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Es war schon so oft passiert.

Und jetzt hatte Izzy es schon wieder getan, war schon wieder davon gelaufen und sie musste schon wieder beten, dass ihre kleine Schwester heil nach Hause kommen würde.

Je häufiger es passierte, desto schwerer ließ sich ignorieren, was sie längst wusste, und dass Andrew nicht aufhören wollte, nachzubohren, machte die ganze Sache nicht unbedingt leichter.

„Sie hat mich geküsst. Auf den Mund. Deine Schwester hat mich auf den Mund geküsst!"

„Das hab ich schon beim ersten Mal verstanden", grummelte sie. Sie konnte Andrew nicht erklären, was mit Izzy los war, weil sie es sich selbst einfach nicht eingestehen konnte.

„Was zur Hölle war das?", verlangte er zu wissen und stützte sich mit den Händen auf dem Küchentisch ab. Sie hatte sich einen Teller und eine Gabel genommen, sich ein Stück von der Lasagne heruntergeschnitten und damit auf den Tisch gesetzt, auch wenn das vermutlich mehr eine Übersprungshandlung, eine Tat der Verzweiflung, gewesen war, als dass sie wirklich Hunger gehabt hätte, denn sie stocherte nur nervös in ihrem Essen herum, obwohl der Käse perfekt zerlaufen und an einigen Stellen schön goldbraun geworden war.

Sie zuckte mit den Schultern und versuchte gelassen zu klingen, obwohl ihr vor fünf Minuten noch die Tränen gelaufen waren. „Frühlingsgefühle?"

„Hör auf damit, das war doch wohl nicht normal!" Er tigerte im Wohnzimmer auf und ab und ein Teil von ihr fand Befriedigung darin, ihn so zu sehen. Wenn sie es schon nicht schaffte, ihm die Dinge heimzuzahlen, die er verbockt hatte, dann schaffte es Izzy dafür umso besser.

„Du hättest sie sehen sollen!" Das brauchte sie nicht, sie hatte es oft genug gesehen. „Es war- Es war, als wäre sie gar nicht mehr sie selbst."

„Du kennst sie doch gar nicht", entgegnete sie trocken. „Vielleicht war das ja die echte Izzy." Mit der Gabel deutete sie in Richtung Haustüre.

Andrew legte den Kopf schräg. „Sie hat gesagt, dass mein Gesicht das schönste ist, das sie je gesehen hat. Dass meine Haare toll und weich aussehen und dann hat sie mich geküsst!"

Sie verzog das Gesicht. Izzy hatte Andrew gesagt, dass er ein schönes Gesicht hatte? Unter Umständen hätte sie ihrer Schwester ja zustimmen können, aber nachdem Andrew sich so inakzeptabel ihr gegenüber verhalten hatte, fand sie ihn einfach nur noch unattraktiv.

Und jetzt war Izzy weg. Sie war ohne Jacke und nur in ihren dicken Wollsocken wie eine Irre auf die Straße gelaufen.

Nein, stopp, Izzy war keine Irre. Sie war ihre kleine Schwester.

Dieselbe, mit der sie früher Memory gespielt und absichtlich verloren hatte. Dieselbe Izzy, mit der sie sich Bambi angesehen hatte. Dieselbe Izzy, in deren Bett sie so oft eingeschlafen war, weil sie sich bei ihrer kleinen Schwester fast so wohl fühlte, wie auf dem Eis, zumindest dann, wenn Izzy... Izzy war.

Aber leider war sie auch dieselbe Izzy, die an der Halloweenparty Bash ins Gesicht geschlagen hatte. Dieselbe Izzy, die manchmal tagelang, nächtelang weg war.

Und genau diese Izzy rannte in diesem Augenblick durch die Straßen und war auf dem Weg zu Justin. Wer wusste schon, was sie in diesem hyperaktiven, viel zu glücklichen Zustand mit sich machen ließ. Wozu sie sich überreden ließ...

„Bitte sag Julia und Adam nichts davon", platzte es plötzlich aus ihr heraus und er drehte sich ungläubig zu ihr. Einen Augenblick lang war es völlig still in dem Haus.

„Was wird hier gespielt?", fragte er dann.

„Gar nichts", behauptete sie und überlegte, ihm zu erzählen, dass Izzy vermutlich etwas geraucht hatte, aber das würde die Situation auch nicht entspannen, würde er mit dieser Geschichte tatsächlich zu Julia und Adam gehen.

Sie hatte ja bereits erleben dürfen, dass er ein loses Mundwerk hatte.

„Aber sie müssen es trotzdem nicht wissen", schob sie hinten nach.

„Wann sehen wir Izzy denn wieder?", fragte er spitz. „Wenn sie wieder eine Woche verschwindet, wird es ziemlich schwer, das vor meinen Eltern zu verstecken."

„Wird sie nicht, Izzy geht es gut", behauptete sie. „Sie ist fünfzehn, da ist man... manchmal ein bisschen schräg drauf."

„Ein bisschen?" Er schnaubte. „Mal ehrlich. Wenn eure Mutter genauso verrückt war, dann wundert es mich nicht, dass mein Dad sie verlassen hat."

