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Sie konnte nicht mehr warten. Zur Schule brauchte sie gute zwei Stunden mit dem Bus und sie musste drei Mal umsteigen. Sie konnte nicht noch länger auf ihre Schwester warten, wenn sie nicht viel zu spät kommen wollte. Drei Mal hatte sie Izzy angerufen, aber wahrscheinlich lag sie gerade verkatert auf Justins Sofa oder auf dem Teppich vor seinem Bett, oder (für Hannah unvorstellbar und wuterregend) in seinem Bett.
Sie packte ihre Tasche, stellte Izzy eine Wasserflasche, Kopfschmerztabletten und die Hälfte von ihrem Truthahn-Tomaten-Sandwich in die Küche auf den Tisch. Sie war sich sicher, dass ihre Schwester einen Kater hatte und vermutlich bald nach Hause kommen würde. Sie wollte schlicht und einfach nicht in die Schule gehen. Dann schrieb sie auf einen kleinen, gelben Klebezettel, dass sie zur Schule gefahren war, Izzy nachkommen sollte, was sie bestimmt nicht tun würde, und sie heute Abend mit ihr reden musste.
Dann packte sie ihre Tasche und lief aus der Wohnung.
Sie konnte verstehen, dass ihre Schwester momentan größerem Stress und Druck ausgesetzt war, als unter normalen Umständen, aber sie konnte nicht einfach die ganze Nacht wegbleiben, und am nächsten Tag auch noch die Schule schwänzen. Dadurch würde sich auch nichts zum Besseren wenden.
Während Hannah im Bus saß, versuchte sie noch gute vier Mal ihre Schwester zu erreichen, aber sie hob kein einziges Mal ab. Kopfschüttelnd schob sie ihr Handy zurück in die Tasche.
Manchmal hatte sie das Gefühl, dass Izzy wie ein Eisklumpen in ihren Händen lag. Eiskalt und man würde ihn am liebsten fallen lassen, aber dazu kommt es gar nicht, denn die eigene Körperwärme bringt ihn ohnehin zum Schmelzen. Izzy entglitt ihr zwischen den Fingern. Als stünde sie mitten in einer Wüste, ohne ein Fleckchen Schatten. Wenn der Eisklumpen schmolz, hätte sie zwar zu trinken gehabt, aber das verloren, was ihr am wichtigsten war.
Und sie sah keine Möglichkeit, diesen Prozess aufzuhalten.
Sie atmete tief durch und sagte sich, dass alles besser werden würde, sobald sie bei Adam eingezogen sein und sich ein wenig eingelebt haben würden. Und dann würden sie und Izzy in einem sichereren Umfeld wohnen. In einem, in dem sie sich nicht darüber den Kopf zerbrechen musste, ob die Stromrechnung bezahlt wurde oder warmes Wasser vorhanden war oder ob sie jemand mit dem Auto zur Schule bringen würde oder sie den Bus nehmen mussten. Sie wusste eigentlich gar nicht, wo Adam wohnte, wurde ihr bewusst. Den Namen des Ortes wusste sie schon: Palmer. Es war nur eine Stunde von hier entfernt, wenn man mit dem Auto fuhr, aber sie war noch nie dort gewesen. Doch wenn das Gericht und das Jugendamt beschlossen hatte, dass es ein gerechtfertigter Wohnort für zwei junge Mädchen war, dann musste doch irgendwann einmal jemand dort gewesen sein und gesehen haben, dass Adam die Ressourcen besaß, sich um die zwei zu kümmern, oder?
Sie wusste, dass er wieder geheiratet und einen Stiefsohn und eine Stieftochter hatte, aber Näheres war ihr nicht bekannt.
