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Sie war froh, dass das Wetter endlich etwas wärmer wurde. Die Temperaturen trauten sich gegen Mittag über zehn Grad Celsius und die Sonne schaffte es ab und zu, zwischen den Wolken hindurch zu blinzeln. Deshalb genoss sie den Fensterplatz, den sie in Mr. Teakins Kurs hatte, denn so konnte sie sich die Sonne aufs Gesicht und auf die Arme scheinen lassen; ein tolles Gefühl nach dem langen Winter. Leider bekam sie ihre Sommersprossen nie so schnell wie Izzy, aber Izzy bekam sie selbst kaum noch, weil sie sich immer aus der Sonne fernhielt. Auch, weil ihre kleine Schwester direkt über der Oberlippe kleine, helle Sommersprossen bekam und ihr vor ein paar Jahren einmal gesagt worden war, dass es wie ein Bart aussah, dabei hatte sie die zimtbraunen Sprenkel an ihrer kleinen Schwester immer süß gefunden und insgeheim beneidet.
Gut, vielleicht nicht ganz so geheim, denn mit sechzehn hatte sie sich ab und zu im Sommer ein paar Sommersprossen aufs Gesicht getupft, bevor sie das Haus verlassen hatte.
Ihr Sonnenplätzchen war auf jeden Fall in letzter Zeit das einzig Gute am Matheunterricht. Nicht, weil sie plötzlich entschieden hatte, Mr. Teakin nicht mehr zu mögen oder Mathe nicht mehr zu verstehen, sondern, weil sie seit etwa einer Woche einen deutlichen Stimmungsumschwung in der Klasse bemerkte, wann immer Mr. Teakin den Raum betrat und seinen Unterricht begann. Was vor ein paar Monaten als loses Gerücht zur Unterhaltung der Schüler gedient hatte, hatte sich mittlerweile als unumstößliche Tatsache in den Köpfen der Leute festgebissen. Sie wusste nicht einmal, wie oder wann das passiert war. Es war so schnell gegangen. Und nicht nur Izzy wurden seltsame Blicke zugeworfen, sondern nun auch ihr.
Sie war schon das Mädchen, das mit dem Bruder ihrer besten Freundin schlief, sie wollte nicht auch noch die Schwester des Mädchens sein, das mit einem Lehrer schlief, obwohl Izzy das nicht tat, es war zu absurd, und sie hasste sich dafür, dass ihr dieser Gedanke überhaupt kam.
In ihrer Schulstufe gingen die meisten mit diesem Gerücht eher vorsichtig um, ließen sich nicht ganz so schnell und blind einwickeln und redeten nicht offen auf den Fluren darüber. Sie war froh darüber, denn die jüngeren Schüler schienen sich einen Spaß daraus zu machen, sich das Maul darüber zu zerfetzen. Sie war froh, nicht in Izzys Haut zu stecken. Aber in ihrer eigenen wollte sie seit ein paar Tagen auch nicht mehr sein.
Das einzig Aufbauende war, dass sie nicht mehr alleine zu Mittag aß, weil sie jetzt immer mit Hao zusammen saß. Sie konnte verstehen, warum Mia sich in ihn verliebt hatte. Er war witzig, ziemlich süß und hatte keine Angst davor, sich mit der Außenseiterin abzugeben. Eine Außenseiterin zu sein, war sie nicht gewohnt. An ihrer alten Schule hatten sie eigentlich immer alle gemocht.
Sie fuhr auf ihrem Stuhl zusammen, als plötzlich ein Knall, als hätte jemand eine Türe aufgeschlagen, gefolgt von einem lauten Schrei die Stille des Klassenraumes zerschnitt und alle erschrocken von den Beispielen aufsahen, die sie selbstständig hatten lösen sollen. Ihr Herz pochte immer noch wie wild gegen ihre Brust und im ersten Augenblick konnte sie sich gar nicht bewegen. Vorsichtig sah sie sich um, doch der Schrei war eindeutig nicht aus dem Klassenraum gekommen, denn alle Blicke richteten sich auf die geschlossene Türe, die auf den Flur hinausführte. Es war mucksmäuschenstill in dem Raum.
„Ich bring euch um!"
Ein erschrockenes Luftschnappen ging durch alle Reihen, was sie spannend fand, denn sie fühlte sich so, als stecke etwas tief in ihren Lungen, das sie am Atmen hinderte.
„Bleibt sitzen", sagte Mr. Teakin ernst, stand auf und ging aus dem Klassenraum.
„Wenn ich muss, dann bring ich euch um!", drang die Stimme, nun, da die Türe geöffnet war, klarer und schärfer in den Klassenraum.
Natürlich blieb niemand sitzen, sie am aller wenigsten, sobald sie begriffen hatte, dass es Izzys Stimme war, die so aufgebracht über das Stockwerk hinweg drang und als sie selbst auf den Flur kam, war er dichter als in den Pausen mit anderen neugierigen Schülern und besorgten Lehrern gefüllt.
„Was ist hier los?", fragte eine Lehrerin mit kurzen schwarzen Haaren, die sie nur vom Sehen her kannte. Sie zwängte sich zwischen ihren Mitschülern durch und sah, dass es tatsächlich Izzy war, die am anderen Ende des Flurs stand. Mit ihren schwarzen Haaren und dem dünnen Pony, den sie sich irgendwann mitten in der Nacht vor zwei Tagen geschnitten und dann am nächsten Morgen bereut hatte, hatte sie ihre kleine Schwester kurz nicht wiedererkannt. Mit den dunklen Haaren wirkte Izzy viel bedrohlicher als sonst, aber vielleicht lag das auch nur an dem Klappmesser, dass sie in der Hand hielt.
Sie schluckte, aber ihre Kehle war trocken und sie traute ihren Augen kaum.