Noch bevor Andrew den Satz zu Ende gesprochen hatte, schlug sie mit beiden Händen auf den Tisch, das Geschirr klimperte und sie stand so hastig auf, dass der Stuhl beinahe umkippte und rief: „Nimm das zurück!"

Sie fixierte ihn so wütend, dass sie sich sicher war, in diesem Augenblick zu allem fähig zu sein, so sehr machte sie dieser Kommentar rasend vor Zorn.

Izzy ist nicht wie Mom.

Izzy ist nicht wie Mom.

Izzy ist nicht wie Mom.

Wieder drohten Tränen in ihr aufzusteigen, aber sie kämpfte sie nieder.

Izzy war nicht wie Mom. Punkt. Andrew hatte einfach keine Ahnung, wovon er redete.

Die Haustüre wurde geöffnet und sie drehte den Kopf, in der Hoffnung, dass Izzy zurück war, aber es war nur Julia, die mit zwei vollen Einkaufstüten in die Küche kam und die beiden anlächelte, bevor sie die Anspannung im Raum bemerkte und ihr Blick misstrauisch wurde.

„Was ist los?", fragte Julia in ihrem mütterlichen Ton, als würde sie mit zwei streitenden Kindern reden.

Ihr Blick wanderte mahnend zurück zu Andrew und er musterte sie mit blankem Gesichtsausdruck. Sie schüttelte kaum merklich den Kopf und sah dabei vermutlich bedrohlicher aus, als sie es vorgehabt hatte. Würde Andrew jetzt etwas über Izzy sagen, würde sie vielleicht über den Tisch springen und ihm ihre Gabel in den Hals stechen.

Izzy war nicht wie Mom. Kein Bisschen.

„Nichts", sagte Andrew schließlich und brach den intensiven Blickkontakt. „Soll ich dir beim Auspacken helfen?"

Julia hob vielsagend eine Augenbraue. „Wenn mein Sohn mir freiwillig beim Wegräumen der Einkäufe hilft, dann ist etwas im Busch."

„Du traust mir auch gar nichts zu."

„Wenn du mir helfen willst, dann hol April von der Tagesstätte", lächelte Julia und Andrew stöhnte. Er hasste es, mit April gesehen zu werden, weil ihn die Leute immer komisch ansahen, denn er war alt genug, um ihr Vater zu sein. Trotzdem zog er sich seine Jacke an und griff nach seinen Autoschlüsseln, nicht aber ohne ihr einen letzten Blick zuzuwerfen, der vermutlich bedeutete, dass das Thema für ihn noch lange nicht beendet war.

*

Nicht einmal bei ihrem Date mit Andrew damals oder ihren Treffen mit Jason, die sie nicht als Dates bezeichnen wollte, war sie so nervös gewesen, wie in dem Augenblick am Samstagnachmittag, in dem sie das vegane Burger-Restaurant betrat, in dem sie sich früher jeden Monat einmal mit Benny, Lauren und Cole getroffen hatte.

Bevor alles auseinandergebrochen war.

Rückblickend kam ihr die Zeit damals irgendwie farbenfroher vor und das lag bestimmt nicht nur daran, dass an den Fassaden der umliegenden Gebäude nun hohe Gerüste standen und Bauarbeiter daran herumkletterten. Vielleicht lag es an dem bewölkten Himmel. An dem trüben Wetter, dem Wind, der Kälte. Langsam hatte sie keine Lust mehr auf den dauernden Schnee und dieses funzelige Licht. Sie wollte die Sonne wieder sehen. Am liebsten wäre sie in der frühen Morgensonne über den eingefrorenen See gelaufen. Mit Izzy, so, wie sie es früher getan hatten. Aber Izzy hatte kein Interesse mehr daran, Zeit mit ihr zu verbringen und sie konnte nicht mehr eislaufen.

Sie entdeckte Lauren an ihrem üblichen Stammplatz und fragte sich, ob Lauren, Benny und Cole ihre Treffen hier ohne sie fortgeführt hatten. Ob vielleicht sogar ein anderes Mädchen ihren Platz in der Gruppe eingenommen hatte. Cole hatte bestimmt eine neue Eislaufpartnerin, und das war okay, aber der Gedanke daran, dass sie vielleicht bei ihren Freunden ersetzt worden war, schmerzte doch, obgleich es sie nicht überrascht hätte.

Außerdem musste sie dauernd an Claytons letzte Nachricht denken. Ein barsches: „Antworte mir!", nachdem sie ihn so lange ignoriert hatte. Ihn heute hier zu treffen, wäre wahrlich alptraumhaft gewesen.

Den Daumennagel fest gegen ihren Zeigefinger gepresst, setzte sie sich Lauren gegenüber und zog sich umständlich die Jacke aus. Sie traute sich kaum, ihre Freundin anzusehen, die sie vermutlich gar nicht mehr als Freundin bezeichnen durfte.

