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Es war nicht das erste Mal, dass sie in Mr. Oyenusis Büro saß. Und so beängstigend das erste Mal gegenüber diesem Koloss eines Mannes auch gewesen war, so hatte sie ihn mittlerweile durchschaut. Sie hatte schon oft hier gesessen, weil sie geschwänzt, oder weil den Lehrern irgendetwas an ihr nicht gepasst hatte. Dass sie an dieser Schule das verhassteste Mädchen war, wusste Mr. Oyenusi und er war selten überrascht, wenn sie wieder einmal von einem Lehrer in sein Büro geschickt wurde.

Sie hatte immer das Gefühl gehabt, dass er sie nicht hasste. Anfänglich hatte er sie noch gefragt, warum sie was getan hatte, um wieder bei ihm zu landen, aber mittlerweile sah er nur noch von seinen Papieren oder seinem Laptop auf, wenn sie von der Sekretärin weitergeschickt wurde und in seiner Türe stand, begrüßte sie, nickte ihr, sich zu setzen und schob ihr entweder die Tageszeitung, einen Rätselblock, oder sonst etwas über den Tisch hinweg zu, damit sie sich die restliche Stunde nicht zu Tode langweilen musste, während er weiter arbeitete. Jedes Mal Adam anzurufen, hatte er schon aufgegeben. Sie war sich nicht sicher, warum, aber sie empfand es als angenehm.

Meist verabschiedete er sie mit den Worten: „Isobel? Versuchen Sie wenigstens für den Rest des Tages einen Bogen um mein Büro zu machen."

Mittwochs sah sie ihn fast immer, denn ihre Biologielehrerin, Mrs. Rampling, hasste sie mit brennender Leidenschaft und liebte es, sie zu Mr. Oyenusi zu schicken.

Üblicherweise war es nicht Mr. Oyenusi selbst, der sie zu sich holte, deshalb war sie an diesem Tag überrascht, als er sie fünfzehn Minuten früher aus der letzten Stunde holte. Normalerweise konnte sie Mr. Oyenusi ganz gut leiden. Nur heute hatte er etwas an sich, das sie nervös machte.

Sobald sie Mr. Oyenusi gegenübersaß, merkte sie, dass seine Miene angespannter war als sonst. Meist erinnerte er sie an einen großen Teddybär. Nur heute sah er eher aus, wie der böse Cop einer billigen Fernsehserie. Sie sah sich in dem Raum nach dem guten Cop um, aber der blieb aus.

Nachdem Mr. Oyenusi sich die Brille einmal ab und dann wieder aufgesetzt, tief geseufzt, die Hände erst flach und dann mit ineinander geschränkten Fingern auf den Tisch gelegt hatte, sagte er: „Isobel, es fällt mir wirklich schwer, dieses Thema anzusprechen."

Welches Thema? Was hatte sie nun wieder verbockt? Vielleicht war Mrs. Rampling wieder unzufrieden mit ihr.

Mr. Oyenusi räusperte sich und rückte erneut seine Brille zurecht.

„Ich nehme an, Sie haben selbst von den Gerüchten gehört?", fragte er, gab ihr aber keine Zeit zu antworten, nicht, dass sie gewusst hätte, was sie darauf hätte sagen sollen. „Ich nenne das Gerede bewusst Gerüchte, weil ich nicht blind glauben werde, was Schüler verbreiten, aber jetzt haben auch einige Lehrkräfte davon Wind bekommen und es ist an der Zeit, dass ich Sie frage, ob es denn stimmt und ich mir Sorgen machen muss."

Sie zog es vor, so zu tun, als hätte sie keine Ahnung, wovon er sprach. Ein winziger Teil in ihr glaubte, dass sie sich so von dem sinkenden Schiff retten konnte.

„Ich habe nicht den Hauch einer Ahnung, wovon Sie reden."

Mr. Oyenusi seufzte und langsam hatte sie das Gefühl, dass er sich viel unwohler fühlte, als sie es tat. „Ich spreche von der Sache, über die momentan alle im Lehrerzimmer reden." Er machte noch eine Pause, bevor er sich räusperte und leise sagte: „Sie und Mr. Teakin."

Ein Geräusch entwich ihr, von dem sie nicht wusste, ob es ein entsetztes Lachen, oder ein verzweifeltes Klagen war. Und dann war ihre Kehle staubtrocken.

Sie hatte gewusst, dass es Schüler, wie Rebeca, gab, die das Feuer in der Gerüchteküche schürten und jedem, der es hören wollte, auf die Nase band, dass sie mit Mr. Teakin schlief, um gute Noten zu bekommen, dass sie ihm immer nach Schulschluss einen blies oder dass sie vor einer Woche zu ihm ins Auto gestiegen war, was sie natürlich nicht getan hatte. Nichts von alledem stimmte, aber es prangte immer noch in einer der Kabinen auf der Mädchentoilette und das Getuschel und die Blicke hörten nicht auf. Wahrscheinlich würde Rebeca so weit gehen, den Leuten zu erzählen, dass sie nur deshalb so oft in Mr. Oyenusis Büro war, weil sie sich auch für den Schuldirektor auszog. Bei diesem Gedanken lief ihr ein widerwärtiger Schauer über den Rücken und sie drücke die Gedanken an Danny beiseite.

Vermutlich redete die ganze Schule nur deshalb über sie und Mr. Teakin, weil in dieser langweiligen Stadt sonst einfach nichts passierte. Ein Lehrer, der mit einer Schülerin schlief, war allemal spannender als die Wahrheit. Nämlich, dass zwischen ihr und Teakin absolut nichts lief und sie lediglich ihr Talent und Gespür für Zahlen durch ihn wieder entdeckt und lieben gelernt hatte und nur deshalb bei ihm gute Noten schrieb. In keinem anderen Fach hatte sie bisher eine eins geschrieben.

Mr. Oyenusi musste das doch wissen. Er war bei der kleinen Versetzungsprüfung doch dabei gewesen. Oder dachte er, dass Mr. Teakin ihr die Fragen vorher alle gezeigt und deren Lösungen ausgearbeitet hatte, damit sie die Neunte in Mathe überspringen konnte?

Bisher hatte sie den Gerüchten nicht allzu viel Beachtung geschenkt. Zumindest hatte sie das versucht. In Mr. Teakins Unterricht hatte sie sich noch kleiner als sonst gemacht, nie ihren Blick in seine Richtung schweifen lassen, hatte nicht zur Tafel gesehen, sondern nur gezeichnet und zugehört, obwohl sie in der Zehnten niemand darauf angesprochen hatte und die meisten ignorierten sie ohnehin und gaben vermutlich nicht viel auf die Gerüchte, zumindest war das stets ihr Eindruck gewesen.