Sie hatte ein Klappmesser in der Hand, Izzy hatte ein Klappmesser in der Hand, ihre kleine Schwester, hatte...
„Sie hat völlig den Verstand verloren!", schrie das Mädchen, dem Izzy gegenüber stand, hysterisch. Sie glaubte, dass das Mädchen in Izzys Klasse war und Rebeca hieß. Einige Jungen aus ihrem Jahrgang mochten Rebeca. Sie war recht hübsch. Sie wusste, dass Izzy Rebeca hasste und Rebeca Izzy hasste (Izzy hatte ihr zumindest erzählt, dass es Rebeca war, die voller Freude die Gerüchte über sie und Mr. Teakin gestreut hatte).
Aber jetzt blutete Rebecas Unterarm, ein langer Schnitt zog sich an ihm entlang, von ihrem Ellenbogen bestimmt zwanzig Zentimeter Richtung ihres Handrückens, und ihr Zunge fühlte sich so rau an wie Sandpapier, weil sie nicht glauben wollte, dass Izzy dieses Mädchen angegriffen haben sollte. Dass Izzy dieses Mädchen verletzt hatte...
„Bleib mir vom Leib!", fauchte Izzy mit erhobenem Messer und einer Stimme, die kaum Izzy gehören konnte. Die beiden Mädchen sahen so aus, als hätten sie einander buchstäblich in die Haare gekriegt. Nur schlimmer.
Das war ein Alptraum, ein absoluter Alptraum und sie wollte jetzt aufwachen.
„Isobel!", bellte die Lehrerin. Vielleicht war es Mrs. Rampling. Mrs. Rampling mochte Izzy nicht sonderlich. Kein Lehrer mochte Izzy. Außer vielleicht Mr. Teakin, der in diesem Augenblick allerdings selbst genauso schockiert aussah, wie sie sich fühlte. Genauso überrascht und verwirrt.
„Nimm sofort das Messer runter, oder ich rufe den Sicherheitsdienst!"
Izzy fuhr zu der Lehrerin herum und richtete das Messer gegen sie und es schien, als schnappten in diesem Augenblick alle erschrocken nach Atem, obwohl Izzy bestimmt fünf Meter von der Lehrerin entfernt stand. Doch sie sagte nichts. Izzy starrte die Lehrerin nur stumm an, mit Augen, die sie an einen Wolf erinnerten, und sie wollte ihr sagen, dass sie aufhören sollte, aber sie konnte sich nicht bewegen und dann ließ Izzy das Messer langsam sinken, wandte den Blick von der Lehrerin ab und stürmte den Gang entlang. Im selben Moment zog sich die Masse an Schülern erschrocken zurück und drückte sich gegen die Wände, nur sie blieb, wo sie war, und starrte Izzy dümmlich nach, die sich nicht nach ihr umdrehte, kaum etwas oder jemanden wahrzunehmen schien.
Während sie ihrer Schwester nachsah, fing sie am Ende des Flurs Andrews Blick auf, der sie so eindringlich fixierte, dass sie ihm nicht ausweichen konnte.
„Rebeca hat gar nichts gemacht!", hörte sie einen Jungen aufgebracht sagen und schaffte es so, den Blickkontakt zu Andrew zu trennen und sich wieder zu Rebeca umzudrehen. Neben ihr standen zwei Jungen, die sie noch nie gesehen hatte, zumindest nicht bewusst, aber sie schienen Rebeca zu kennen, also war es wohl nicht unwahrscheinlich, dass auch die beiden in Izzys Jahrgang waren.
„Isobel ist einfach auf der Mädchentoilette mit einem Messer auf mich losgegangen!", kreischte Rebeca.
Sie konnte beinahe spüren, wie sie kreidebleich im Gesicht wurde. Das glaubte sie nicht. Izzy hätte so etwas niemals getan. Izzy würde niemals jemandem mutwillig wehtun.
Mr. Teakin löste sich von der Gruppe seiner Schüler und trat auf Rebeca zu. „Ich bringe dich zur Schulärztin."
Rebeca wich sofort von ihm zurück. In ihren Augen lag Verachtung. „Von Ihnen lasse ich mich nirgendwo hinbringen."
Sie war Zeugin davon, wie Rebeca mit einem Schlag große Kulleraugen bekam, einer der Jungen schützend eine Hand um ihre Schulter legte und Mr. Teakin ebenso misstrauisch ansah, aber sie erkannte in dem ganzen Akt ein einziges Schauspiel und war angewidert von den Dreien, merkte aber sofort wieder, wie die Angst der Schüler vor Izzy sich in Vorsicht und Aufmerksamkeit vor Mr. Teakin umwandelte. Sie verstand, warum Izzy Rebeca nicht mochte
Die Lehrerin mit den kurzen, schwarzen Haaren trat zwischen Rebeca und Mr. Teakin und nur für einen kurzen Moment konnte sie erkennen, dass auch die Lehrerein nicht mehr einschätzen konnte, ob sie den Gerüchten über Izzy und Mr. Teakin nun Glauben schenken sollte oder nicht.
„Ich begleite dich auf die Krankenstation", sagte sie in beruhigendem, aber bestimmendem Tonfall, bevor sie sich an die Jungen wendete. „Ab ins Büro des Schuldirektors."
Ob Izzys Seite der Geschichte gehört werden würde? Ob sie gehört werden wollte?
Sie wollte sie hören. Sie musste sie hören. Denn niemals konnte sie glauben, dass Izzy grundlos ein Mädchen verletzt hatte.
Hoffentlich hatte Izzy einen Grund. Sie brauchte einen Grund.
„Zurück in die Klassen!", hallte Mr. Teakins Stimme barsch über den Flur und alle beeilten sich zurück in ihre Klassenräume. Er selbst blieb noch einen Augenblick an der Stelle stehen, an der ihre Schwester eben noch mit einem Klappmesser in der Hand gestanden hatte.