Lauren war immer noch genauso dünn und durchtrainiert, wie sie sie in Erinnerung gehabt hatte, nur ihre Haare waren kürzer. Schulterlang und nicht mehr so aschig braun, sondern in einem satten kastanienbraun. Sie musste sie gefärbt haben. Lauren hatte bereits ein Sodawasser mit drei Zitronenscheiben und ein paar Minzblättern vor sich stehen.

„Ich war ziemlich überrascht über deine Nachricht", sagte Lauren, ohne eine Begrüßung. Sie klang weder wütend noch erfreut. Eher sachlich und neutral. Das konnte sie ihr nicht verübeln.

„Ich irgendwie auch", erwiderte sie und plötzlich begann Lauren breit zu grinsen. „Was ist denn?"

„Tut mir leid." Lauren hielt sich einen Hand vor den Mund. „Ein total bescheuerter Teil von mir dachte, dass sich deine Stimme vielleicht verändert hat, keine Ahnung, warum."

„Hat sie es?"

Lauren schüttelte den Kopf.

„Und ist das gut oder schlecht?"

Lauren ließ ihren Arm wieder sinken. „Gut."

Sie bestellte sich ebenfalls ein Sodawasser mit Zitronenscheiben und Minze und dann herrschte gedrücktes Schweigen zwischen ihnen. Das überraschte sie nicht, denn einer der Gründe, warum sie Lauren so lange nicht geschrieben hatte, war, weil sie nicht gewusst hatte, was sie sagen sollte. Immer, wenn Lauren ihr geschrieben hatte, hatte sie keine Ahnung gehabt.

Und irgendwann hatte Lauren aufgehört, ihr zu schreiben.

„Ich... Ich wohne mit Izzy jetzt bei... meinem Vater", begann sie unbeholfen und Lauren zog die Augenbrauen hoch.

„Wow, das ist... Wie geht es dir damit?"

Sie lachte nervös auf. „Naja, am Anfang war es ziemlich seltsam. Es ist immer noch seltsam, aber... es ist schon okay. Besser als früher."

„Was ist mit deiner Mom?"

„Klinik. Aber nicht mehr lange. Ihre Krankenversicherung läuft bald aus und ich weiß nicht, ob..." Sie stieß den Atem aus. Eigentlich hatte sie Lauren nicht hier her beordert, um ihre Probleme bei ihr abzuladen. „Tut mir leid, ich bin heute ein bisschen durch den Wind."

Lauren schüttelte ruhig den Kopf. „Rede weiter, ich hör dir zu. Dafür sind wir doch hier, oder? Um zu reden. Wie geht es Izzy?"

Ein Kellner, den sie früher nie hier gesehen hatte, brachte ihr Getränk und fragt, ob sie etwas essen wollten, aber ihr war vor Aufregung ganz schlecht und Lauren schüttelte lächelnd den Kopf.

„Wir melden uns, wenn wir etwas brauchen", sagte sie und der Kellner verschwand. „Also? Izzy?"

Sie erzählte Lauren, dass Izzy wieder weggelaufen war. Dass sie mit Justin eine Woche lang weggewesen war. Und dann erzählte sie, dass es erst vor kurzem wieder passiert war, Izzy aber zum Glück noch am selben Abend wieder gekommen war, aber Izzy Andrew -ihren Stiefbruder- geküsst hatte und sie einfach nicht mehr an sich heranlassen wollte, dass sie in Mathe eine Klasse übersprungen hatte, aber alle an der Schule nun dachten, dass Izzy mit ihrem Mathelehrer schlief und-

Sie war überrascht, dass Lauren der Geschichte überhaupt folgen konnte, weil sie erzählte, was auch immer ihr ins Gedächtnis sprang und ausgesprochen werden wollte.

„Hannah", sagte Lauren irgendwann. „Meinst du nicht, dass du vielleicht in Betracht ziehen solltest, dass Izzy... du weißt schon."

„Nein, weiß ich nicht", wehrte sie ab. „Ich finde es völlig normal, dass Izzy... vielleicht manchmal nicht weiß, wo ihr Platz in dieser Welt ist. Aber das wüsstest du auch nicht, wenn du in ihrer Haut stecken würdest." Die Dinge, die Izzy schon hatte durchmachen müssen mit ihrer Mom und in der Schule, vor denen sie sie nicht hatte beschützen können...

Lauren nickte. „Das musst du wissen. Und wie geht es dir?"

„Weiß nicht. Wenn meine Mom wieder draußen ist, dann kommen Izzy und ich wahrscheinlich wieder zu ihr." Sie lachte auf. „Oder auch nicht und wir kommen ins Kinderheim oder zu Pflegeeltern, wenn das Gericht befindet, dass Mom sich nicht um uns kümmern kann. Es bleibt spannend."

In Laurens Augen stand tiefes Mitgefühl. „Das klingt alles ziemlich beängstigend. Das tut mir leid."

„Mir tut es leid", seufzte sie und sah ihrer Freundin in die Augen. „Es tut mir leid, dass ich dich so ausgeschlossen habe aus meinem Leben. Ich... Ich wusste einfach nicht, was ich sagen soll. Da war einfach so viel Neues und-"

„Das Alte hatte keinen Platz mehr", lächelte Lauren traurig.

