte sie das zu einer Lügnerin? Sie hatte Lionel nie davon erzählt und er hatte nicht nachgefragt. Eine verschwiegene Tatsache war keine Lüge.
„Ich kauf es ihr nicht ab", sagte er auch diesmal anstelle einer Frage.
Sie lachte bitter auf und ließ ihre Schultasche auf ihren Tisch fallen, bevor sie sich setzte. „Da bist du vermutlich der Einzige. Die ganze verdammte Schule kauft ihr diese Show ab, weil sie sich die Haare blondiert hat, falsche Wimpern trägt und ihren Ausschnitt besser ausstaffiert als jeder Pornostar."
„Das, was du jetzt gerade machst, ist genau das, was sie erreichen will", sagte er eindringlich. Dann nahm er ihre Hand in seine, und ging neben ihr in die Knie, um wieder auf Augenhöhe mit ihr reden zu können. „Lass das nicht an dich ran, okay?"
„Wie?", entgegnete sie, schon ein bisschen weniger sauer, einfach, weil seine Hände Wärme und Ruhe ausstrahlten. Und Sicherheit, ein Gefühl, das ihr so fremd war, dass sie sich fragte, ob es nicht vielleicht etwas anderes war. Sie biss sich auf die Unterlippe. „Wie soll ich das nicht an mich ranlassen, wenn die ganze Schule weiß-" Sie wollte es ihm nicht erzählen. Sie wollte nicht, dass er sie für durchgeknallt hielt. In seinen Augen wollte sie sie selbst bleiben. Die Person, mit der er gestern auf dem Bett gelegen und die er geküsst hatte.
Aber war diese Sache auf der Mädchentoilette nicht auch längst Teil von ihr? So war sie nicht! Wenn sie gekonnt hätte, hätte sie es ausradiert.
„Ich hab Mist gebaut", sagte sie leise und mied es, ihm in die Augen zu sehen. „Wirklich riesen großen Mist und wenn ich es rückgängig machen könnte, dann würde ich es tun." Würde sie das? Sie hatte etwas tun müssen. Das Messer in ihrer Tasche war ihr wie der einzige Ausweg erschienen.
Vielleicht hätte sie Lionel in diesem Augenblick die ganze Geschichte erzählt, aber plötzlich strömte eine Gruppe von Schülern in die Klasse, Lionel ließ ihre Hand abrupt los und glitt auf den Stuhl hinter seinem Tisch. Sie sah sich um, aber die lachenden, strahlenden Gesichter ihrer Mitschüler schienen nichts davon mitbekommen zu haben, dass sie und Lionel einander so nahe gewesen waren und falls doch, dann ließ es sich niemand anmerken.
Sie spürte, dass Lionel immer wieder versuchte, ihren Blick aufzufangen, aber sie ignorierte ihn. Stattdessen begann sie auf ihrem Block zu zeichnen, ein paar Ideen für Bilder, die sie später mit Justin würde sprayen können. Sie sah nicht auf, als Mr. Teakin die Klasse betrat. Nachdem sie bei ihrer letzten Begegnung vor ihm zusammengebrochen und wie ein Baby geheult hatte, war sie sich nicht sicher, ob sie ihn jemals wieder würde ansehen können.
Mr. Teakin räusperte sich und ihr Kopf schoss nach oben, weil sie am bloßen Räuspern erkannt hatte, dass es nicht Mr. Teakin war, der ins Klassenzimmer gekommen war.
Hinter dem Lehrerpult stand ein Mann mit grauen Haaren und einer Brille mit kleinen, runden Gläsern. Er konnte nicht größer sein als sie und trug einen blauen, ernst aussehenden Anzug.
Ein ungutes Gefühl schlich sich in ihren Bauch und sie wagte kaum, sich zu bewegen. Diesen Mann hatte sie noch nie hier gesehen. War er ein Lehrer?
„Ich hoffe, ihr hattet schöne Ferien", begann der Mann. Er hatte eine angenehme Stimme, aber etwas an ihm beunruhigte sie. Etwas an seinen Augen erinnerte sie an Mrs. Rampling und daran, das er bestimmt niemand war, mit dem man während des Unterrichts über Pringles reden konnte. „Mein Name ist McNeill. Mr. Oyenusi hat mich darüber informiert, dass ihr noch nicht über die neuesten Umstände aufgeklärt wurdet, daher übernehme ich das."
Neueste Umstände? Bei seinen Worten blieb ihr die Luft weg, weil sie wusste, was los war, noch bevor er es ausgesprochen hatte. Entweder hatte sie einen sechsten Sinn für solche Dinge entwickelt, oder es war nach allem, was passiert war, einfach keine Überraschung mehr.
McNeill stellte sich vor die Tafel und etwas an seiner Körperhaltung erinnerte sie unweigerlich an Danny und sie wandte den Blick ab. „Mr. Teakin hat unsere Schule leider verlassen."