Wie in Trance setzte sie sich auf ihren Platz zurück und richtete ihren Blick wieder auf die Matheaufgaben, während sie dem Drang widerstand, sofort ihr Handy hervorzuziehen und zumindest zu versuchen, Izzy anzurufen oder ihr zu schreiben. Ihr nachzulaufen.
Die restliche Stunde sprach keiner ein Wort und egal, ob sie es sich einbildete oder nicht, sie glaubte, dass sie alle anstarrten. Als die Pausenglocke läutete, war sie die erste, die aus dem Klassenzimmer sprintete.
Izzy würde niemandem wehtun.
Das war es, was sie sich den restlichen Vormittag über selbst sagte. Die gesamte Mittagspause hinweg versuchte sie, Izzy übers Telefon zu erreichen, aber Izzy ignorierte sie. Anfangs läutete ihr Telefon noch. Nach ihrem dritten Anruf drückte Izzy sie weg und beim vierten kam sie direkt in die Sprachbox.
Hao sprach sie beim Mittagessen besorgt darauf an, aber als er merkte, dass sie nicht bereit war, darüber zu sprechen, wechselte er das Thema und versuchte, sie mit einem neuen Kartentrick abzulenken.
Keine Sekunde lang konnte sie sich auf den Unterricht konzentrieren. Wie auch? Sie wusste, dass Izzy von der Schule fliegen konnte, es vermutlich sogar würde.
Wieder machte sich Wut in ihr breit.
Drei Jahre. Drei verdammt Jahre, dann würde Izzy tun und lassen können, was sie wollte. Es waren nicht einmal mehr drei Jahre. Izzy war bald sechzehn. Warum konnte sie sich jetzt nicht zusammenreißen? Danach konnte sie von hier weg. Von Adam und Julia, dieser Schule, von Mom. Von ihr. Sie konnte zu Justin gehen und mit ihm und seinem bescheuerten Motorrad durch ganz Amerika fahren, in Bars jobben, billigen Motels wohnen, sich die Haare abrasieren, ein paar Tattoos stechen und nur von Pizza und zimmerwarmem Dosenbier ernähren.
Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass es ihr Angst machte, dass Izzy in drei Jahren ein unabhängiges Leben ohne sie führen würde. Sie würde sie nicht mehr beschützen, nicht mehr auf den richtigen Weg schieben können. In drei Jahren würde sie ihre Schwester verlieren, doch wenn Izzy sich nicht zusammenriss, dann würde es sogar früher schon passieren.
Izzy würde niemals jemandem wehtun. Wieder und wieder sagte sie sich das selbst, bis sich irgendwann noch ein anderer Gedanke brutal dazwischenschob.
Niemandem würde Izzy wehtun. Niemandem. Außer sich selbst.
Es war lange her, sie hatten noch in Anchorage gelebt, und sie hatte sich große Mühe gegeben, es zu vergessen, aber als Izzy einmal nicht zu Hause gewesen war, hatte sie ihr Zimmer durchsucht, in der Hoffnung, auf so etwas wie Drogen zu stoßen. Oder Alkohol oder sonst etwas, mit dem sie Izzy konfrontieren, mit dem sie ihr beweisen konnte, dass Justin ein schlechter Einfluss war, was ihre kleine Schwester ohnehin so wenig gekümmert hätte, wie ein Insektenstich.
Stattdessen hatte sie ein grauenhaftes Buch gefunden. Ein Notizbuch mit grauem Lesebändchen, schwarzem Hardcover und dicken Papierseiten. Für einen kurzen Augenblick hatte sie gedacht, dass Izzy vielleicht Tagebuch schrieb, weil sie es unter ihrem Kopfkissen gefunden hatte. Aber Izzy und Tagebucheinträge passten nicht zusammen. Damals nicht und heute schon gar nicht. Die vollbemalten und besprayten Wände ihres Zimmers waren Izzys Tagebuch gewesen. Ihr war immer klar gewesen, dass Izzy ihre Gefühle lieber durch das sprayen ausdrückte und verarbeiten konnte, deshalb hatte sie ihr je überhaupt erst das Sprayen in ihrem Zimmer erlaubt. Das hatte Izzy zwar nicht daran gehindert, nachts draußen herumzuwandern und von der Polizei beim Sprayen erwischt zu werden, aber-
Sie hatte es versucht.
Sie hatte so sehr versucht, für Izzy zu sein, was ihre Mom nie für sie hatte sein können. Sie hatte immer versucht, Izzy beizubringen, was richtig und was falsch war. Hatte versucht, ihr Raum für ihre Gefühle zu geben.
Und ein Teil von ihr glaubte, dass Izzys Verhalten ihr Versagen war. Vielleicht hätte sie niemals die Aufgaben ihrer Mom übernehmen sollen, denn es sah mehr und mehr danach aus, als ob sie dem gar nicht gewachsen war. Es war ihr schon lange klar gewesen, aber jetzt konnte sie es nicht mehr verleugnen.
Und das Buch -dieses furchtbare Buch, das sie an diesem Tag unter Izzys Kopfkissen gefunden und in das sie nur einen kurzen Blick hatte hineinwerfen wollen- war alles, wovor sie ihre kleine Schwester beschützen wollte. Aber was, wenn sie das nicht konnte? Was, wenn niemand es konnte?
Völlig unvorbereitet traf sie die Vorhersage der Frau auf Masons Halloweenparty. Der Madam. Die hatte sie in dem ganzen Trubel beinahe völlig vergessen.
„Du wirst deine Schwester überleben." Das hatte die Madam gesagt. Und vielleicht...
„Hey!"
Sie zuckte zusammen. Andrew, der neben ihr im Auto saß, sah immer noch fassungslos aus.