„Nein, so ist es nicht."

„Du musst dich nicht erklären. Auch nicht rechtfertigen. Ich hätte nur gerne gewusst, warum du dich plötzlich nicht mehr gemeldet hast... Du hättest einfach sagen können, dass du dafür im Augenblick keinen Kopf hast, das hätte ich verstanden. Aber ich dachte die ganze Zeit, dass... dass es daran liegt, dass..."

„Dass was?"

„Dass du nicht mehr eislaufen kannst", sagte Lauren leise. „Dass Benny und Cole und ich es einfach so weiter machen."

Lauren hatte nicht unrecht. Das war bestimmt auch ein Mitgrund gewesen. Ein Grund, warum sie es so lange hinausgezögert hatte, ihrer Freundin zu schreiben, gar an sie zu denken. Weil sie Angst gehabt hatte, dass das Eislaufthema früher oder später auftauchen würde und sie nicht einschätzen konnte, was es mit ihr machen würde, wenn Lauren von den Trainings und Wettbewerben redete. Ob sie neidisch sein würde. Ob sich tief in ihr vielleicht sogar etwas Schlimmeres als Neid auftun würde: Hass. Hass, weil ihre Freunde tun konnten, wofür sie gelebt hatte. Und sie wollte ihre Freunde nicht hassen, aber jetzt hatte sie nicht mehr das Gefühl, mit ihnen auf einer Ebene zu stehen.

„Wie geht es den beiden denn?", fragte sie, um der Frage auszuweichen.

Lauren trank einen Schluck von ihrem Sodawasser und pickte dann ein Minzblatt heraus, um darauf herum zu kauen.

„Naja, Cole ist eben... Cole. Immer noch der Beste von uns allen, aber seine neue Eislaufpartnerin kommt nicht an dich ran", zwinkerte Lauren, obwohl sie sich nicht sicher war, ob Lauren das nur sagte, damit sie sich besser fühlte. „Benny ist ziemlich sauer auf dich."

„Das glaubte ich dir aufs Wort", murmelte sie. Benny konnte nachtragend sein. Nein, er war nachtragend. Das war vielleicht der Grund, warum sie Lauren geschrieben hatte und nicht ihm. Benny war zwar einer der loyalsten Freunde, den man sich wünschen konnte, aber wenn man ihn verärgerte, hatte man den Teufel im Nacken kleben. Er verzieh nicht schnell.

„Hast du ihm gesagt, dass ich mich mit dir treffen wollte?"

Lauren schüttelte den Kopf. „Nein, ich dachte, das würde ihn nur noch wütender machen... Schon komisch, oder?"

„Was?"

„Dass man sich so schnell aus den Augen verliert, wenn man sich nicht automatisch jeden Tag in der Schule oder beim Eislauftraining sieht."

Sie nickte. „Aber ich hab nicht das Gefühl, dass sich zwischen uns eine Menge geändert hat", wagte sie vorsichtig zu sagen.

Lauren lächelte. „Das nennt man dann wohl eine echte Freundschaft."

*

Auf dem Weg nach Hause blieb sie an einem Drogeriemarkt stehen. Sie haderte kurz mit sich, doch dann ging sie hinein und kaufte zwei Packungen schwarze Haarfarbe.

Izzys Zimmertüre war offen, als sie vorsichtig gegen den Türrahmen klopfte, aber ihre Schwester hatte die Kopfhörer auf dem Kopf und saß mit dem Rücken zu ihr an dem Schreibtisch und zeichnete. Sie trat hinter ihre Schwester und sah ihr über die Schulter.

Ein Totenschädel mit Blumenkranz. Der Blumenkranz war leuchtend pink. Sie betrachtete die Zeichnung eine Weile und war fast verwundert darüber, wie gut ihre Schwester zeichnen konnte. Wie vertieft sie war. Wie sie ihren Kopf von links nach rechts und wieder nach links neigte, und die Stifte über das Papier gleiten ließ. Gleichzeitig wippte Izzy mit dem Fuß zum Tackt der Musik.

Irgendwann berührte sie Izzy an der Schulter und ihre Schwester fuhr zusammen und riss sich die Kopfhörer vom Kopf.

„Geht's noch? Du hast mich zu Tode erschreckt!", fauchte Izzy.

„Du lebst noch." Wenigstens schien sie wieder ganz die Alte zu sein. „Die Zeichnung ist gut", sagte sie, aber Izzy schob nur wortlos ein paar Mathehausaufgaben, das einzige, das sie für die Schule tatsächlich zu machen schien, über die Zeichnung.

„Was willst du?", fragte Izzy genervt und sie zeigte ihr die beiden Packungen mit der schwarzen Haarfarbe, die sie hinter ihrem Rücken versteckt gehalten hatte.

„Ich dachte, bei deinen Haaren brauchen wir vermutlich zwei."

Izzy starrte erst die Haarfarbe an, dann ihre große Schwester und schließlich schüttelte sie den Kopf. „Ich will mir die Haare nicht färben."