Die ganze Klasse stieß schockierte Laute aus, manche erschrocken, andere betroffen. Sie blieb unbewegt und fixierte ihre Zeichnungen mit starrem Blick, ohne den Stift zu bewegen.
„Wieso?", fragte einer der Jungen.
„Ich darf mit euch nicht über die Gründe sprechen. Ich habe mir aber sagen lassen, dass Mr. Teakin sehr beliebt an der Schule war, ich kann nachvollziehen, dass sein Abgang für euch nicht leicht sein wird. Ich werde versuchen, mich seinen Lehrmethoden anzupassen."
Sich seinen Lehrmethoden anzupassen? Der Kerl war doch sicher hundert Jahre alt.
Plötzlich musste sie lachen und alle drehten sich zu ihr um. Sie drückte sich die Hand gegen die Lippen, konnte aber nicht zu kichern aufhören. Es war zu absurd. Es war offensichtlich, dass sie Mr. Teakin gefeuert hatten, weil die Gerüchte über das Verhältnis zwischen ihm und ihr zu schwerwiegend geworden waren; vielleicht hatten Eltern davon mitbekommen und dass Mrs. Rampling sie letztens erwischt hatte, als er ihr eine Hand auf den Rücken gelegt hatte, um sie zu trösten, hatte ihm vermutlich den Todesstoß verpasst. Aber nun hatten sie auch noch einen alten Greis als Ersatz eingestellt, damit ein solcher Fauxpas nie wieder vorkommen würde. Damit sie nicht wieder mit ihrem Mathelehrer in die Kiste steigen würde, etwas, das sie ohnehin nie getan hatte.
Mit aller Kraft versuchte sie, ihr Lachen zu unterdrücken, weil sie unter all den fassungslosen Gestalten vermutlich so aussah, als würde sie sich über Mr. Teakins Kündigung freuen, dabei fand sie sie einfach nur lächerlich. Ob ihre Mitschüler wohl auch dachten, dass Mr. Teakin wegen eines Verhältnisses mit einer Schülerin -wegen ihr- gefeuert worden war?
„Ich bin normalerweise vorurteilsfrei", begann McNeill. „Aber gehe ich recht in der Annahme, dass du Isobel bist?" Ihr Lachen erstarb langsam. Sie gab sich nicht die Mühe, ihm recht zu geben. „Mr. Oyenusi möchte dich sprechen."
Sie war nicht unbedingt überrascht. Es hätte sie eher verwirrt, wenn sie an ihrem ersten Schultag nicht zum Direktor gemusst hätte. Aber dass es genau der neue Mathelehrer war, der sie in die Direktion verwies, machte sie dennoch nervös.
Sie wollte aufstehen und gehen, aber McNeill hielt sie zurück.
„Nimm deine Sachen am besten gleich mit."
„Wieso?", fragte sie. Sie hätte große Lust gehabt, sich jetzt mit McNeill anzulegen, einen Streit anzufangen und dann aus der Klasse, aus dem Gebäude zu stürmen. Sie war so unfassbar wütend, dass sie sich in diesem Augenblick nicht einmal selbst vertraute.
„Weil ich es sage", erwiderte McNeill nachdrücklich.
„Toller Grund. Sehe ich aus, als wäre ich drei?" Ihre Stimme wäre an Patzigkeit kaum noch zu überbieten zu werden.
„Izzy", hörte sie Lionel murmeln und fuhr wütend zu ihm herum.
„Was? Bist du jetzt plötzlich auf der Seite dieser beschissenen Schule? Herzlichen Dank!" Weder er noch Mc Neill konnten noch etwas, sagen, weil sie mit ihren Sachen so schnell aus dem Klassenraum gestürmt war, nicht aber, ohne die Türe hinter sich so fest zuzuschlagen, dass sie darauf hätte Wetten können, ein paar Trommelfellrisse verursacht zu haben.
Sie wollte sich gar nicht ausmalen, in welche riesengroße Scheiße sie sich gerade wieder hineingeritten hatte, als sie den Flur entlang zu Mr. Oyenusis Büro ging.
Als sie sein Büro betrat, legte er einige der Papiere, die er eben noch in der Hand gehalten hatte, zur Seite und bedeutete ihr wie immer, ihm gegenüber Platz zu nehmen. Langsam fühlte sie sich in seinem Büro mehr zu Hause als bei Adam und Julia.
Normalerweise sagte Mr. Oyenusi ihr recht schnell, was Sache war, warum sie bei ihm im Büro saß, nur heute ließ er sich Zeit, was ihre Nervosität nur verstärkte.
Schließlich seufzte er schwer und schien damit zu kämpfen, ihr in die Augen zu sehen. „Aus gegebenem Anlass haben wir beschlossen, dich aus der zehnten Klasse in Mathe heraus zu nehmen und in die Neunte zurück zu stufen."
Sie hatte damit gerechnet, aber diese Nachricht traf sie trotzdem härter als die Kugel eines Kanonengeschosses.