Als Hannah in der Schule ankam, war die erste Stunde schon fast um (sie hatte anscheinend doch länger auf Izzy gewartet, als geplant), also beschloss sie, sich in die Bibliothek zu setzen und auf die zweite Stunde zu warten. Insgeheim hoffte sie, Drew zu begegnen, aber natürlich wusste sie, dass er vermutlich im Unterricht saß und sie ihn erst heute Mittag wiedersehen würde, wenn überhaupt. Heute Morgen hatte sie ihre Narbe unter dem rechten Auge extra gut abgedeckt und sich ein hübsches Kleid angezogen, das sie mit den hohen Stiefeln ihrer Mutter kombiniert hatte. Sie waren ihr etwa eine Nummer zu klein, aber sie passten zu dem Outfit und sie hatte nicht das nötige Kleingeld, um sich die Garderobe zuzulegen, die sie sich wünschte. Das ganze Geld, das ihre Mom ihr für Kleidung gegeben hatte, war schon längst wieder weg. Teils, weil es ihr schwer fiel, an heruntergesetzten Taschen, Schuhen, Röcken und Kleidern vorbeizugehen, andererseits, weil sie Izzy die Hälfte ihres Geldes gegeben hatte, weil sie wusste, dass ihre Mom ihr kein Taschengeld gab. Natürlich war ihr klar gewesen, dass Izzy das Geld höchstens für ein Paar Sneakers und ansonsten Alkohol ausgegeben hatte, aber sie hatte sich trotzdem besser gefühlt.
Als sie in der Mittagspause wieder in dem kleinen Bistro gegenüber der Schule stand und sich einen Kaffee holen wollte, spürte sie, wie sich hinter ihr jemand gegen sie drückte; nicht so fest, dass sie ausgewichen wäre, aber nah genug, dass es kein Zufall sein konnte.
„Bitte nimm keinen Latte Macchiato mit extra viel Zucker, oder ähnliches", murmelte jemand in ihr Ohr. Sie drehte irritiert den Kopf, weil sie seine Stimme nicht sofort erkannt hatte. Sie versuchte das erfreute Grinsen zu unterdrücken, als sie sein Lächeln sah.
„Warum interessiert es dich, was ich trinke?", fragte sie und wandte den Blick wieder ab.
„Ich habe die Angewohnheit, das Getränk der Person zu bestellen, die vor mir in der Schlange steht."
So etwas Bescheuertes hatte sie noch nie gehört.
„Warum machst du das?" In der Spiegelwand hinter dem Tresen konnte sie ihn genau betrachten. Heute trug er keine Brille, seine braunen Haare sahen ein bisschen durcheinander aus und das helle Shirt war eigentlich zu locker für die Temperaturen, aber sein Oberarm drückte sich warm gegen ihren und sie fand, dass jemand, der eine solche Hitze ausstrahlte, ruhig ohne Jacke herumlaufen konnte.
Dann überprüfte sie schnell, ob ihre Frisur in Ordnung war. War sie.
„Weiß nicht, ich schätze, ich kann mich einfach nie entscheiden, was ich trinken will", entgegnete er. „So erspare ich mir die Nachdenkerei."
„Und was ist, wenn jemand etwas bestellt, was du total eklig findest?"
Er seufzte tief. „Tja, dann... nehme ich meist ein Wasser."
Sie lachte und als sie an der Reihe war, ihre Bestellung aufzugeben, orderte sie zwei Eiskaffees und bevor sie ihre Geldbörse herauskramen konnte und zu Gott betete, dass sie genügend Münzen dabei hatte, hatte Drew schon einen Zehndollarschein über den Tresen geschoben.
Während die beiden mit ihren Getränken am Campus entlangliefen und Smalltalk über ihre ersten paar Unterrichtsstunden führten, warf sie hin und wieder einen Blick auf ihr Handy, aber Izzy hatte sich nicht mehr gemeldet. Sie redeten über nichts Tiefgründiges, nur über die Fächer, die sie an diesem Tag gehabt hatten und sie versuchte sich seinen Stundenplan einzuprägen. Sie erzählte, dass sie die erste Stunde verpasst hatte und sie in Geschichte einen Kurzfilm über den zweiten Weltkrieg gesehen hatten, ein Thema, das auch ihrem Geschichtsprofessor an ihrer alten Schule nie langweilig geworden war.