Sie ließ die Packungen sinken, völlig irritiert über Izzys plötzlichem Desinteresse. „Du hast mich an Weihnachten gefragt, ob ich dir die Haare schwarz färbe."

„Und jetzt will ich es eben nicht mehr! Darf ich meine Meinung nicht ändern?" Für einen kurzen Augenblick sah sie etwas in Izzys Augen aufblitzen. Es war Wut, aber Izzy war nicht wütend auf sie. Sie war wütend auf sich selbst.

„Das hättest du mir sagen können, bevor ich die Packungen gekauft habe."

„Ich hab dich nie darum gebeten. Vielleicht hättest du vorher fragen sollen."

Seufzend stellte sie die Packungen auf Izzys Schreibtisch ab, lehnte sich mit hinter dem Rücken verschränkten Händen gegen Izzys Kleiderschrank und sah auf ihre kleine Schwester hinab.

Noch hatten sie nicht darüber geredet.

„Willst du mir erzählen, was da am Dienstag zwischen dir und Andrew passiert ist?", fragte sie vorsichtig und lehnte sich gegen den Kleiderschrank.

„Nein."

„Na, schön. Wenn du es dir anders überlegst, weißt du, dass du immer zu mir kommen kannst, ja?"

Izzy schnaubte, setzte sich die Kopfhörer wieder auf und drehte sich zurück zum Schreibtisch, holte aber ihre Zeichnung nicht mehr hervor und sie war sich sicher, dass sie das auch nicht tun würde, solange sie neben ihr stand, also verließ sie ihr Zimmer.

*

Als sie am nächsten Tag in der Schule war, hatte sie das Gefühl, dass sie niemand beachtete. Nicht auf eine schlechte Art, denn für ihren Geschmack war sie in letzter Zeit ohnehin zu oft in der Schule seltsam angesehen worden, vielleicht war durchgesickert, dass sie Jason an Silvester geküsst hatte. Oder die Gerüchteküche hatte sich hochgeschaukelt und alle dachten, dass Mia deshalb nicht mehr mit ihr redete, weil sie sie dabei erwischt hatte, wie sie und Jason auf dem Küchentisch gevögelt hatten, oder weil sie einen flotten dreier mit beiden von Mias Brüdern gehabt hatte, oder-

Sie wollte an der Stelle gar nicht weiter denken, es wurde zu abartig.

Aber an diesem Tag schien sich niemand für sie zu interessieren.

„Ich hab meinen Status verloren", sagte sie in einer Freistunde zu Izzy, die den Biologieunterricht schwänzte und hinter dem Schulgebäude bei den Mülltonnen herumlungerte. „Von Hure, die ihre beste Freundin hintergangen hat, zu Hure, die allen egal geworden ist. Ist das ein Aufstieg oder ein Abstieg?"

Izzy bließ den Rauch ihrer Zigarette unbeeindruckt in die Luft.

„Du rauchst mich an", beschwerte sie sich.

„Dann stell dich auf die andere Seite. Ich kann dir sagen, warum du niemanden mehr juckst."

Sie rechnete mit einer fiesen, bissigen Izzy-Erklärung, während sie sich auf Izzys andere Seite stellte, aber in dem Augenblick drehte der Wind und der Rauch klatschte ihr wieder brutal ins Gesicht, so dass sie kaum atmen konnte. „Erleuchte mich."

Izzy zog nochmal an der Zigarette, während sie den Blick Richtung Himmel gerichtet hatte. „Hao und Mia sind nicht mehr."

Sie zog die Augenbrauen zusammen. „Sind nicht mehr was?"

„Zwei Bohnenstangen, was glaubst du denn? Zusammen. Sie sind kein Paar mehr, die haben sich getrennt."

Sie setzte sich auf den Boden neben Izzy und versuchte, den Zigarettenqualm zu ignorieren. „Und woher weißt du das?"

„Weil zwei Mädchen aus meinem Mathekurs die ganze Stunde darüber geredet haben, dass Hao wieder auf dem Markt ist. Warum steht eigentlich jedes Mädchen auf ihn?"

„Muss an den Karten liegen", sagte sie tonlos und versuchte zu begreifen. „Hao und Mia haben Schluss gemacht? Wieso?"

Izzy zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Aber jetzt rasten alle Typen aus, weil Mia wieder frei ist und alle Mädels, weil Hao wieder frei ist." Izzy sah sie von der Seite an. „Willst du dich nicht auch einreihen?"

„Ha ha."

„Ich würd's machen", sagte Izzy schulterzuckend. „Wenn Mia meine Freundin gewesen wäre und mich so behandelt hätte, wie sie dich behandelt hat, dann würde ich mit ihrem Ex in die Kiste steigen."

Sie rollte mit den Augen. Redselig war Izzy manchmal anstrengender, als wenn sie die Klappe hielt. „Färbst du mir heute die Haare?"

„Jetzt entscheide dich aber Mal!", schimpfte sie.

„Hab ich doch gerade!"