Aber jetzt glaubte sie, dass sie in ernsthaften Schwierigkeiten stecken könnte. Vielleicht war es auch Mr. Teakin, der in ernsthaften Schwierigkeiten steckte, aber auch das wollte sie nicht, denn er war der einzige, der von Anfang an an sie geglaubt hatte.

„Nichts davon ist wahr", brachte sie beherrscht hervor.

Mr. Oyenusi hob die Hand. „Das glaube ich Ihnen. Mr. Teakin ist einer unserer besten Lehrer, die Schüler lieben ihn. Der Notendurchschnitt in Mathematik ist bei unseren Schülern deutlich besser, seit er an der Schule ist." Er warf ihr einen nachdenklichen Blick zu, während sich etwas immer enger um ihre Brust zog. „Aber falls Sie mir etwas sagen wollen, dann können Sie jeder Zeit zu mir kommen."

Falls sie ihm etwas sagen wollte? Dann glaubte er ihr also doch nicht. Dann dachte er also doch, dass an den Gerüchten vielleicht etwas dran war.

„Es geht mir gut", presste sie zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. „Aber vielleicht sollten Sie sich Gedanken über diejenigen machen, die solche gefährlichen Gerüchte verbreiten." Sie griff nach ihrem Rucksack. „Kann ich gehen?"

Mr. Oyenusi sah sie noch einen Augenblick lang schweigend an. Dann nickte er. „Natürlich."

Die Glocke klingelte und während sich die Flure mit Schülern füllten, fühlte sie sich beobachteter denn je.

Und sie glaubte, dass sie sich noch nie so gedemütigt gefühlt hatte.

*

Vertrauen war eines der schwierigsten, waghalsigsten Dinge, die man überhaupt tun konnte.

An manchen Tagen glaubte sie, dass das grundlegende Misstrauen, das sie in die Menschen hatte, erlernt sein musste.

Warum hätte sie jemandem auch vertrauen sollen? Sie war immer nur enttäuscht und hintergangen worden. Vertrauen war schon hart genug. Warum gab es Menschen, die Vertrauen absichtlich brachen? Die Leute, denen sie vertraute, konnte sie an einer Hand abzählen.

Auch letzten Freitag war sie ohne große Erwartungen in das keine Buchcafé gegangen. Sie hatte nicht geglaubt, dass Lionel dort tatsächlich auf sie gewartet hatte, nachdem sie so oft deutlich gemacht hatte, dass sie kein Interesse an seiner Gesellschaft hatte. Aber nachdem, was mit Andrew passiert war, hatte sie eine kleine Ablenkung gebraucht.

Bevor sie sich auf den Weg zum Buchcafé gemacht hatte, hatte sie viel an Robbie gedacht. An ihrer alten Schule war er der beliebteste Typ ihrer Klasse gewesen, dabei hatte sie ihn die meiste Zeit einfach nur laut und nervig gefunden. Sie hatte seine rotzfreche, unehrliche Art gehasst. Aber alle anderen hatten Robbie toll gefunden, mit seinem Ohrpiercing und seinem frechen Grinsen und den blonden Haaren.

Er war nicht ihr Typ gewesen und die meisten Lehrer hätten ihn aufgrund seiner schulischen Leistung durchfallen lassen können, wenn er nicht so charmant hätte reden können.

Es hatte wirklich nichts an ihm gegeben, das sie anziehend gefunden hatte und doch hatte sie sich geschmeichelt gefühlt, als er sie eines Tages nach der Schule gefragt hatte, ob sie sich nächsten Samstag mit ihm im Park bei der großen Statue treffen wollte. Sie war misstrauisch gewesen, hatte aber eine Chance gesehen, vielleicht irgendwie doch noch Teil der Klassengemeinschaft zu werden.

Sie war, zusammen mit Elliot, dem schlaksigen Kerl, der zu oft, zu auffällig geblinzelt hatte, und Marianne, einem so dicken Mädchen, das es die Klettverschlüsse ihrer uncoolen Kinderschuhe nicht mehr richtig hatte verschließen können, die Außenseiterin der Klasse gewesen. Sie hatte auch damals schon zu dunkle Sachen getragen, die Totenkopfringe an ihren Fingern oder die Silberketten mit den Stacheln um ihren Hals, die sie in ihrer ganz dramatischen Emo-Phase getragen hatte, und selbst der Emo-Clique der Schule war sie zu abgedreht gewesen, vielleicht, weil die Emo-Clique entgegen ihres Rufes nicht wirklich gruselig und mit deprimierten Gesichtern durch die Flure gelaufen war.

Robbie und sie hatten Nummern ausgetauscht und sich für zwölf Uhr im Park verabredet.

Sie war so aufgeregt gewesen. Sie hatte sogar überlegt, etwas anzuziehen, das man als hübsch bezeichnen konnte, aber in weiten Pullovern hatte sie sich immer schon am wohlsten gefühlt. Besonders, als sie zwölf geworden war und plötzlich größere Brüste als Hannah gehabt hatte. Sie war ohnehin schon immer ein bisschen kräftiger gewesen, besonders im Gegensatz zu ihrer spindeldürren, durchtrainierten Eiskunstlauf-Schwester. In dieser Zeit hatte sie sich dicker gefühlt, als Marianne ausgesehen hatte. Sie hatte es gehasst, weil sie von allen angestarrt worden war. Ein Junge aus ihrer Klasse, der erst dreizehn gewesen sein konnte, hatte einmal gemeint, dass sie so große Brüste hatte, dass er sich beim nächsten Regenguss darunter verstecken würde.

Der weite Pulli war also geblieben, aber sie hatte sich heimlich von Hannah Mascara ausgeborgt und war zehn Minuten vor der abgemachten Zeit im Park gewesen. Es war im November gewesen, das wusste sie noch und im November war es in Anchorage bereits bitterkalt. Obwohl sie eine Haube und einen Schal angehabt hatte war sie innerhalb kürzester Zeit zu einem Eiszapfen eingefroren.

Um Punkt zwölf Uhr hatte sie sich die Handschuhe ausgezogen und Robbie eine Nachricht geschickt, dass sie da war. Nach zehn Minuten, in denen sie auf und ab gelaufen war und die Spaziergänger mit ihren Huskys beobachtet hatte, hatte sie ihm noch einmal geschrieben.

Er hatte sofort geantwortet und sich für die Verspätung entschuldigt. Seine Bahn streikte und stand auf der Strecke.

Wir fahren schon weiter, hatte er nach fünf Minuten geschrieben. Bin gleich da!

Aber er war nicht gleich dagewesen. Um halb eins hatte sie ihn gefragt, ob sie den Treffpunkt verwechselt hatte. Er schrieb, dass sie bleiben sollte, wo sie war, er würde sofort da sein und sie finden.

Sie hatte immer und immer wieder gefragt, warum er so lange brauchte, was ihn aufhielt und hatte dabei vermutlich wie ein ungeduldiges Kind geklungen, aber sie hatte ihre Finger nicht mehr spüren können.