„Was für Fächer hast du für die Elfte gewählt?", fragte Drew und sie setzten sich auf eine freie Bank in der Sonne. Sie war froh, einen Eiskaffee bestellt zu haben. Er bot eine gute Abkühlung und verhinderte, dass sie in der Hitze und Drews Gegenwart wegschmolz.
Sie liebte die Sonne. Im Gegensatz zu ihrer Schwester, die die Sonne mied, wie ein Vampir, und sich lieber in den Schatten der Nacht bewegte. In Alaska gab es ohnehin nicht allzu viel Sonne. Bereits Anfang Oktober waren die meisten Tage grau und kühl.
„Mal sehen." Sie kniff die Augenbrauen zusammen. „Englisch, Französisch, Kunstgeschichte, Geschichte, Mathe, Biologie, Chemie, Volkswirtschaft und Musik.
„Das sind neun", erwiderte Drew irritiert. „Du hättest nur acht Fächer wählen müssen." Sie zuckte mit den Schultern.
„Ich konnte mich zwischen Musik und Kunstgeschichte nicht entscheiden, aber sie schneiden sich beide mit keinem anderen Fach, also..."
Sie konnte den Blick, den er ihr zuwarf, nicht so recht einordnen. Vielleicht hielt er sie für verrückt, weil sie freiwillig mehr Fächer belegt hatte als notwendig. Vielleicht bewunderte er sie für ihren Ehrgeiz. So oder so, er sagte nichts mehr darauf.
„Und warum gehst du plötzlich auf unsere Schule? Hat dir deine alte Schule nicht gefallen?" Er drehte sich zu ihr, legte seinen Arm über die Lehne und berührte mit den Fingerspitzen ihre Schulter.
„Doch schon... Aber ich wohne bald zwei Stunden von meiner alten Schule entfernt. Mit dem Bus, jedenfalls. Deshalb habe ich gewechselt."
„Jobwechsel der Eltern?"
„Nein", meinte sie zögerlich und wich seinem bohrenden Blick aus. Der Grund für ihren Umzug war nun wirklich keine Ecke ihres Lebens, die sie gerne beleuchtete. „Das ist eine lange, komplizierte Geschichte."
„Ich bin sicher, ich kann dir folgen", lächelte er.
„Vielleicht ein anderes Mal", entschuldigte sie sich und trank noch schnell einen Schluck Kaffee. Reflexartig warf sie einen flüchtigen Blick auf ihr Handy.
„Erwartest du einen Anruf? Oder hoffst du, dass es bald zur nächsten Stunde läutet, damit du mich los bist?" Was hatte Drew nur an sich, das ihr bei allem, was er sagte, ein Lächeln auf die Lippen zwang? Vielleicht war es der charmante Unterton in jedem seiner Worte. Vielleicht war es sein Blick, der sich an ihr festkrallte. Sie wusste, dass er genau ihr Typ war und es gefiel ihr, mit ihm Zeit zu verbringen und diese ganz besondere Art der Aufmerksamkeit von ihm zu bekommen. Die Art von Aufmerksamkeit, die das Herz eines jeden Mädchens höher schlagen ließ. Die Art von Aufmerksamkeit, die bestimmt nicht allzu lange auf ihr liegen würde, aber sie suchte ja auch nicht nach einer Beziehung.
„Ich warte nur darauf, dass meine Schwester sich endlich meldet." Er sah sie fragend an. Sie gab sich einen kleinen Ruck. „Sie... Sie war die ganze Nacht unterwegs. Sie ist nicht nach Hause gekommen und jetzt schwänzt sie die Schule. Ich will nur wissen, ob es ihr gut geht, aber sie ruft mich nicht zurück."