Als sie Hao in der Pause vor der fünften Stunde auf dem Flur sah, sprintete sie ihm fast schon hinterher, und hielt ihn auf dem Flur auf, bevor er ins Klassenzimmer gehen konnte.

„Hey, warte Mal eine Sekunde!"

Er drehte sich überrumpelt zu ihr, ließ sich aber kurz beiseite ziehen. Sie umfasste den Riemen ihrer Tasche fester. „Ich will wirklich nicht mit der Tür ins Haus fallen, aber wir haben nur noch drei Minuten und ihr wart doch glücklich, oder?"

Hao entfuhr ein halb amüsiertes, halb trauriges Lachen, als er begriff, wovon sie redete.

„Warum habt ihr Schluss gemacht?"

Ich hab Schluss gemacht", korrigierte er.

„Wieso?"

Er rieb sich den Nacken. „Ich... Das was Mia da abzieht ist einfach scheiße."

„Wovon redest du?"

„Die ganze Sache mit dir. Auch die Szene beim Mittagessen letztens." Er zog die Augenbrauen zusammen und das ließ sein so zartes und glattes Gesicht viel erwachsener wirken. „Ich will einfach nicht mit jemandem meine Zeit verbringen, der eine Freundin so mies behandelt."

„Aber zwischen euch war doch alles okay."

„Aber zwischen euch nicht", sagte er mit ernstem Gesichtsausdruck. „Es ist kindisch, wie sie sich verhält, und ich kann es nicht verstehen. Du hast nichts falsch gemacht. Zumindest nicht so falsch, dass sie so mit dir umspringen dürfte. Und ich kann nicht auf ihrer Seite sein, wenn ich eigentlich auf deiner bin." Er zuckte mit den Schultern und lächelte schuldbewusst. „Du bist eben auch meine Freundin."

„Und du bist verrückt." Sie schüttelte den Kopf. „Wegen mir mit Mia Schluss zu machen. Das hättest du nicht tun sollen."

„Es war nicht wegen dir", sagte er und bewegte sich auf das Klassenzimmer zu. „Es war nur wegen ihrem Verhalten."

Trotzdem fühlte sie sich den restlichen Tag noch viel schuldbewsster und sie beobachtete Mia, die mit abwesendem Blick im Unterricht saß und obwohl ihr Make-up und ihr Outfit tadellos wie immer aussah, fehlte etwas.

Sie freute sich auf zu Hause, aber als sie, Izzy und Andrew in die Küche kamen, saß eine Frau mittleren Alters mit Adam und Julia am Küchentisch. Es brauchte einen Augenblick, bis sie sie zuordnen konnte, aber dann erinnerte sie sich daran, dass es dieselbe Frau war, mit der sie damals zwei oder drei Mal gesprochen hatte, als ihre Mom in die Psychiatrie verwiesen und der Richter beschlossen hatte, sie und Izzy für die Dauer von Moms Aufenthalt in der Klinik bei Adam und Julia unterzubringen, sie glaubte jedoch, dass Adam und Julia mit dieser Frau wesentlich mehr zu tun gehabt hatten, als sie, denn sie saßen recht vertraut beieinander, Adam und die Frau, die irgendwie in die ganze Sache verstickt war, mit einem Kaffee und Julia mit einer Tasse Tee.

Sie bemerkte die angespannte Atmosphäre sofort und rückte unbewusst ein bisschen näher an ihre Schwester heran.

„Hannah. Isobel. Wir haben auf euch gewartet", lächelte die Frau, aber es war kein warmes Lächeln. Für einen Moment traf ihr Blick Adams, aber sie wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, sie wusste nur, dass es um ihre Mom gehen musste.

„Drew", sagte Julia, stand auf und nickte mit dem Kopf die Treppen hinauf.

„Wieso? Wenn es spannend ist, will ich es auch wissen", erwiderte er trotzig und Julias Blick wurde strenger. Schließlich gab er nach und trottete die Treppen hinauf. Julia folgte ihm.

Sie wünschte sofort, dass die beiden noch da geblieben wären. Fünf Minuten, damit sie sich noch ein wenig darauf hätte vorbereiten können, was gleich passieren würde.

„Setzt euch", lächelte die Frau, deren Namen sie völlig vergessen hatte. Vielleicht etwas mit einem W?

Sie fand, dass die Frau auf jeden Fall wie eine Wendy aussah, mit ihren blonden, dichten Locken, die ihr nur knapp unters Ohr reichten, dem runden Gesicht und der Brille mit der bernsteinfarbenen Fassung.

Diese Frau war eine Wendy.

Sie und Izzy setzten sich nebeneinander an den Tisch und blickten abwartend zu Wendy.

Wendy räusperte sich. „Vielleicht habt ihr es mitbekommen: Eure Mutter ist vor vier Tagen aus der Klinik aufgrund ihrer auslaufenden Krankenversicherung entlassen worden."

„Vor vier Tagen?", hakte sie überrascht nach und Wendy nickte.

„Hat eure Mutter versucht, euch zu kontaktieren?"