„Aus gegebenem Anlass?", wiederholte sie ungläubig darüber, was diese Schule ihr antat. „Glauben Sie, dass Mr. Teakin mich nur deshalb eine Klasse hat überspringen lassen, weil ich mit ihm geschlafen hätte?" Es war immer so. Etwas Gutes widerfuhr ihr, aber sobald sie sich mit dieser Sache sicher fühlte, sich auch nur einen Augenblick lang ausruhte, fiel alles in sich zusammen, die Guten Dinge wurden ihr genommen.
Mr. Oyenusi war das Gespräch sichtlich unangenehm, aber das war ihr egal. Er räusperte sich und richtete seine Krawatte. „Das hat nichts mit dir zu tun, Isobel."
„Wollen Sie mich verarschen?" Ihre Augen funkelten vor Zorn und sie achtete nicht länger auf ihrer Wortwahl. „Mr. Teakin war der einzige Lehrer, der sich überhaupt für mich eingesetzt hat! Seinetwegen habe ich wieder gemerkt, dass ich gut mit Zahlen bin. Ich hab mich gut in seinem Unterricht gemacht! Bis Rebeca gefunden hat, dass es scheiße ist, dass ich eine Klasse in Mathe überspringen durfte. Das hat ihr nicht gepasst, also hat sie ein Gerücht verbreitet. Dass Mr. Teakin und ich ein Verhältnis haben. Jetzt wurde Mr. Teakin gekündigt, ich werde zurück in eine Klasse gestoßen, in der ich nichts zu suchen habe, und Sie wollen mir allen Ernstes erzählen, dass all das nichts mit mir zu tun hat?!" Ihre Stimme war immer lauter geworden und Mr. Oyenusi stand ruckartig auf.
„Mr. Teakin wurde nicht gekündigt, er ist freiwillig gegangen!", erwiderte er mit fester Stimme.
Sie lachte bitter auf. „Ich kann mir gut vorstellen, wie diese Freiwilligkeit ausgesehen hat. Entweder gehen Sie freiwillig und ersparen uns Arbeit, oder wir müssen als Kündigungsgrund den Verdacht auf Sex mit einer minderjährigen Schülerin angeben und Sie finden nie wieder einen Job an einer anderen Schule!"
„Es reicht!", knurrte Mr. Oyenusi. Sie hatte ihn noch nie wütend erlebt, aber jetzt war er es. Das war jedoch nichts im Vergleich zu den Gefühlen, die in ihrer Brust tobten. „Ich glaube nicht, dass du es dir leisten kannst, noch einmal vom Unterricht ausgeschlossen zu werden, oder, Isobel?"
„Wen kümmert es schon? Schmeißen Sie mich einfach raus, darauf sind doch ohnehin alle so scharf!" Ohne Mr. Teakin war ihre letzte Chance auf eine erträgliche Zeit hier verschollen. Sie wusste, dass Mr. Teakin immer versucht hatte, die Lehrer auf seine Seite zu ziehen, damit sie ihr eine Chance gaben. Aber wenn nun alle Lehrer dachten, dass der einzige Grund dafür war, dass die beiden eine Bettgeschichte am Laufen gehabt hatten...
Mr. Oyenusi ließ sich mit einem schweren Seufzen wieder in seinen Sessel fallen. „Isobel. Ich habe nie geglaubt, was über dich und Mr. Teakin erzählt wurde. Aber mir waren in diesem Fall wirklich die Hände gebunden."
Tränen der Wut brannten in ihren Augen. Niemand schien sich genug für irgendetwas zu interessieren, um sich dafür einzusetzen, zu seiner Meinung und zu seinen Werten zu stehen und sie zu verteidigen. Vielleicht hassten sie deshalb alle; weil sie zu dem stand, was sie dachte und bis aufs Blut verteidigen konnte, was sie sich in den Kopf gesetzt hatte. „Und für Mr. Teakin war die freiwillige Kündigung schadensbegrenzter, als eine fristlose Kündigung, die jeder künftige Arbeitgeber in Frage gestellt hätte. Er musste gehen." Ihretwegen. Mr. Teakin hatte ihretwegen seinen Job verloren. Weil er ihr hatte helfen wollen. Weil er an sie geglaubt hatte.
Alles, was du anfasst, machst du kaputt!
Sie hatte das nicht gewollt, sie hatte nicht gewollt, dass Mr. Teakin seinen Job verlor.
„Geh für den Rest der Stunde in die Bibliothek, Isobel. Nächste Woche bekommst du deinen alten Stundenplan zurück."
„Ich gehöre in Mathe nicht in die Neunte", sagte sie mit einem hoffnungslosen, zerrütteten Lächeln, in dem kein Funken Freude steckte. „Und das wissen Sie."
Mr. Oyenusi sagte darauf nichts mehr, also nahm sie ihren Rucksack und verließ sein Büro.
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