„Wie alt ist sie?"
„Vor kurzem fünfzehn geworden", seufzte sie.
Sie hatte das Gefühl, dass es mit jedem Geburtstag schlimmer wurde. Jahr um Jahr bewegte Izzy sich weiter von ihr weg. Jeden Tag ein kleines Stückchen mehr, so klein, dass sie es nicht bemerkte. Doch wenn sie jetzt an die Zeit zurück dachte, an der die beiden unzertrennlich gewesen waren, verstand sie nicht, wann und warum ihre Schwester sich so von ihr entfernt hatte. Sie hatte es einfach nicht mitbekommen, so langsam und schleichend war der Prozess von statten gegangen und jetzt erzählte Izzy ihr nicht einmal mehr, ob sie schon zu Abend gegessen hatte oder was für Hausaufgaben sie aufhatte, geschweige denn, wie es in ihrem tiefsten Inneren aussah. Sie ging von reinstem Chaos aus, das in ihrer kleinen Schwester wütete. Chaos, das über die Jahre gewachsen war und das Izzy mit Ignoranz, Isolation und Alkohol zu verdrängen versuchte. Sie wusste nie, wo ihre Schwester war, außer, wenn sie zu Hause vor dem Fernseher oder in ihrem Zimmer die Zeit totschlug. Sie wusste nicht, was sie anstellte, wenn sie nicht nach Hause kam oder mit welchen Leuten sie sich wann herumtrieb. Sie war froh, wenn Izzy am nächsten Morgen überhaupt noch in der Stadt war. Meistens roch Izzy nach Gras, Zigaretten und Alkohol, wenn sie nach Hause kam und von ihr erwischt wurde, bevor sie die Gelegenheit hatte, zu duschen, sich die Zähne zu putzen und umzuziehen. So oft hatte sie schon versucht, mit Izzy darüber zu reden und jedes Mal schlug sie die Türe zu, oder rannte aus dem Haus oder blockte schlicht jeden Gesprächsanfang ab.
Sie schüttelte den Kopf und versuchte ein Lächeln aufzusetzen. „Das ist kein schönes Thema. Reden wir doch über etwas Anderes."
Drew stieg mit einem Lächeln auf den Themenwechseln ein. „Was für Filme siehst du dir gerne an?"
„Hm..." Sie hatte nicht wirklich ein Lieblingsgenre. Solange der Film gut war und keine infantilen Witze beinhaltete, vielleicht auch ein bisschen Wissen wiedergab, war ihr alles recht.
„Kann ich die Frage auch zurückgebe?"
„Nein, weil dann lachst du mich aus."
„Bestimmt nicht." Sie schüttelte den Kopf. Immerhin sah sie sich selbst noch Disneyfilme aus ihrer Kindheit an, wenn ihre Schwester nicht zu Hause war, es gab also nichts, worüber sie gelacht hätte.
„Ich mag historische Filme", sagte er schließlich ernst und wartete halb gespannt, halb zurückhaltend auf ihre Reaktion.
„Daran ist doch nichts schlimm", erwiderte sie, froh darüber, dass er nicht zu den kindischen Kerlen gehörte, deren Lieblingsfilm ein Porno war. „Ich mag... Thriller."
„Thriller?"
„Psychothriller. Und Dramen. Ganz viele Dramen." Obwohl sie fand, dass ihr Leben schon genug Drama beinhaltete, liebte sie es, herzzerreißenden Schicksalen auf dem Bildschirm zu folgen. Es gab ihr das Gefühl, nicht der einzige Mensch mit echten Problemen zu sein, denn ihre Freunde, die im Grunde genommen alle nur Bekanntschaften waren, die sie nie an sich herangelassen hatte, hätten niemals nachvollziehen können, was sie in ihrem Leben bereits erlebt hatte. Womit sie hatte klarkommen müssen und immer noch musste. Was sie hatte tun müssen, um für sich, Izzy und ihre Mom zu sorgen.