Sie warf einen Blick zu Izzy und Izzy erwiderte den Blick mit einem leichten Kopfschütteln. „Nein", sagte sie dann, als sie sich wieder zu Wendy drehte.

Wendy legte die Hände auf den Tisch. „Nun, da euer Onkel eure alte Wohnung wieder übernommen hat, wurde eurer Mutter eine Einzimmerwohnung zur Verfügung gestellt. Und der Deal mit dem Richter ist nach wie vor, dass sie euch nur dann wieder zu sich holen darf, wenn sie eine eigene Wohnung und eine Arbeit gefunden hat. Sie hat einen Sozialarbeiter zugeteilt bekommen, der ihr helfen soll, sich wieder zurecht zu finden, und hätte vor zwei Tagen ihren ersten Termin bei ihm gehabt."

Wendy sah sie so erwartungsvoll an, dass ihr unter ihrem Blick ganz mulmig zumute wurde.

„Und? Weiter?"

Wendy seufzte. „Anstatt zu dem Termin zu erscheinen, hat eure Mutter Adam kontaktiert." Wendy sah zu Adam, der ihren Blick mied. „Eure Mutter hat ihn angerufen und... aufgebracht gefragt, wo ihr seid. Sie hat verlangt, dass man euch ihr zurückgibt."

Sie tauschte einen düsteren Blick mit Izzy, die vermutlich dasselbe dachte wie sie.

„Aber ich wiederhole: Eure Mutter darf euch nicht wieder zu sich holen, solange sie nicht für ein stabiles Umfeld sorgen kann."

Izzy versteckte ihr bitteres Lächeln hinter ihrer Faust.

Sie sah Wendy in die Augen und glaubte, hinter ihren Worten etwas Versicherndes zu hören. Etwas, das ihr die Angst nehmen sollte und sie fragte sich, ob Jason recht gehabt hatte. Ob Wendy oder das Jugendamt tiefer gegraben hatten, als sie sich das wünschen würde.

„Okay", nickte sie so entspannt wie möglich. Sie war sich unsicher, wie sie reagieren sollte, so dass sie sorglos wirkte. Sollte sie sich freuen? Vor Glück jubeln und in Tränen ausbrechen?

„Hannah", seufzte Wendy und Adam lehnte sich angespannt in seinem Stuhl zurück.

„Was ist denn?" Sie schüttelte halb verständnislos, halb ungeduldig den Kopf.

Wendys Blick war eindringlich und machte ihr Angst. „Gibt es einen Grund für mich zu glauben, dass eure Mutter einen sehr unvernünftigen Weg einschlagen könnte, um euch zu sich zurück zu holen?"

Izzy bewegte sich neben ihr, hielt ihren Mund aber immer noch verdeckt. Sie glaubte, aufkeimende Hysterie in den Augen ihrer kleinen Schwester zu sehen. Vielleicht würde gleich ein verrücktes Lachen ihre Kehle verlassen.

„Ich weiß nicht, was Sie von mir hören wollen."

„Ich möchte wissen, ob ich mir Sorgen machen muss."

„Worüber?"

„Worüber auch immer ihr denkt, dass ich mir Sorgen machen müsste", sagte Wendy nachdrücklich.

Izzys Blick klebte an ihr und sie sah, wie sehr Izzy sich das Lachen verbeißen musste. Sie hätte Wendy gerne erzählt, dass sie ihre Mom nicht einschätzen konnte. Dass niemand das konnte, weil sie krank war und ihre Medikamente nie länger als eine Woche nahm, weil sie entweder vergaß, oder blauäugig genug war, um zu denken, dass sie sie nicht brauchte.

Und wenn sie Adam so ansah, dann wusste er das ebenfalls. Er wollte es nur nicht selbst aussprechen.

Aber wenn sie es gesagt hätte, hätte sie eine Lawine losgetreten und das konnte sie nicht verantworten, denn die Konsequenzen dieser Lawine konnte sie nicht abschätzen. Vielleicht würden am Ende dieser Lawine Izzy und sie voneinander getrennt werden und das wollte sie keinesfalls riskieren.

Also schüttelte sie den Kopf.

„Nein."

Spät in der Nacht, als sie nicht schlafen konnte, wollte sie sich noch einen Tee kochen und bemerkte, dass Julia in der Küche saß.

„Kannst du auch nicht schlafen?", lächelte Julia, die im Schlafanzug die Hände um eine Tasse Tee gelegt hatte. Sie setzte sich zu ihr an den Küchentisch und Julia stand ohne zu fragen auf, um ihr ebenfalls eine Tasse einzuschenken.

„Machst du dir auch Gedanken?", fragte Julia, stellte ihr das, was dem Geruch nach Minztee war, auf ihren Platz und setzte sich wieder.

„Wieso auch? Machst du dir welche?"

„Natürlich", gab Julia ehrlich zu und während es ihr unangenehm war, über ihre Sorgen zu reden, schien Julia es als befreiend zu empfinden, denn sie redete sofort weiter. „Die ganze Situation geht nicht einfach spurlos an mir vorbei, Hannah. Ich hab euch zwei wirklich gerne hier. Und ich durfte euch in den letzten Monaten kennen lernen."