Robbie hatte immer geantwortet, dass er gleich da sein würde.

Nach einer Stunde hatte ihr gedämmert, dass etwas nicht stimmen konnte und nach zwei Stunden war sie gegangen.

Am nächsten Tag waren Fotos von ihr in ihrer Klasse herumgegangen, in denen sie in ihre Jacke eingepackt alleine im Schnee gestanden und auf Robbie gewartet hatte.

Alle hatten sich darüber kaputt gelacht und sie hatte nie jemandem etwas davon erzählt. Nicht Hannah, nicht Cassie; nicht einmal Justin. Es war zu beschämend gewesen.

Ihr Gehirn funktionierte nicht mehr normal, dachte sie manchmal. Es ging immer vom Schlimmsten aus. Es traute niemandem mehr, es hielt ihre Erwartungen niedrig, und so konnte sie kaum noch enttäuscht werden.

Kaum. Von Ethan war sie enttäuscht worden. Einmal und dann hatte sie ihn enttäuscht. Vermutlich sollten die Leute auch aufhören, sich so viel von ihr zu erhoffen. Es hätte einiges erleichtert.

Am besten sollte niemand von niemandem irgendetwas erwarten, dann würde niemand jemals enttäuscht werden.

Entgegen ihrer Erwartungen jedoch, hatte Lionel am Freitag tatsächlich in dem Buchcafé gesessen und gewartet.

Er hatte auf sie gewartet.

Sie hatte ihm nicht wie bei Robbie falsche Hoffnungen gemacht, aber er war trotzdem da gewesen. Hatte im oberen Stock an einem der Tische gesessen und in einem Thriller geblättert mit einer Tasse Kaffee vor sich.

Und sofort hatte sie sich gefragt, warum das so war. Was sein Motiv war. Was er sich davon erhoffte. Wie und auf welche Weise er sie bei nächster Gelegenheit bloßstellen würde.

Als sie sich misstrauisch zu ihm an den Tisch gesetzt hatte, hatte er nur kurz aufgesehen, aber sie hatte wortlos ihr eigenes Buch aus der Tasche gezogen (nicht Harry Potter- den sechsten Band hatte sie schon zu Ende gelesen, aber nachdem sie Andrew geküsst hatte, glaubte sie nicht, dass Ethan ihr den letzten Band leihen würde und sie hatte noch keine Zeit gehabt, in die Bibliothek zu gehen). Als sie noch einmal kurz aufgesehen hatte, hatte Lionel den Blick wieder auf sein Buch gerichtet, aber er hatte triumphierend gelächelt.

Sie hatte sich einen Tee bestellt und weitergelesen. Er hatte sich noch einen Kaffee bestellt und ebenfalls weitergelesen. Lange Zeit hatten die beiden nichts getan, außer ihre Getränke zu schlürfen, Seiten umzublättern und zufällig im selben Augenblick hochzusehen, um den Blick schnell wieder abzuwenden.

Lionel hatte tatsächlich kein Wort zu ihr gesagt und wenn sie irgendwann aufgestanden und gegangen wäre, hätte er sie auch nicht aufgehalten, aber sie hatte nicht aufstehen und gehen wollen.

Sie war bei der Hälfte des Buches angelangt, als sie noch einmal aufgesehen und bemerkt hatte, dass seine Unterarme völlig vernarbt waren. Er hatte die Ärmel seines Pullovers unbekümmert nach oben geschoben, als ob es ihm gar nichts ausgemacht hätte, dass sie all diese Narben sah. Sie waren völlig willkürlich, kreuz und quer gesetzt, hatten sich weiß von seiner Haut abgehoben und zwei Pflaster hatten auf seinem rechten Unterarm geklebt. Der rechte Arm war schlimmer vernarbt gewesen als der linke und an der Oberseite seiner Arme schnitt er offenbar öfter als an der Unterseite.

Sie musste so lange gestarrt haben, dass er es bemerkt hatte, denn plötzlich hatte er sein Buch zusammengeklappt, auf den Tisch gelegt und sie angesehen. Irgendwie war er ihr anders erschienen, als in der Schule. Viel ruhiger und ein bisschen ernster.

„Erschreckt dich das?", hatte er gefragt. „Meine Arme."

Sie hatte den Kopf geschüttelt. Erschreckt hatte es sie nicht, nur ein bisschen verwundert, weil ihr die Narben in der Schule nie aufgefallen waren. Als hätte er ihre Gedanken lesen können, hatte er hinzugefügt: „Naja, in der Schule würde ich meine Narben auch nicht so offen zur Schau stellen." Er hatte nach seinem Kaffee gegriffen. „Bei dir habe ich nur... irgendwie nicht das Gefühl, dass du hinter meinem Rücken scheiße darüber redest."

Sie hatte ihr Buch weggelegt.

„Warum machst du es?", hatte sie wissen wollen. Besonders auf Suicide-Partys war sie sehr oft auf Menschen getroffen, die sich selbst verletzt hatten. Dabei gewesen waren wirklich kranke Dinge, an die sie lieber gar nicht denken wollte. Sie erinnerte sich an ein Mädchen, das sich immer die Haut mit einem Feuerzeug verbrannt und dann heruntergeschält, bis sie ihr blutiges Fleisch freigelegt hatte. Dann hatte sie diese Stellen in Salzwasser getaucht.

Viele hatten sich geschnitten. Mit Scheren, Messern, Rasierklingen, Papier. Die Papier-Menschen hatte sie besonders furchtbar gefunden. Manche hatten sich Löcher ins Fleisch gestochen. Mit Stecknadeln, Ohrringen oder Nähnadeln. Sogar Nägeln.

Verdammt, sie hatte sich selbst geschnitten, aber das hatte an ihren Schmerzen gelegen. Der akute, schneidende Schmerz hatte immer für einen Augenblick von den unbeschreiblichen Schmerzen in ihrem Unterleib abgelenkt und ihr Erleichterung gebracht. Sie hatte sich auch oft mit Zigaretten von Leuten verbrennen lassen, aber bis heute redete sie sich ein, dass das nur ein kläglicher Tattooersatz war.

Sie war sich nicht sicher, ob es das besser machte.

Lionel hatte mit den Schultern gezuckt. „Kompliziert." Dann hatte er sie plötzlich unsicher angesehen und die Ärmel wieder bis zu den Handgelenken vorgezogen. „Ich hoffe, das triggert dich nicht."

Sie hatte den Kopf geschüttelt und stumm von ihrem Tee getrunken. Kurz hatte sie überlegt, ihm ihre eigenen Brandnarben zu zeigen, es aber sein lassen.

„Willst du spazieren gehen? Ich bin froh, dass endlich Mal wieder die Sonne scheint", hatte er gesagt. Es war angenehm gewesen, dass er nicht mehr so drängend versuchte, sie dazu zu bringen, etwas mit ihm zu unternehmen. Dass er nicht so aufgedreht gewesen war wie in der Schule und sie nicht aus heiterem Himmel heraus hübsch genannt hatte. Er war viel entspannter gewesen. Aber sie war ja auch hier gewesen, er hatte also erreicht, was er hatte erreichen wollen.