„Was?", blaffte sie mit pochendem Herzen, aber sie war froh, dass er sie aus dieser Gedankenspirale befreit hatte, die nur in eine Richtung gelaufen war. „Was willst du von mir hören? Ich weiß nicht, warum Izzy mit einem Messer auf dieses Mädchen losgegangen ist, ich war nicht dabei!"
„Wir fahren zu einem Baumarkt", beschloss er und es war ein so eigenwilliger Themenwechsel, dass sie sich nicht sicher war, ob er es ernst meinte.
„Wieso?"
„Ich will ein Eisenschloss für meine Schlafzimmertüre." Sie rollte mit den Augen. „Und eine Schaufel. Und einen schwarzen Sack, der groß genug ist, um einen Körper darin zu verstecken."
„Ich dachte, du bist mehr der Kettensägentyp", rutschte es ihr bitter heraus. Im selben Augenblick bereute sie es. Kaum zu fassen, dass sie dieses Gespräch vor ein paar Monaten in diesem Auto mit Andrew an ihrem Date geführt hatten. Ihrem Date.
„Ich habe nie gesagt, dass ich sie nicht verwenden werde", murrte er und starrte verbittert aus dem Fenster.
Als Andrew sich vor Adams Haus einparkte, wollte sie gar nicht hineingehen. Sie wusste, dass Izzy nicht da sein würde und sie wusste auch, dass sie gleich mit Fragen nur so bombardiert werden würde. Sie wurde nicht enttäuscht.
„Die Schule hat gerade angerufen, wo ist sie?", überfiel Julia sie, ehe sie sich die Jacke ausgezogen hatte. „Geht es euch beiden gut? Was zur Hölle ist vorgefallen?"
Sie hatte Julia noch nie fluchen hören und hielt einen Augenblick inne, um sie anzusehen. Um ihre Haltung, ihre Mimik, ihre Gemütslage einzuschätzen. Etwas, das sie ganz automatisch zu tun gelernt hatte.
Nein, Julia war nicht sauer. Sie war besorgt. Aufgewühlt. Aber nicht unbedingt wütend.
Unruhig streifte sie sich die Schuhe von den Füßen.
„Ich weiß nicht...", murmelte sie, aber Andrew übertönte sie.
„Sie ist mit einem Klappmesser auf ein Mädchen losgegangen!" Er fuhr mit dem Zeigefinger eine Stelle an seinem Unterarm nach. „Da hat sie das Mädchen geschnitten. Mit einem Klappmesser, Mom. Können wir umziehen? In den Vatikan?!"
Andrew ging sauer an seiner Mutter vorbei, und Julia legte ihm kurz die Hand auf den Rücken, bevor sie sich wieder zu ihr drehte.
„Wo ist sie?"
Sie schüttelte den Kopf und bemerkte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Julia trat auf sie zu und nahm sie sanft in die Arme, aber sie weinte nicht. Sie wollte einfach nur wissen, wo Izzy war.
„Möchtest du einen Tee?", fragte Julia, als sie sie wieder los ließ und rieb ihr sorgenvoll über die Oberarme.
„Nein, ich muss lernen. Hab viele Hausaufgaben", sagte sie schnell. „Hat die Schule gesagt, was mit Izzy passieren wird?"
„Sie haben mich nur darüber informiert, was Lehrer gesehen und die beiden Schüler und das Mädchen erzählt haben. Ich weiß nicht, wie es weitergeht, sie wollen noch mit Adam reden, aber ich weiß nicht, ob er heute Zeit hatte, an sein Telefon zu gehen."
„Ich mach mir Sorgen um Izzy..."
„Das tun wir alle!", rief Andrew von der Küche ins Vorzimmer.
„Ich meine, weil ich sie nicht erreichen kann", sagte sie zu Julia und ignorierte ihn. Julia erwiderte einen Augenblick lang gar nichts.
„Was denkst du, was sie tun wird?"
Gute Frage. Am naheliegendsten war, dass Izzy bei Justin war. Schließlich war sie immer bei Justin, wenn irgendetwas in ihrem Leben nicht nach Plan lief. Hatte Izzy überhaupt einen Plan? Nein, so dachte wahrscheinlich nur sie selbst, aber nicht Izzy.
Aber da war noch etwas anderes; eine kleine Stimme in ihrem Kopf, die sie wieder und wieder an das Notizbuch erinnerte und ihr eine Heidenangst einjagte.
Auf ihrem Zimmer kuschelte sie sich unter die Bettdecke, obwohl ihr nicht kalt und sie auch nicht müde war und schrieb Izzy eine Nachricht.
Bitte, bitte, bitte komm nach Hause. Ich mache mir Sorgen und wir können über alles reden.
Ein Häkchen. Die Nachricht drang gar nicht bis zu Izzys Handy durch.
Dieses blöde Notizbuch!
Sie rief Jason an, aber es lief nur die Sprachbox und sie vermutete, dass er arbeitete.
Dann probierte sie es bei Lauren. Sie hatte ihr und sich selbst versprochen, wieder offener zu ihr zu sein und ihrer Freundschaft noch eine Chance zu geben, denn eigentlich vermisste sie Lauren. Vielleicht hatte sie auch einfach niemanden sonst, an den sie sich wenden konnte, aber darüber wollte sie nicht nachdenken.
„Hey!", keuchte Lauren gut gelaunt.
„Alles okay?"
„Ja, komm grad vom Training. Was gibt's?" Sie stellte sich unwillkürlich den engen Umkleideraum vor, die von Licht durchfluteten Flure, durch deren Fenster man links die tiefliegende Eislaufhalle und rechts den Eislaufplatz im Freien sehen konnte. Die ganzen Getränke und Snackautomaten, das Schwarze Brett mit den ganzen bunten Zetteln und Informationen und Trainingsplänen...