„Damit lässt sich doch arbeiten", lächelte er und trank einen Schluck. „Im Kino läuft gerade ein Thriller, der von Kritikern in den Himmel gelobt wurde."
„Ach ja?" Sie unterdrückte ihr breites Grinsen und stellte sich unwissend, als ob sie die Frage hinter dieser Bemerkung nicht verstehen würde. „Worum geht es?"
„Lass dich überraschen. Bist du je blind in einen Kinosaal gegangen, und hast nur den Filmtitel gewusst?"
„Nein."
„Es ist der Hammer. Keinerlei Erwartungen, keinerlei Vorahnungen, man wird einfach in die Geschichte geworfen."
Sie kniff die Augen zusammen. „Okay, aber woher weißt du dann, dass dir der Film gefallen wird?"
„Das weiß man eben nicht. Aber seien wir mal ehrlich: Das garantiert auch kein Trailer dieser Welt." Dem konnte sie nichts entgegensetzen. Trailer ruinierten Filme eher und nahmen viel zu viel von der Geschichte vorweg.
„Also, hast du Lust, dich auf ein kleines Abenteuer entführen zu lassen?", zwinkerte er und der Kaffee in ihrem Magen verwandelte sich in glühende Lava, als sie nickte.
„Klar. Gerne. Wieso nicht?"
Sie redeten noch eine Weile über ihre Lieblingsfilme und Schauspieler, bevor es zur nächsten Stunde klingelte. Davor tauschten sie schnell noch ihre Handynummern aus und verabredeten sich für Morgen oder Übermorgen, aber Drew nahm ihr das Versprechen ab, sie morgen Mittag wieder im Bistro auf einen Kaffee zu treffen, bevor er sich beeilte, in den Chemiesaal zu kommen.
Den ganzen Weg zu ihrem Klassenraum über fühlte sie sich leicht wie eine Feder und lächelte selig vor sich hin, wie sie es schon seit Ewigkeiten nicht mehr getan hatte.
*
Sie kannte Izzy schon ihr ganzes Leben lang und trotzdem hatte sie das Gefühl, sie nicht zu kennen. Nicht mehr.
Ihre Schwester hatte Tage, an denen sie kein Wort sprach. Izzy hatte Tage, an denen sie gut gelaunt und singend durch die Wohnung sprang, aber diese Tage waren selten. Sie hatte Tage, an denen sie jede Kleinigkeit auf die Palme brachte.
Die Wohnungstüre war nicht abgesperrt, als sie gegen fünf Uhr nach Hause kam, also war Izzy immerhin endlich zurückgekommen und sie atmete erleichtert auf. Sobald sie die Türe geöffnet hatte, konnte sie die Musik aus dem Zimmer ihrer kleinen Schwester hören. Es war die Art von Musik, der sie nichts abgewinnen konnte, weil sie ihrer Meinung nach aggressiv und rabiat war, nur aus Bass und Schimpfwörtern bestand und ihrer Schwester und vielen anderen Jugendlichen ein falschen Bild von... nun ja, allem vermittelte. Alkohol, Drogen, Sex, Gewalt.
Aber die Musik dröhnte mit jeder Sekunde lauter, wie ihr schien, aus Izzys Zimmer. Vor einem knappen Jahr war ihre Schwester mit der kleinen Lautsprecherbox angekommen und seitdem war keine Ruhe mehr. Woher Izzy die hatte, wusste sie nicht. Entweder hatten Justin, Cassy oder Riley sie ihr geschenkt, oder sie hatte sie jemandem geklaut.
Ihr fiel auf, dass ihre Schwester das Sandwich gegessen hatte und die Wasserflasche nicht mehr auf dem Tisch stand, dafür hatte sie die Notiz zerknüllt auf dem Tisch zurückgelassen.