Sie waren noch ein bisschen spazieren gegangen, auch wenn sie nicht viel geredet hatten.

Letzten Freitag war sie auch wieder in das kleine Buchcafé gegangen. Nicht, weil sie und Lionel sich das ausgemacht hätten, aber weil sie das Gefühl gehabt hatte, dass er wieder dort sitzen und auf sie warten würde. Und genau das hatte er auch getan, dabei hatte sie immer gedacht, dass sie die Seltsame unter allen Menschen war. Sie hatten wieder mehr gelesen, als miteinander geredet, aber das war gut so gewesen.

Und auch diesen Freitag fand sie sich wieder auf demselben Platz, Lionel gegenüber. Heute schien er besonders vertieft in sein Buch, sie hingegen konnte sich nicht wirklich konzentrieren. Das Gespräch mit Mr. Oyenusi, das sie am Dienstag geführt hatte, klebte ihr immer noch wie heißer Teer im Gedächtnis.

Irgendwann sah sie von den Seiten auf. „Denkst du, Mr. Teakin steckt in Schwierigkeiten?", fragte sie und Lionel steckte sein Lesezeichen zwischen die Seiten und sah auf. Natürlich waren die Gerüchte nicht an ihm vorbeigegangen, aber er hatte sie nicht darauf angesprochen.

„Vielleicht", sagte er. „Ich hoffe nicht, dass irgendjemand, der über Teakins Zukunft entscheiden kann, ernsthaft daran glaubt, dass du mit ihm... Du weißt schon."

Sie seufzte und rieb sich mit dem Handrücken über die Stirn. „Scheiße."

„Wie kam es überhaupt dazu?"

„Ein Mädchen aus meiner Klasse hasst mich."

„Der Klassiker." Das brachte sie zum Schmunzeln. „Ich hoffe, dass Teakin nicht fliegt. Er ist der einzige Mathelehrer, der mich bei der Abschlussprüfung vielleicht durchlässt, obwohl ich sitzengeblieben bin."

„Ich könnte dir doch helfen", bot sie an, noch bevor sie sich sicher war, woher dieses Angebot kam. Sie hatte noch nie jemandem ihre Hilfe angeboten und war einen Augenblick lang geschockt über sich selbst.

Lionel grinste sie aus zusammengekniffenen Augen an. „Also entweder bereust du dieses Angebot gerade, oder hinter mir steht ein Kerl mit einer Axt." Er richtete den Blick ernst nach oben. „Bitte, bitte, lass es ein Axtmörder sein."

Jetzt musste sie lachen und Lionels Augen begannen zu leuchten, als er sie angrinste. „Wir könnten ja... statt hier zu sitzen und zu lesen auch hier sitzen und die Hausaufgaben für die nächste Woche zusammen machen", schlug sie vor.

„Du hast doch ganz andere Hausaufgaben als ich", wandte er ein.

„Ja, weil ich den Babykram, den du rechnest, im Schlaf kann."

„Angeberin." Lionel beugte sich mit einem herausfordernden Lächeln über den Tisch. „Na, schön. Aber ich warne dich. Ich werde deinen Geduldsfaden auf die Probe stellen."

*

Als sie nach dem Treffen mit Lionel nach Hause kam, hörte sie Adam und ihre Schwester streiten. Mal wieder.

In letzter Zeit stritten sie ganz gerne. Entweder das, oder sie schwiegen einander konsequent an. Und sie stritten nur deshalb, weil Hannah sich in den Kopf gesetzt hatte, dass sie in den Frühlingsferien im März nach New York fliegen und Jason besuchen wollte.

Wortlos ging sie durchs Wohnzimmer an den beiden vorbei in die Küche, nahm sich ein Glas aus dem Küchenschrank und holte sich die Cola aus dem Kühlschrank.

„Wie oft muss ich noch Nein sagen?", fragte Adam angestrengt.

„Gar nicht, du sollst mich einfach gehen lassen!"

Sie hasste es, hasste es so sehr, dass Hannah sie alleine lassen wollte. Dass Hannah in den Ferien einfach für ein paar Tage wegfliegen wollte. Sie war noch nie geflogen. Beide Schwestern hatten noch nie in einem Flugzeug gesessen und ein Teil von ihr fühlte sich betrogen, weil sie immer gedacht hatte, sie würden irgendwann zusammen ihren ersten Flug erleben. Der erste Flug, der sie aus Alaska und weg von ihrer Vergangenheit bringen würde.

Der andere Teil in ihr war sauer, dass Hannah sie hier alleine lassen wollte. In diesem Haus, in dem sie sich ohne Hannah immer noch nicht willkommen fühlte, auf dessen Esstisch sie am Abend nicht sitzen konnte und dessen Zimmer sich nicht wie ihr eigenes, kleines Reich anfühlte.

Und das alles wegen eines Kerls, den sie kaum kannte. Wegen Jason. Sie kannte Jason nicht, aber sie hasste Jason jetzt schon. Und sie begann zu verstehen, warum Mia so sauer auf Hannah war.

Sie goss das Glas voll und stellte die Flasche zurück in den Kühlschrank.

Natürlich würde Adam Hannah niemals nach New York fliegen lassen. Das hatte ihr letzter Streit nur allzu deutlich gemacht. Sie hatte jedes einzelne Wort gehört, so laut hatten die beiden gestritten, während sie sich auf ihrem Zimmer versteckt hatte, während ihr stumme Tränen über die Wangen gelaufen waren, weil das Gebrüll sie an einen Ort zurück katapultiert hatten, an dem sie ihre Emotionen kaum kontrollieren konnte.

„Hörst du dir überhaupt zu?", hatte Adam ungläubig gefragt, als Hannah es vor ein paar Tagen zum ersten Mal angesprochen hatte, nachdem sie von einem Date mit Jason nach Hause gekommen war. „Du willst, dass ich dich für eine Woche nach New York fliegen lasse, zu einem Jungen, den ich nicht kenne?"

„Natürlich kennst du ihn, er ist Mias Bruder", hatte Hannah erwidert. „Jason. Er hat Mia hier schon oft abgesetzt."

„Ich habe vielleicht fünf Sätze mit ihm gewechselt."

„Außerdem ist er kein Junge. Er ist sechsundzwanzig."

„Jetzt hast du mich überzeugt", hatte Adam sarkastisch erwidert.

„Er würde den Flug für mich bezahlen, du musst gar nichts machen."

„Ich lasse dich nicht für eine Woche mit einem Sechsundzwanzigjährigen durch New York flanieren."