Sie hätte eine Niere gegeben, um jetzt dort sein zu können, um die Zeit zurück zu drehen und mit Lauren und Benny und Cole völlig verschwitzt durch diese Flure zu gehen, mit einem Mineralwasser in der einen Hand und der dicken Sporttasche über ihrer linken Schulter und einem tollen Gefühl in der Brust, weil sie sich völlig ausgepowert, aber eine tolle Trainingseinheit hingelegt hatte.
„Hannah?"
„Izzy hat... etwas gemacht", begann sie und schluckte schwer.
„Definiere etwas."
Stockend erzählte sie, was am Vormittag in der Schule passiert war und begriff ihre Worte immer noch nicht. Sie gab zu, dass sie Angst um Izzy hatte. Angst davor, was für Konsequenzen es mit sich ziehen würde. Angst davor, welche Konsequenzen es für sie mit sich ziehen würde, denn was Izzy passierte, passierte ihr auch.
Angst vor allem.
„Wow", sagte Lauren irgendwann und eine mechanische Stimme im Hintergrund gab die Bushaltestellen an, die sie im Schlaf aufzählen konnte. Sie war immer zwei Stationen vor Lauren ausgestiegen. Benny war in die andere Richtung gefahren und Cole was mit seinem Auto gefahren oder abgeholt worden.
„Ich will das alles nicht mehr", sagte sie und rieb sich verzweifelt über die Stirn. Das gab sie nicht oft zu. Nicht sich selbst und erst recht nicht anderen gegenüber. „Ich habe- Ich tue alles, was ich kann, alles, was mir einfällt, damit alles klappt und gut geht und in Ordnung ist. Immer! Warum kann es nicht einfach in Ordnung sein? Ich hab das Gefühl, es ist alles so sinnlos. Warum soll ich meine Energie in all das hineinstecken und ständig versuchen, alles gerade zu biegen, wenn es nicht funktioniert? Was soll ich machen, wenn es einfach nicht funktioniert?" Tränen liefen ihr über die Wangen, an die Ohren und sie wischte sie fort und setzte sich mit ihrem Handy auf.
Meistens ignorierte sie, dass sie keine Lust mehr auf all das hatte, weil es niemanden gab, den ihr Jammern und Meckern daran interessiert hätte. Es gab niemanden, der ihren Platz einnehmen konnte.
„Du kannst niemanden zwingen, deine Hilfe zu akzeptieren", sagte Lauren. „Wenn Izzy deine Hilfe nicht will, dann kannst du nichts tun."
„Soll ich einfach akzeptieren, was sie anstellt? Wie sie drauf ist? Dass sie trinkt und Drogen nimmt und... dass sie heute ein Mädchen in der Schule körperlich angegriffen hat?"
„Nein, natürlich nicht. Du sollst es nur nicht zu deinem Problem machen."
Aber es war ihr Problem. Wessen hätte es denn sonst sein sollen? Moms? Onkel Robs? Adams? Julias?
Es war ihr Problem, weil Izzys Probleme schon immer ihre gewesen waren, dem konnte sie sich nicht einfach entziehen. Aber das konnte Lauren nicht verstehen und ihr wurde wieder einmal schmerzlich bewusst, dass es vielleicht niemanden auf der Welt gab, der es verstehen konnte.
„Hey, ich muss... ich muss jetzt meine Hausaufgaben machen", sagte sie und wischte sich schnell die restlichen Tränen vom Gesicht. Sie musste sich zusammenreißen. Aufhören, diese Dinge so nahe an sich heran zu lassen. Sie musste sie konzentrieren. Einen Augenblick war es still in der Leitung.
„Mach das nicht", sagte Lauren. „Nicht schon wieder."
„Was denn?"
„Dich abschotten."
Das wollte sie nicht. Ehrlich nicht. Aber es war anstrengend, Leuten von ihren Gefühlen und Sorgen und Ängsten zu erzählen, ohne wirklich verstanden zu werden. Es war leichter, das alles für sich zu behalten.
„Ich weiß, dass du denkst, dass ich es nicht verstehe", sagte Lauren und sie fühlte sie so ertappt wie noch nie. „Aber nur, weil ich nicht dieselbe Meinung habe wie du, heißt es nicht, dass ich die Situation in der du steckst, nicht begreife. Ich sehe sie vielleicht nur anders." Sie schwieg, weil sie nicht bereit war, sich anzuhören, wie Lauren die Situation sah. „Weißt du, was ein super großer Unterschied zwischen dir und Izzy ist?"
„Ihre Brüste?"
„Himmel, sind die immer noch so groß?"
„Brüste gehen nicht beim Waschen ein."
„Ich bin neidisch. Aber jetzt im Ernst."
„Was ist denn ein super großer Unterschied zwischen uns?", fragte sie.
„Ich weiß nicht recht, wie ich es ausdrücken soll..."
„Ganz toll."
„Wusstest du, dass Hamstermütter ihre Babys töten, wenn sie glauben, dass sie sie nicht großziehen können?"
„Wovon redest du?"
„Ja, Hamster töten ihre frisch geborenen Babys, um ihnen das Leid zu ersparen, das vielleicht auf sie zukommt."
„Ich habe keinen blassen Dunst, worauf du hinaus willst", sagte sie kopfschüttelnd.
Lauren seufzte. „Ich auch nicht."
Aber jetzt fragte sie sich, ob ihre Mom jemals mit dem Gedanken gespielt hatte, sie und Izzy umzubringen, als sie noch klein waren. Um ihnen das Leben zu ersparen. Ein beängstigender Gedanke, denn sie war einmal so klein und wehrlos gewesen und es hätte nicht viel gebraucht, ihr Leben zu beenden.
„Du machst einen richtig depressiv, weißt du das?", grummelte sie. „Was ist denn nun der Unterschied zwischen mir und Izzy?"