„Iz?", rief sie und ließ die Türe zufallen. Sie drückte sich zwischen den Kartons durch, die sie gestern Abend noch aus ihrem und Izzys Zimmern geschafft hatte, damit ihre Zimmer nicht so vollgestellt waren, und ging zu Izzys Zimmer. Auf dem Weg dahin ließ sie ihre Tasche auf die Couch fallen.
„Izzy?" Sie klopfte an ihre Zimmertüre, aber entweder war die Musik so laut, dass Izzy das Klopfen überhört hatte, oder sie lag ohnmächtig irgendwo rum, weil sie sich gestern Nacht so zu gedröhnt hatte, oder sie hatte schlicht beschlossen, nicht auf das Klopfen und die Rufe ihrer großen Schwester zu reagieren.
Sie öffnete die Türe und stellte fest, dass wohl ersteres der Fall war. Es stank nach Sprühfarbe. Izzy hatte ihr den Rücken zugekehrt, das schwarze Tuch mit dem Totenkopfmuster über Nase und Mund gelegt und hinter den Haare zusammengeknotet, und sprayte die Wand neben ihrem Bett mit roter Farbe an.
Sie schaltete die Musik aus und Izzy drehte sich abrupt um.
„Du sollst die Musik nicht so laut drehen, die Nachbarn beschweren sich sonst wieder." Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
„Na und?", fragte Izzy und drehte sich wieder um. „Wir sind ohnehin bald weg." Sie sprayte ungehindert weiter. Hannah wusste nicht, was diese Schmiererei darstellen sollte, aber die Wände von Izzys ganzem Zimmer waren voll mit schwarzer, roter, blauer, pinker, gelber, violetter und grüner Sprühfarbe. Ab und zu blitzte auch ein goldener oder silberner Farbstreif hindurch.
Teilweise übersprayte sie alte Sachen, weil sie einfach keinen Platz mehr hatte. Das war dem kleinen Deal zwischen Hannah und Izzy zuzuschreiben, den sie geschlossen hatten, als Izzy mit dreizehn eines Abends von der Polizei nach Hause gebracht worden war, als sie die Wand eines Parkhauses besprayt hatte. Ihre Mutter hatte nichts davon mitbekommen, weil einer der Polizisten genau gewusst hatte, wie es Zuhause um die beiden Mädchen stand und sie gesagt hatte, dass Izzy ohne Strafe davonkommen würde, würde sie die Sauerei am nächsten Tag wegmachen.
Selbiger Polizist war schon ein paar Mal von Nachbarn alarmiert worden, wenn ihre Mutter wieder Mal in ihrem Wahn gesteckt und geschrien und ihre Töchter geschlagen hatte, weil sie ihre Medikamente nie nehmen wollte.
Seit diesem Abend durfte Izzy die Wände in ihrem Zimmer als Leinwand benützen, aber nicht mehr an öffentlichen Plätzen sprayen. Ob sie sich daran hielt, wagte Hannah zu bezweifeln, denn die Polizei setzte sie immer noch oft genug vor der Haustüre ab, aber Izzy behauptete jedes Mal, dass nicht sie gesprayt hatte, sondern nur ihre Freunde.
Onkel Rob würde sich über die Wand freuen.
„Können wir kurz reden?"
„Bin beschäftigt", gab Izzy desinteressiert zurück.
„Das sehe ich." Sie ging zum Fenster und stieß es auf, um den Farbgeruch zu verjagen. „Warum machst du das, wenn wir sowieso wegziehen?" Izzy würde von ihren Bildern, Zeichen und Schriftzügen doch gar nichts haben, sobald sie hier ausgezogen sein würden. Und obwohl ihre Unterkunft bei Adam nur vorübergehend war, wusste sie weder, wie lange dieses vorübergehend andauern würde, noch ob Onkel Rob sie je wieder hier einziehen lassen würde, würde ihre Mom endlich zurückkommen.
Izzy gab keine Antwort. Sie legte sich einen Arm über Mund und Nase, weil ihre Schwester nicht zu sprayen aufhörte.