Bis zu diesem Augenblick war Hannah noch recht ruhig geblieben, aber dann war sie laut geworden. „Hör auf, dich so aufzuspielen, in drei Monaten bin ich achtzehn, dann kann ich sowieso machen, was ich will! Wenn die Frühlingsferien anfangen, bin ich sogar nur noch einen Monat von meinem achtzehnten Geburtstag entfernt."

„Dann kannst du ja in drei Monaten nach New York fliegen, die Antwort ist nein!", hatte Adam beharrt.

Und nun ging der Streit eben weiter. Adam, der in seinem Arbeitszimmer saß und Hannah, die in der Türe stand und auf ihn einredete.

„Ich habe Nein gesagt!", erwiderte Adam. „Es ist viel zu gefährlich und ich bin für dich verantwortlich. Für dich und deine Schwester."

„Ist die rechtliche Verantwortung mir gegenüber der einzige Grund, warum du mich nicht gehen lassen willst?", fragte Hannah bitter.

„Der einzige, den du akzeptierst."

„Was soll das denn bedeuten? Du hast dich jahrelang nicht um mich geschert und jetzt willst du mich plötzlich beschützen? Tut mir leid, dir das sagen zu müssen, aber dafür ist es ein bisschen zu spät!"

„Mir ist egal, was du über mich denkst, ich lasse dich nicht mit einem Fremden am anderen Ende des Kontinents in einer fremden Stadt im selben Apartment übernachten!"

„Er würde mir niemals etwas tun!"

„Wo nimmst du diese Behauptung so blauäugig her?"

Die ersten Male waren diese Streitereien für sie schwer zu ertragen gewesen, aber mittlerweile nervten sie nur noch.

Aber sie waren praktisch, schoss es ihr durch den Kopf, als sie Adams Brieftasche so alleine und unbeaufsichtigt auf dem Küchentisch liegen sah. Sie stellte ihre Cola zur Seite und linste zu Hannah und Adam. Von seiner Position aus konnte er sie unmöglich sehen. Auch dann nicht, wenn sie einen Schritt nach vorne machen, nach seiner Geldbörse greifen und...

Sie hatte Julia versprochen, Adam nicht mehr zu beklauen.

Doch das war vor ihrem letzten Besuch bei Dr. Hale gewesen. Sie hatte die ganzen Schmerzmittel und den Ultraschall und die Eisentabletten noch nicht bezahlt und wollte lieber in Adams Schuld stehen, als in Dr. Hales.

Sie befand sich nicht sonderlich lange in einem Gewissenskonflikt mit sich selbst, denn fünf Sekunden später glitten zwei zehn Dollar Scheine in ihre Hosentasche. Seine Geldbörse war so voll mit Scheinen gewesen, dass es ihm hoffentlich nicht auffallen würde. Und fürs erste waren zwanzig Dollar nicht schlecht. Vermutlich fehlten ihr jetzt nur noch etwa neunhundertachtzig.

Immerhin war es etwas. Sie griff wieder nach ihrem Colaglas, wollte auf ihr Zimmer gehen, blieb aber am Treppenabsatz stehen und drehte sich zu Hannah um, die mit dem Rücken zu ihr stand.

„Färbst du mir die Haare?"

Hannah, die Adam immer noch geladen gegenüberstand, drehte sich um und sah sie erst verwirrt an, als wäre sie sich nicht sicher, ob sie mit ihr gesprochen hatte und dann blinzelte Hannah, so als hätte ihre kleine Schwester jeglichen Bezug zur Realität verloren. „Jetzt?"

Sie nickte. „Hattest du etwas Anderes vor?"

Auch Adam warf ihr einen kurzen irritierten Blick über Hannahs Schulter hinweg zu, bevor er sich von ihrer großen Schwester abwandte und hinter seinem Schreibtisch verschwand. Hannah sah ihm böse nach, dann wanderte ihr abschätzender Blick wieder zu ihr.

„Wehe, du änderst in zehn Minuten wieder deine Meinung", murrte Hannah noch. „Und mach mich bloß nicht dafür verantwortlich, wenn du morgen findest, dass du eine Fehlentscheidung getroffen hast."

Zehn Minuten später saßen die Schwestern bei geschlossener Türe im Badezimmer. Nun, sie saß. Hannah stand hinter ihr und studierte die Packungsbeilage, und sie studierte Hannah.

„Du vertraust mir?", hakte Hannah irgendwann nach, als sie die Farbe in eine Flasche drückte und kräftig schüttelte. „Ich meine... immerhin ist schwarz ziemlich dunkel. Für dich."

„Und?"

„Was, wenn es fleckig wird?"

„Dann mach es nicht fleckig."

Hannah rollte mit den Augen und begann zügig, die flüssige Masse mit der Flasche und einem Pinsel auf ihrer Kopfhaut aufzutragen. Es roch scharf und unangenehm und binnen Sekunden sah sie wie ein zerrupftes Huhn aus und erste Flecken machten sich auf dem weißen Handtuch bemerkbar, das sie sich um die Schultern gelegt hatte.

„Hast du vor, Adam so lange zu nerven, bis er dich lieber nach New York fliegen lässt, als noch ein Wort mit dir zu wechseln?", fragte sie, als Hannah mit dem Ansatz fertig war und die Farbe in ihren Haarlängen verteilte.

„Wusste ich es doch", sagte ihre große Schwester und warf ihr einen bösen Blick zu. „Du willst nur, dass ich dir die Haare färbe, damit du mich ausquetschen kannst."

„Deine Zankereien mit Adam sind laut genug, dass ich dich nicht ausquetschen muss."

Dennoch wollte sie verstehen, wie Hannah jemand plötzlich so wichtig sein konnte, dass sie sie einfach hier zurücklassen wollte.

Würde es so auch sein, wenn Hannah achtzehn werden würde? Würde sie einfach gehen? Endgültig?

„Ich fasse es nicht, dass Adam mich nicht nach New York lassen will."

„Ja, ein echter Schocker."

Sie fuchtelte wild mit dem Pinsel herum, während sie sprach. „Ich werde im Mai achtzehn! Was ist schon dabei, er muss doch nichts tun! Jason bezahlt meinen Flug und ich bleibe ein paar Tage bei ihm in seinem Apartment."

„Hm."

„Außerdem muss Jason sowieso an drei dieser sechs Tage arbeiten."

„Und was machst du dann dort?"

„Lernen", erwiderte Hannah. „Das kann ich dort so gut wie hier."

„Dann bleib doch hier", murrte sie, aber Hannah reagierte nicht, sondern verteilte nur weiter grimmig das stinkende Zeug auf ihren Haaren. Die Farbe auf ihrem Kopf wurde allmählich dunkler und sie merkte, wie sie begann, die Entscheidung zu bereuen. Eigentlich mochte sie ihre sommersprossenbraunen Haare. Mit schwarzen Haaren sah sie wirklich... blass aus.