„Ich hatte gehofft, du kannst mir das sagen."
Sie musste auflachen, weil sie die chaotischen Gespräche mit Lauren ein bisschen vermisst hatte.
Ein großes Bisschen.
Als Izzy am Abend immer noch nicht wieder zu Hause war, begann sie sich ernsthafte Sorgen zu machen, und Adams Gesicht nach zu urteilen, als er die Wohnung betreten hatte, hatte die Schule ihn an diesem Tag sehr wohl erreicht, aber er sprach es nicht an. Das ganze Abendessen über war er nur ziemlich still und sah oft auf Izzys leeren Platz.
Als Julia den Tisch abräumte und Andrew sich wieder vor den Fernseher warf, nickte Adam ihr zu und deutete auf sein Arbeitszimmer.
Die Ärmel ihres Pullovers über die Hände gezogen stellte sie sich sofort an den Heizkörper am Fenster. Seit heute Vormittag war ihr ständig kalt, sie hatte vor dem Essen sogar heiß geduscht, aber die Kälte wollte nicht aus ihren Knochen verschwinden.
Adam schloss die Türe leise hinter sich und ging langsam im Raum hin und her, während er sich übers Kinn rieb. Sie konnte ihm ansehen, dass er keine Ahnung hatte, was er sagten sollte. Kurz überlegte sie, ob sie das Gespräch beginnen sollte, aber sie wollte lieber abwarten.
Und dann fing sie doch an. „Wird Izzy von der Schule fliegen?"
Adam blieb stehen. „Mr. Oyenusi will mit ihr sprechen und sie ist vorläufig für zwei Wochen vom Unterricht ausgeschlossen", murmelte er und wirkte in Gedanken versunken.
Vom Unterricht ausgeschlossen hieß nicht, von der Schule geflogen, richtig? Das war gut, richtig?
„Izzy ist nicht gefährlich", sagte sie dann, obwohl Adam nie das Gegenteil behauptet hatte, aber jetzt stieß er einen Lacher aus, der bedeutete, dass er das genau das dachte.
„Ich weiß nicht, wie es mit ihr weitergehen soll", sagte er und sah sie an. „Ich weiß es wirklich nicht."
Sie biss sich auf die Wange. Ihr Puls beschleunigte sich und sie merkte, wie ihr schlecht wurde. War das der Punkt, an dem Adam ihr sagen würde, dass er nicht länger bereit war, für Izzy die Verantwortung zu übernehmen? Würde er morgen bei der Frau, die wie eine Wendy aussah, anrufen und ihr sagen, dass Izzy nicht weiter bei ihm wohnen konnte?
„Ich weiß, dass Izzy nicht einfach ist, aber-", sie brach ab, weil sie sich nicht sicher war, was nach dem Aber gefolgt hätte. Irgendwie gab es kein Aber. Und Adam machte sich auch nicht die Mühe, den Satz zu vervollständigen.
„Ich werde Izzy jedenfalls nicht im Stich lassen."
Adam seufzte und hätte vielleicht die Augen verdreht, wenn er sich nicht zusammengerissen hätte. „Niemand redet hier davon, dass du sie im Stich lassen sollst."
„Und was hast du vor?", fragte sie provokant. Sie in dieselbe Nervenheilanstalt zu stecken, in der ihre Mom festgesessen hatte? Gebracht hatte es ihrer Mom nichts.
„Ich will ihr helfen."
Jetzt war es an ihr, dieses verächtliche, plumpe Lachen auszustoßen. Ihre Sorge um Izzy wurde von ihrer Wut auf Adam verdrängt. „So wie du unserer Mom geholfen hast? Indem du sie und uns alleine gelassen hast."
„Wo kommt das auf einmal her?", fragte er mit zusammengezogenen Augenbrauen. „Das hat nichts mit Isobel zu tun." Und wieder wich er ihr aus. Wie er es auch schon getan hatte, als sie mit ihm über Jason und New York hatte reden wollen. Er wich ihr ständig aus.
Julia hatte ihr gesagt, dass sie auf Adam zugehen sollte. Und sie versuchte es, aber sie konnte nicht mit Verständnis an das heran gehen, was geschehen war, denn ihre Wut drängte sich immer wieder dazwischen und floss in jedes Wort, das sie sagte.
Es war leichter sich zu streiten, als sich auszusprechen, aber Adam wollte keines von beidem tun.
„Lass mich mit ihr reden", sagte sie und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Habe ich verpasst, dass sie nach Hause gekommen ist?"
„Sie wird schon wiederkommen." Außer Izzy hatte auch an das Notizbuch gedacht...
Und selbst wenn Izzy wieder da sein würde, würde sie nicht mit ihr reden. Aber sie wollte nicht, dass Adam Izzy wegschickte. In ein Heim oder zu Pflegeeltern oder sonst irgendwohin, wo sie sie nur einmal alle paar Wochen sehen konnte.
Es war vielleicht ein selbstsüchtiger Gedanke, denn Izzy ging es offensichtlich nicht gut, aber sie war zuversichtlich, dass ein klärendes Gespräch mit Izzy die angespannte Situation wieder lösen würde. Das hatte es schließlich immer getan.
Plötzlich stieß Adam noch ein halbes Lachen aus, stemmte die Hände in die Hüften und ließ den Kopf hängen.
„Was?", fragte sie genervt.
„Obwohl ich für deine Schwester verantwortlich bin, stehe ich hier und habe gehofft, dass du mir sagst, was ich tun soll, als wärst du für sie verantwortlich."
„Das bin ich ja auch", sagte sie sofort. Ihr war nur nicht klar gewesen, dass andere ebenfalls so empfanden.
„Nein, bist du nicht, du bist ein Kind."
„Ich bin kein Kind!", fauchte sie. „Ich bin in drei Monaten achtzehn!"