„Izzy wir müssen wirklich reden."
„Worüber?!" Izzy fuhr herum und riss sich das Tuch vom Gesicht. „Worüber willst du mit mir reden?"
„Darüber, wie du dich verhältst!" Jetzt wurde auch sie laut. „Wie du dich mir gegenüber verhältst!"
„Wie ich mich dir gegenüber verhalte? Es ist verdammt nochmal nicht deine Aufgabe, Entscheidungen für mich zu treffen. Du bist nicht Mom!" Heute war anscheinend einer jener Tage, an denen Izzy komplett dicht machen wollte.
Izzys Tonfall gefiel ihr ganz und gar nicht, aber sie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Denn Izzy hatte nicht unrecht. Hannah war selbst erst siebzehn. Sie hatte weder das Sorgerecht für Izzy, noch die nötige Autorität (wobei sie sich nicht sicher war, wer die nötige Autorität aufbringen konnte, um ihre Schwester unter Kontrolle bringen zu können).
Sie konnte nichts tun. Und sie ging auch nicht davon aus, dass Adam auch nur ein Fünkchen Macht über Izzy haben würde. Sie kannte diesen Mann nicht. Hannah selbst hatte über die Jahre nur minimalen Kontakt zu ihm gehabt und trotzdem hatte das Gericht beschlossen, dass beide zu Adam ziehen würden, der sich bereit erklärt hatte, sich um die Mädchen zu kümmern, solange die Sache mit ihrer Mutter noch in der Schwebe stand und keine von beiden alleine leben durfte.
Und Großeltern hatten die Schwestern nie gehabt. Wobei, das war nicht ganz richtig: Großeltern mussten sie haben, aber sie hatten sie nie kennengelernt. Bei Adam zu leben war die einzige Möglichkeit. Doch ob es etwas an Izzys Verhalten ändern würde, blieb abzuwarten.
Es kam ihr vor, als wären meterhohe Mauern um Izzy herum aufgebaut, durch die sie nicht dringen konnte. Wann Izzy diese Mauern aufgezogen hatte, konnte sie gar nicht genau sagen. Es war langsam passiert. Stückchenweise. Und immer noch fragte sie sich, ob sie etwas hätte anders machen können. Ob sie an irgendeinem Punkt, der ihr unbedeutend vorgekommen war, für Izzy hätte da sein müssen, weil dieser Moment vielleicht doch allesentscheidend gewesen war. Aber das würde sie vermutlich nie erfahren. Schon gar nicht, wenn Izzy nicht mit ihr reden wollte.
Sie seufzte. „Bitte versprich mir, dass du morgen in die Schule gehst. Und dass du heute Nacht zu Hause bleibst." Izzy reagierte nicht und sie gab sich einen Ruck. „Justin kann von mir aus auch herkommen und über Nacht bleiben, wenn du das möchtest." Auch wenn sie sich nicht mit dem fünfundzwanzigjährigen Drogenjunkie anfreunden konnte, mit dem Izzy nachts durch die Straßen rannte, so war es ihr doch lieber, Izzy mit ihm hier zu wissen, als irgendwo da draußen mit einer Flasche Wodka und ein paar Pillen und viel nackter Haut.
Izzy stieß gleichermaßen verachtend und amüsiert den Atem aus. „Er ist nicht mein Freund, falls du das denkst."
„Okay, aber... bitte, bleib zu Hause. Ich fühl mich nicht wohl dabei, wenn du die ganze Nacht umherwanderst. Und ich fände es schön, wenn ich morgen nicht alleine zur Schule fahren muss..."
Izzy ließ den Kopf nach hinten fallen und stöhnte auf. „Von mir aus. Und jetzt raus aus meinem Zimmer!"
Sobald sie hinter sich die Türe geschlossen hatte, drehte ihre Schwester die Musik wieder bis zum Anschlag hoch.
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