„Adam kann mich Mal. In den Sommerferien bleibe ich die ganze Zeit über in New York. Die ganzen drei Monate. Und dagegen kann er absolut nichts machen", sagte Hannah bockig und ihr blieb das Herz stehen. Hannah wollte sie drei Monate alleine lassen? Hatte sie den Verstand verloren?

Sie versuchte, ihre Wut darüber im Zaum zu halten. „Was, wenn wir dann wieder bei unsere Mutter sind?"

Hannah hielt nur für den Bruchteil einer Sekunde mit dem färben inne, aber sie hatte es bemerkt und Genugtuung überschwemmte sie.

„Würdest du auch nach New York fliegen, wenn wir wieder mit ihr zusammen wohnen?", bohrte sie weiter. Natürlich würde Hannah das nicht. Sie fühlte sich zu verantwortlich für ihre Mutter und auch für sie, wenn Hannah sie drei Monate mit ihrer Mutter alleine gelassen hätte. Jetzt sah Hannah nicht mehr wütend, sondern schuldbewusst aus.

Hannah massierte die Farbe in ihre Haare. Es war ein angenehmes Gefühl, wenn die Situation nicht so angespannt gewesen wäre.

„Wer weiß, ob wir überhaupt jemals zurück zu Mom kommen", murmelte Hannah dann. Sie hatte eigentlich immer gehofft, nie wieder zu dieser Frau zurück zu müssen, aber in diesem Augenblick wünschte sie sich nichts sehnlicher, als das, wenn es denn hieß, dass sie so Hannah bei sich behalten konnte.

„Jedenfalls verstehe ich nicht, warum Adam sich so aufspielt. Ich bin schon siebzehn, wenn Jason und ich zusammen sind, ist das nicht verboten."

„Nur, weil es nicht verboten ist, heißt es noch lange nicht, dass es richtig ist", erwiderte sie und ekelte sich im selben Moment vor sich selbst.

Hannah ließ die Hände sinken und starrte verblüfft im Spiegel an. „Was ist denn mit dir los? Hat Gott heute Morgen unabsichtlich geantwortet, als du zum Teufel gebetet hast?"

Sie verdrehte die Augen, aber obwohl Hannah die Farbe weiterhin in ihre Haare massierte, um das Resultat möglichst fleckenfrei zu bekommen, merkte sie, dass Hannah sie aufmerksam beobachtete.

„Wessen bescheuerte Idee war das eigentlich?" fragte sie, weil sie sich unter dem wachsamen Blick ihrer großen Schwester langsam unwohl fühlte. Hannah drehte ihre Haare zu einem Knoten und stülpte ihr die Plastikhaube, die in der Packung dabei gewesen war, über den Kopf.

„Deine."

„Nicht das Haarefärben. Die New York Sache."

„Ach so. Weiß nicht genau. Irgendwie... wahrscheinlich die von uns beiden..."

Hannah und Jason hatten für ihren Geschmack viel zu viel Zeit miteinander verbracht, als er in Palmer gewesen war. Ihre Schwester hatte ihr von dem misslungenen Abendessen erzählt, aber seither schwebte sie wieder auf Wolke sieben und jeder zweite Satz, den sie sagte, begann mit Jason hat oder Jason ist.

Es war so unfassbar nervig.

„Reicht es dir nicht, dass er ab und zu hier her kommt?"

„Viel zu selten", widersprach Hannah entschieden.

„Ihr redet doch ständig. Übers Telefon, oder per Videochat oder ihr simst."

Hannah wischte ihr mit einem feuchten Tuch über den Haaransatz, da, wo etwas Farbe zu tief in ihre Stirn gerutscht war. Während sie das tat, wirkte Hannah plötzlich so wehmütig und verletzlich, wie sie ihre Schwester noch nie gesehen hatte.

„Ich weiß doch auch nicht, was es ist", seufzte Hannah. „Ich würde am liebsten vierundzwanzig sieben an ihm kleben. Irgendwie kann ich nicht genug von ihm kriegen, egal, wie lange wir zusammen sind oder telefonieren. Es ist... wie verhext."

„Du warst schon immer anhänglich", erwiderte sie trocken und Hannah verdrehte wieder die Augen.

„Schon kapiert, ich weiß, dass ich mich schnell an Menschen binde." Hannah legte das Tuch weg, prüfte die Uhrzeit und stützte sich am Waschbeckenrand ab. „Ich bin eben kein gefühlskalter Eisbrocken." Sie lächelte ihre große Schwester mit giftigem Blick an. „Ich empfinde eben etwas für andere. Vielleicht manchmal zu schnell, das gebe ich gerne zu, aber dafür entschuldige ich mich nicht. Dafür, dass andere Menschen-" Hannah brach ab.

„Auf dich scheißen?", bot sie an und Hannah nickte düster.

„Das ist nicht meine Schuld. Das sagt mehr über deren Charakter aus als über meinen. Mit Jason ist es etwas Anderes."

„Das ist es doch immer", erwiderte sie müde. „Und dann ist es doch nicht so anders."

Hannah zog die Schultern hoch. „Mag sein, aber dann darf ich es doch wohl genießen, solange es gut läuft, oder?"

„Dann darfst du dich aber nicht beschweren, wenn es wieder schief läuft. So wie mit Andrew. Oder mit Cole. Kann ich schon auswaschen?"

„Lass es noch drei Minuten einwirken." Hannah betrachtete sie mit zusammengezogenen Augenbrauen. „Seit wann interessiert dich mein Privatleben eigentlich so?"

„Tut es nicht."

„Und warum reitest du dann so sehr auf Jason herum?"

„Tu ich nicht! Du reitest auf ihm."

„Lass das!"

Sie schüttelte den Kopf. „Mach was du willst. Heirate ihn meinetwegen, das juckt mich doch nicht." Es hatte gleichgültig klingen sollen, doch das genaue Gegenteil war der Fall. Es kümmerte sie viel zu sehr und das merkte Hannah auch. „Bilde dir doch nicht so viel darauf ein, nur weil ich wissen will, warum du für einen Kerl, den du kaum kennst, ans andere Ende des Kontinents fliegen willst und dafür keine drei Monate warten kannst, bis du achtzehn bist!" Das war schärfer als beabsichtigt aus ihr herausgeplatzt.

Hannah schwieg einen kurzen Moment. „Izzy, wenn du mir sagst, was dein Problem ist, dann kann ich-"

„Ich muss mir die Haare auswaschen", unterbrach sie Hannah und stand auf. „Geh weg, ich muss unter die Dusche."

Hannah stieß, wie vor den Kopf gestoßen, den Atem aus. „Danke, dass du meine Haare gefärbt hast, Hannah", murmelte ihre Schwester noch sauer, bevor sie das Badezimmer verließ und die Türe lautstark hinter sich zuzog.

Sie betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Vielleicht war die neue Haarfarbe doch eine gute Idee gewesen. Das dunkle passte auf jeden Fall zu ihrer Laune.