„Aber du solltest dich nicht um eine Fünfzehnjährige sorgen müssen."
„Ich habe mich mein ganzes Leben lang um Izzy gekümmert!", rief sie und bereute es sofort, weil sie glaubte, dass Julia und Andrew es gehört haben mussten. Sie hätte in diesem Augenblick einiges dafür gegeben, Gedanken lesen zu können. Sie wollte wissen, was in ihm vorging, denn sie konnte seinen Blick nicht deuten. Adam sah sie so... seltsam an. Nachdenklich. Schwermütig. Mitleidig (sie hasste diesen Blick). War Reue dabei?
„Ich habe mich um Izzy gekümmert", wiederholte sie. „Glaub nicht für eine Sekunde, dass Mom sich um sie gekümmert hätte oder um sonst jemanden, ich war das. Ich war da, wenn Izzy Hunger hatte, ich war da, wenn sie geweint hat oder eine Alptraum hatte, ich habe sie von der Schule abgeholt, wenn sie sich nicht getraut hat, alleine nach Hause zu gehen, ich habe ihr bei den Hausaufgaben geholfen und ich habe ihr gesagt, wann sie den Fernseher ausschalten und ins Bett gehen soll. Niemand auf der Welt kennt Izzy so wie ich und niemand außer ich sollte Entscheidungen fällen, die sie betreffen!"
Adam betrachtete sie weiterhin schweigend und sie versuchte, diese aufwallende Wut wieder hinunterzudrücken.
„Nur, weil du immer alle Entscheidungen für deine Schwester getroffen hast, heißt das nicht, dass es die richtigen Entscheidungen waren", sagte Adam.
Einen Augenblick lang verschlug es ihr die Sprache und wenn sie nicht schon mit dem Rücken zur Wand gestanden hätte, hätte sie jetzt einen Schritt zurück gemacht. Sie konnte nicht fassen, was er gesagt hatte.
„Soll das heißen, es ist meine Schuld?" Es gab also noch jemanden, der ihr Versagen erkannte und ihre Stimme brach und vielleicht hätte sie wieder zu weinen begonnen, wenn er nicht weitergesprochen hätte.
„Nein. Aber du bist ein Kind gewesen, als du dich um deine Schwester gekümmert hast. Und Kinder treffen nicht immer die richtigen Entscheidungen. Dich trifft keine Schuld, Hannah. Es tut mir leid, dass ich dich nach deiner Meinung gefragt habe. Ich denke, es ist an der Zeit, dass ein Erwachsener die Entscheidungen für Isobel trifft."
Sie hasste es, dass er dachte, dass sie jemals ein richtiges Kind gewesen war. Sie fand, dass Kinder sorglos sein sollten. Dass Kinder nur Angst vor dunklen Zimmer haben sollten und nicht davor, am nächsten Tag in einer unbeheizten Wohnung ohne Essen zu sitzen. Und sie hasste es, dass er von nun an entscheiden wollte, was gut für Izzy war, denn sie glaubte nicht, dass er das konnte, aber leider durfte er es. Rechtlich gesehen zumindest.
Monate später würde ihr bewusst werden, dass Adam seine Augen vor der grausamen Wahrheit vielleicht genauso gerne verschlossen hatte, wie sie die ihren.
*
Als sie am nächsten Morgen aufwachte, lag Izzy neben ihr im Bett, nur in Unterhose und T-Shirt und hatte den kleinen Bären, den sie immer unter ihrem Kopfkissen versteckte, weil er ihr vor ihrer kleinen Schwester peinlich war, fest umklammert. Sie wusste nicht, wie Izzy in ihr Bett gekommen war oder wann und am liebsten hätte sie sie sofort geweckt und gefragt, was zur Hölle gestern passiert war, aber Izzy sah immer so süß aus, wenn sie schlief. So unschuldig, so sorglos. Ihre kleinen Sommersprossen hoben sich von der blassen Haut ab, und sie konnte kaum glauben, dass in diesem entspannten Gesicht gestern noch so viel Hass und Wut gelegen hatte.
Izzy war zu Hause.
Das war vorerst alles, was zählte und sie fühlte sich sofort leichter.
Ohne ihre Schwester zu wecken, schlängelte sie sich unter der Decke bis ans Fußende des Bettes, glitt auf den Boden und ging um das Bett herum, zu ihrem Nachttisch, wo ihr Handy noch am Ladekabel hing.
Hab drei Flüge, ruf dich im Hotel an.
Diese Nachricht war um elf Uhr nachts angekommen und sie hatte keine Anrufe in Abwesenheit. Vielleicht war Jason so müde gewesen, dass er gleich ins Bett gefallen und eingeschlafen war, aber sie schickte ihm ein kleines Herzchen zurück, während die Schmetterlinge von ihrem Bauch in ihren Brustkorb hinauf flatterten.
Unter der Dusche fragte sie sich, warum sie ihm ein Herzchen geschickt hatte. Waren sie schon so weit, einander Herzchen zu schicken? Bestimmt würde er das kitschig finden. Sie fand es ja selbst kitschig, jetzt, da ihr Gehirn nicht mehr von Schlaf vernebelt war.
„Izzy ist zurück", ließ sie Julia wissen, die in der Küche das Frühstück vorbereitete.
„Dem Himmel sei Dank", seufzte sie und drückte sich eine Hand gegen die Brust.
„Sie schläft noch."
„Sollen wir sie wecken?"
„Ich würde sie lieber schlafen lassen. Sie darf die nächsten zwei Wochen ohnehin nicht in die Schule."
Julia nickte und als sie sich hinsetzte und an ihrem Tee nippte, fiel ihr auf, dass nicht nur Adam in Bezug auf Izzy ihre Meinung wollte, sondern Julia auch. War das schon die ganze Zeit so gewesen?
Sie war gerade dabei, Erdbeerarmelade auf ihrem Toast zu verteilen, als Jasons Name groß auf ihrem leuchtenden Display prangte. Sofort ließ die den Toast auf ihren Teller fallen und nahm den Anruf entgegen.
„Hey, kann ich dich zurückrufen?", fragte sie sofort und beäugte Julia, die sie wissend angrinste und die Hände hob.
„Nein, nein, telefonier nur", sagte Julia. „Ich muss sowieso hoch und April aufwecken." Zwinkernd verschwand Julia nach oben und sie stieß den Atem aus.
„Okay, es geht doch."
„Guten Morgen?", lachte er irritiert.
„Tut mir leid, dieser Morgen ist chaotisch..."
„Du hast mich gestern angerufen. Ich wollte zurückrufen, bin aber eingeschlafen, tut mir leid. War es sehr wichtig?"
„Nein", log sie, denn Izzy war wieder da und plötzlich schien ihr ihre Panik von gestern völlig unbegründet. „Ich wollte nur reden. Deine Stimme hören."
„Ich schicke dir nachher eine Sprachnachricht."
Sie musste grinsen. „Wo bist du gerade?"
„Vancouver."
„Wie ist es da so?"
„Kalt?"
Sie biss in ihren Toast und nuschelte: „War das eine Frage?"
„Ich bin mir einfach nie sicher, was du hören willst, wenn du mich das fragst."
„Keine Ahnung, wie ist die Stadt?"
„Laut."
„Wie sind die Leute?"
„Laut."
Sie lachte wieder. „Für jemanden, der immer behauptet, seinen Job so sehr zu mögen, scheinst du mir ziemlich unbeeindruckt von der Welt."
„Ich war eben schon Mal in Vancouver."
„Du warst auch schon oft in Palmer und freust dich trotzdem jedes Mal, wenn du herkommst."
„Das hat aber andere Gründe."
Sie grinste so breit, dass sie kaum noch ihren Toast kauen konnte. „Soll das heißen, wenn ich Mal nach New York komme, dass du dann auch gerne in New York bist?"
„Also, da müsstest du dich schon ziemlich anstrengen, aber ausschließen will ich es nicht."
„Sobald ich meine Fußfessel los bin, sitze ich im Flieger und mache New York zur tollsten Stadt der Welt", sagte sie und hätte sich im nächsten Augenblick beinahe verschluckt, weil Adam an der Treppe stand und sie mit hochgezogenen Augenbrauen musterte. Sie legte ihren angeknabberten Toast zur Seite.
„Ich muss doch Schluss machen", sagte sie.
„Chaotischer Morgen."
„Du ahnst nicht, wie sehr..."
Sie drückte den Anruf weg und legte ihr Handy beiseite und Adam, der schon von Kopf bis Fuß in seinem Anzug steckte, ging zur Kaffeemaschine hinüber und goss sich eine Tasse ein, während sie sich sicher war, dass ihr Kopf so rot wie eine Kirsche war.
„Ich bin also deine Fußfessel?", fragte er, ohne sie anzusehen.
„Man belauscht nicht anderer Leute Gespräche", murmelte sie verlegen.
„Du hast offen in der Küche telefoniert", erwiderte er, während er sich mit seiner Kaffeetasse zu ihr drehte.
Sie wollte nicht undankbar klingen. Dass Adam sie und Izzy hier aufgenommen hatte, war das Beste, das ihr seit langem passiert war, aber es war schwer, das nicht aus den Augen zu verlieren, wenn sie nichts weiter wollte, als in den Ferien nach New York zu fliegen, um Jason zu sehen. Sie wollte keine drei Monate mehr warten, drei Monate waren zu lang!
Adam stellte die Kaffeetasse zur Seite, stützte die Hände hinter sich an der Küchenplatte ab und ließ den Blick durchs Wohnzimmer schweifen. Dann seufzte er tief und rieb sich mit zusammengekniffenen Augen die Nasenwurzel, als würde ihre bloße Anwesenheit ihm Kopfschmerzen verursachen.
„Wir machen einen Deal." Er redete weiter, bevor sie ihre Verwirrung zum Ausdruck bringen konnte. „Wenn dein Halbjahreszeugnis gut ist", er sah widerwillig auf, „darfst du nach New York."
Sie sprang so plötzlich von ihrem Stuhl auf, dass sie sich das Knie an der Tischkante anschlug, aber das war egal.
„Ist das dein Ernst?"
Er nickte, obwohl sie ihm ansah, dass er nicht zufrieden mit diesem Vorschlag war.
„Was heißt gut?", hakte sie nach, weil sie nicht ausschließen konnte, dass er damit ein glattes Einserzeugnis meinte. Die meisten Lehrer hatten zwar eine eins angedeutet, aber man konnte ja nie wissen.
„Nichts schlechteres, als eine drei", sagte er und im Stillen bedankte sie sich bei Andrew dafür, dass er ein so grottenschlechter und fauler Schüler war. Das hatte bestimmt geholfen, die Latte ihres eigenen Zeugnisses so sehr nach unten zu schrauben.
Die Zeugnisvergabe war in zwei Wochen. Bis dahin hätte sie an ihren Noten nicht mehr viel ändern können, aber weil sie bisher immer gute Noten nach Hause gebracht hatte, wusste Adam wohl bereits, dass dieser Deal zu ihren Gunsten ausfallen würde, aber ihre Aufregung darüber, dass sie Jason in den Ferien sehen würde, war viel größer, als ihre Verwirrung zu Adams plötzlichem Stimmungswandel.
Er griff nach seiner Kaffeetasse und ging wieder die Treppen nach oben.
Als sie sich sicher war, dass das gerade eben wirklich passiert war, vollführte sie einen kleinen Freudentanz auf dem Küchenstuhl, griff nach ihrem Handy und wählte Jasons Nummer.
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