Unter der Dusche mischten sich ihre Tränen mit der schwarzen Farbe.

*

Sie wusste noch, wie sie einmal vor ein paar Jahren aufgewacht war, weil Hannah und ihre Mutter im Wohnzimmer gestritten hatten. Sie musste neun oder zehn Jahre alt gewesen sein und Hannah war gerade von ihrem Eislauftraining zurückgekommen. Ihre Mutter, die seit ein paar Tagen in einer manischen Episode festgesteckt und sich in den Kopf gesetzt hatte, dass Hannah vor dem Eislaufwettbewerb eine Woche lang nichts essen durfte, weil sie sonst ihre Figur verlieren würde, hatte Hannah nicht geglaubt, dass sie den ganzen Tag über nichts gegessen hatte.

Ihre Schwester war schon unfassbar reizbar und schlecht gelaunt und erschöpft gewesen, weil es bestimmt drei Tage her gewesen war, seit sie so etwas wie eine vernünftige Mahlzeit zu sich genommen hatte. Die Müsliriegel und das halbe Erdnussbutter-Sandwich, das sie ihrer großen Schwester immer in der Pause zugeschoben hatte, damit Hannah nicht verhungerte, zählten wohl kaum.

Gestern Abend hatte ihre Mutter sogar von ihr verlangt, fünfzig Liegestützen vor dem Fernseher zu machen, während sie ihr etwas zu essen gemacht hatte und Hannah nichts davon hatte essen dürfen. Sie hatte kaum einen Bissen hinunterbekommen, weil das schlechte Gewissen sie fast aufgefressen hatte.

„Warum darf sie nichts essen?", hatte sie gefragt und die Käsemakkaroni aus der Tüte hatten ihr wie Wackersteine im Magen gelegen.

„Es ist nicht gut, wenn sie vor dem Wettbewerb so viel isst", hatte ihre Mutter nur erwidert.

Nur an diesem Morgen hatte ihre Mutter auch ihr nichts zu essen in die Schule mitgegeben, weil sie wohl geahnt hatte, dass sie Hannah immer ihr Essen überlassen hatte, und so hatte Hannah wirklich nichts gegessen. Sie hatte immerhin zu Hause Ravioli aus der Dose bekommen, aber Hannah war nach der Schule direkt zum Training gefahren, so, wie sie es immer getan hatte.

Ihre Mutter hatte so laut gebrüllt, dass sie sich unter ihrer Decke kaum hatte bewegen können. Ihr Herz hatte zu rasen begonnen, Tränen waren ihr in die Augen geschossen und es war in dem Zimmer plötzlich zu stickig und heiß geworden. Sie konnte sich nie sicher sein, ob ihre Mutter in diesem aufbrausenden Zustand, nicht auch plötzlich auf ihr Zimmer gestürmt kommen, sie aus dem Bett zerren und-

Ihre Mutter hatte geschrien, dass sie sich von Hannah nicht belügen ließ, dass Hannah hässlich und fett werden, wenn sie nicht aufpassen würde und dass sie nicht fassen konnte, dass sie all das Geld in Hannahs Eiskunstlauf gesteckt hatte, dafür, dass sie es nun kein bisschen mehr ernst nahm. Hannah hatte mit sich überschlagender Stimme zurückgebrüllt, dass sie vier Stunden beim Training gewesen war, dass sie ihre Karriere sehr wohl ernst nahm, und dass sie furchtbare Leistungen erbracht, weil sie nichts gegessen hatte.

„Wenn du es versaut hast, dann deshalb, weil du dich nicht genug angestrengt hast!"

Sie hatte gehört, dass ihre Mutter Hannah geschlagen hatte und sie hatte ihr Gesicht im Kissen vergraben, ihren gesamten Körper angespannt und die Luft angehalten. Plötzlich waren die Geräusche viel näher gewesen. In ihrer Vorstellung hatte ihre Mutter Hannah gepackt und viel zu grob ins Badezimmer gezerrt. Vermutlich war es tatsächlich so gewesen. Manchmal hatte sie Angst gehabt, dass Hannah unter dem Griff ihrer Mutter zerbrechen könnte.

Obwohl ihre Kehle staubtrocken und ihr speiübel und schwindelig von all dem Adrenalin und dem fast unbändigen Fluchtinstinkt gewesen war, hatte sie die Beine über die Bettkante rutschen lassen und war zur Türe geschlichen. Ihre Beine hatten gezittert und sie hatte Angst gehabt, dass sie unter ihr nachgeben würden. Sie hatte ihre Zimmertüre nur ein Stück weit geöffnet, weil sie hatte wissen wollen, was ihre Mutter mit Hannah im Badezimmer machte. Vielleicht wollte sie ihr auch die Haare abschneiden, so wie sie es damals bei ihr getan hatte, als sich die Knoten nicht mehr hatten herausbürsten lassen.

Die Bilder, die sie in dieser Nacht gesehen hatte, hatten sich in ihrem Kopf eingemeißelt (so wie so viele andere schrecklichen Dinge auch, aber dieser Moment hatte einen ganz besonderen Platz in ihrem Arsenal an Erinnerungen).

Hannah hatte mit tränenüberströmtem, blassen Gesicht über der Kloschüssel gehangen. Immer noch ihre Trainingssachen an, die Haare in einem Knoten, der langsam dabei war, sich aufzulösen. Ihre Mutter hatte ungeduldig neben ihr im Badezimmer gestanden, mit diesem ganz besonderen Gesichtsausdruck, den sie in den ganz schlimmen Phasen hatte. Die Augen aufgerissen, den Mund wutverzerrt, die Augenbrauen gehoben, die Adern an ihrem Hals, die sich deutlich hervorhoben.

„Jetzt mach schon!", hatte ihre Mutter gebrüllt. „Ich will es sehen!"

„Mom... hör auf, bitte", hatte Hannah nur undeutlich geschluchzt und sie hatte ihren Kopf ein Stück weiter vorgebeugt, um besser sehen zu können, obwohl sie es nicht hatte sehen wollen, aber ein großer Teil von ihr hatte immer gefürchtet, dass ihre Mutter Hannah umbringen, wenn sie nur einmal die Beherrschung verlieren würde. Und sie hätte sich lieber selbst aus dem Fenster der Wohnung gestürzt, als zu erleben, wie ihre Mutter ihre große Schwester umbrachte. Vielleicht ihre Hände so lange um ihren Hals schloss, bis Hannah aufhörte zu atmen. Oder ihren Kopf gegen den Türrahmen knallte, sodass Hannahs Schädel aufspringen würde.

Sie wäre auch deshalb lieber selbst aus dem Fenster gesprungen, weil sie im Leben nicht alleine mit ihrer Mutter leben wollte. Ihre Angst vor ihr war zu groß.

Plötzlich hatte ihre Mutter sich auf Hannah gestürzt und versucht, ihr die Finger in den Mund zu drücken. Sie hatte sich gefragt, was das sollte.

„Au!", hatte ihre Mutter gerufen und Hannah mit blutigen Fingern übers Gesicht geschlagen. „Miststück! Halt still!" Ihre Mutter hatte in Hannahs Haare gegriffen, an ihnen gezogen, ungeschickt nach einer Zahnbürste auf dem Waschbecken gegriffen, dabei den Zahnputzbecher und einige Cremen und die Haarbürste umgestoßen und auf den Boden gefegt. Hannah hatte gebrüllt und getreten und geweint und um sich geschlagen, als ihre Mutter versucht hatte, die Zahnbürste ihren Rachen hinunterzudrücken.

Es war die blaue Zahnbürste gewesen. Es war ihre Zahnbürste gewesen, das wusste sie noch ganz genau.

Und so sehr sie es auch versuchte, wenn die Bilder von dieser Nacht sie übermannten, konnte sie sie nicht wegdrücken. Hannah hatte um geschlagen, geschluchzt, gehustet, erstickte Geräusche von sich gegeben und sie hatte sich schon ins Bad stürzen und ihrer Schwester helfen wollen, aber sie war vor Angst wie gelähmt gewesen und hatte nichts tun können, als weiter in ihrem Zimmer hinter der schützenden Türe stehen zu bleiben und mit angehaltenem Atem und Tränen in den Augen zuzusehen.

Ihre Mutter hatte Hannahs im Nacken gepackt, ihren Kopf über die Kloschüssel gedrückt und Hannah hatte so sehr geschluchzt und gewürgt, dass sie Angst gehabt hatte, dass sie ersticken würde. Als nichts mehr in Hannahs Magen gewesen war, das sie hätte hochwürgen können, hatte Mom sie zur Seite geschubst und Hannah war mit dem Kopf gegen den Wannenrand geknallt, hatte die Knie angezogen, sich zusammengekauert und unter Tränen nach Luft geschnappt.

Eigentlich war Hannah immer die Stärkere von ihnen gewesen, hatte sie gefunden, auch damals schon, obwohl sie selbst erst zwölf Jahre alt gewesen war. Weil Hannah sie immer beschützt und in den Arm genommen hatte, wenn ihre Mutter ihr Angst gemacht hatte, aber bis zu diesem Augenblick hatte sie nie miterlebt, dass ihre Mutter Hannah so brutal behandeln konnte. Dass Hannah nicht mehr aufstand und sich wehrte, nicht einmal weglief.

Wahrscheinlich konnte sie sich deshalb so gut daran erinnern.

Ihre große Schwester mit einem so gebrochenen, angsterfüllten Blick, schluchzend auf dem Badezimmerfußboden zu sehen, während ihre Mutter mit der blauen Zahnbürste wie eine Wahnsinnige nach Essensresten in Hannahs Erbrochenem gesucht hatte, hatte irgendetwas tief in ihr zerfetzt.

Ihr war zum ersten Mal bewusst gewesen, dass das einzige Leben, das sie je kennen gelernt hatte, absolut abscheulich war und dass sie so auf keinen Fall auch nur einen weiteren Tag verbringen wollte.

Auch hatte sie an diesem Tag gelernt, dass Hannah nicht unverwundbar war. Dass Hannah sie nicht vor allem beschützen konnte, wenn sie sich nicht einmal selbst vor ihrer Mutter schützen konnte. Dass es vielleicht an der Zeit war, dass sie sich selbst vor ihrer Mutter beschützte.

Natürlich hatte ihre Mutter in dem Erbrochenen keine Essensreste gefunden und war dann, ohne sich noch einmal nach Hannah umzudrehen ins Wohnzimmer verschwunden, hatte mit zittrigen Fingern nach ihren Hausschlüsseln gefummelt, hatte die Wohnung ohne eine Jacke anzuziehen verlassen und die Türe mit einem lauten Knall hinter sich zugezogen.

Plötzlich war es ganz still gewesen und die Wohnung war ihr viel größer vorgekommen, als sie es tatsächlich gewesen war.

Hannah hatte zu weinen aufgehört, aber sie hatte sich nicht bewegt. Ihr Blick war leer gewesen. Sie hatte immer noch zitternd auf dem kalten Boden gesessen und sich nur zusammengekauert den Hals gehalten. Nach zehn Minuten, in denen sie nur dagestanden und durch den Türspalt nach draußen gesehen und ihre Schwester beobachtet hatte, hatte Hannah sich doch aufgerappelt, sich mechanisch die Tränen und das Blut ihrer Mutter aus dem Gesicht gewischt, das Haargummi aus den Haaren gezogen, die Badezimmertüre geschlossen und wenige Sekunden später hatte sie das Wasserrauschen in der Dusche gehört.

Sie war aus ihrem Zimmer geschlichen, in die Küche gegangen und obwohl sie furchtbare Angst davor gehabt hatte, dass ihre Mutter zurückkommen und sie erwischen würde, hatte sie gewusst, dass sie vor morgen Früh nicht zurück sein würde. Das war sie nie.

Sie hatte jeden Schrank und jedes Fach im Kühlschrank nach etwas Essbarem abgesucht. Sie hatte eine Schüssel mit den übrigen Schokoladencornflakes gefüllt, an der Milch geschnuppert, sie zu den Cornflakes gegossen, dann eine fleckige Banane klein geschnitten und dazu fallen lassen. Im Kühlschrank hatte sie noch ein hartgekochtes Ei gefunden und im hintersten Eck hatte sich noch eine angebrochene Packung mit zwei Haferflockenkeksen versteckt.

Sie hatte gehofft, dass ihre Mutter in ihrem Wahn nicht merken würde, dass das Essen weggewesen war, aber eigentlich war es ihr egal gewesen, denn sie hatte größere Angst davor gehabt, dass Hannah verhungern würde.

Als Hannah mit feuchten Haaren wieder aus dem Badezimmer gekommen und auf ihr Zimmer geschlurft war, hatte sie ihr die Cornflakes, die zwei Kekse und das hartgekochte Ei gebracht. Hannah hatte sie ziemlich verdattert angesehen, so, als wäre etwas zu Essen der letzte Gedanke, der ihr gekommen war. Vielleicht war es ja so gewesen.

„Bitte", hatte sie gefleht und ihre Stimme war viel höher gewesen als sonst. „Ich will nicht, dass du stirbst."

Hannah war eine Mischung aus einem Lachen und einem Schluchzen entwichen, als sie die Schüssel entgegen genommen hatte. Sie hatten sich auf Hannahs Bettdecke gesetzt und obwohl Hannah ziemlich langsam und angestrengt gegessen hatte, hatte sie streng darauf geachtet, dass ihre große Schwester alles aufaß.

Nur den letzten Haferflockenkeks hatte Hannah in der Mitte auseinandergebrochen und mit ihr geteilt.

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