Sie musste schmunzeln. „Obwohl Izzy keinen Ton von sich gibt?"

Julia lachte leise. „Oh, Izzy kenne ich natürlich bei weitem nicht so gut, wie dich, aber sie hat mir viel mehr über sich verraten, als sie das vielleicht wollte." Julia trank einen Schluck und ihr Gesichtsausdruck wurde sanft. „Izzy ist die Personifikation von harte Schale, weicher Kern. Und je weicher der Kern, desto härter die Schale."

Sie fand, dass Izzy einen nervigen Kern hatte, weiter nichts. Obwohl ihre kleine Schwester sie am Vormittag gefragt hatte, ob sie ihr die Haare färben wollte, hatte Izzy sie am Nachmittag völlig verständnislos angesehen, als sie im Badezimmer alles vorbereitet hatte.

„Ich hab's mir anders überlegt", hatte Izzy im Vorbeigehen gesagt und sie hätte ihre Schwester erwürgen können.

„Gib zu, dass du schon Mal versucht hast, Tee aus Weihwasser für Izzy zu kochen."

Julia lachte. „Habe ich nicht."

„Hat es dich nie genervt, wenn sie weggelaufen ist? Dass sie nicht redet? Sich nie bedankt für das, was ihr für uns tut?"

Julia dachte einen Augenblick lang nach. „Es hat mich stutzig gemacht. Ich dachte erst, dass sich das nach ein paar Tagen legen würde, aber deine Schwester ist wirklich ein harter Brocken. Die lässt niemanden so leicht an sich ran."

Sie nickte. „Ja, erzähl mir was Neues."

„Hattet ihr früher ein gutes Verhältnis zueinander?"

„Es ist immer noch nicht schlecht", räumte sie ein. „Aber ja. Früher war es besser. Ein bisschen zumindest."

Julia seufzte lächelnd. „Egal, wie schwierig es mit Izzy manchmal ist, ihr werdet mir fehlen."

Sie sah unsicher auf und hatte plötzlich das Gefühl, das dieses Gespräch mehr einem Abschied glich. „Wirklich?"

Der Blick in Julias Augen wirkte überrascht. „Ja. Natürlich."

Sie senkte den Blick wieder, weil ihr Tränen in die Augen stiegen und ihre Unterlippe zu zittern begann.

„Hannah", sagte Julia leise und sie schlug sie eine Hand vor die Augen, weil sie die Tränen nicht zurückhalten konnte.

Julia wartete.

Als sie es wieder schaffte, sich zusammen zu reißen, sagte sie: „Ich fühle mich einfach grauenhaft..."

„Weswegen denn?"

„Wegen allem." Sie kniff die Augen zusammen. „Weil ich nicht zu unserer Mom zurück will. Und dieser Gedanke ist so schrecklich, welche Tochter sagt so etwas? Nur eine furchtbare Tochter! Und Adam und ich haben noch immer kaum ein Wort gewechselt, seit ich hier bin und ich habe das Gefühl, dass er mich gar nicht hier haben will! Und du bist viel zu freundlich und ich mag dich viel zu sehr und ich kann mich nicht genug bedanken und ich will hier nicht weg." Die letzten Worte hatte sie kaum noch aussprechen können, so sehr weinte sie. Julia stand auf, umrundete den Tisch und schloss sie in ihre Arme.

Sie wollte noch so vieles sagen. Dass es ihr leidtat, dass Mia sauer auf sie war, dass Hao mit Mia ihretwegen Schluss gemacht hatte, dass sie sich so lange nicht bei ihren Freunden gemeldet und sie so wütend gemacht hatte, dass Izzy anscheinend glaubte, ihrer großen Schwester nicht mehr vertrauen zu können...

All das kletterte in diesem Augenblick in ihrer Brust hoch und Julia hielt sie, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Dann kniete Julia sich vor sie, strich ihr über die feuchten Wangen und sah sie eindringlich an.

„Warum möchtest du nicht zu deiner Mutter zurück? Willst du mir davon erzählen?"

Sie schüttelte sofort den Kopf. Das schaffte sie nicht mehr, wenn sie heute noch eine ruhige Nacht haben wollte.

„Okay", wisperte Julia geduldig. „Aber glaub mir bitte: Du schuldest mir und Adam gar nichts, wir haben euch beide sehr gerne hier."

Sie konnte nicht anders, als halb hysterisch, halb bitter aufzulachen und wieder liefen ihr ein paar Tränen über die Wange, aber diesmal wischte sie sie selbst fort.

„Adam kann mich kaum ansehen", schniefte sie kalt. Es war lange her, dass sie ihre Emotionen so ungefiltert, so rein und unverändert gefühlt und ausgesprochen hatte. Julia hatte zwar gemeint, sie kannte sie, aber die meiste Zeit war sie ja auch gut gelaunt.

Oder versuchte zumindest, gut gelaunt zu sein. Weil es leichter für alle anderen war, als das hier.

„Adam...", seufzte Julia. „Adam ist kein Mensch, der gut und gerne kommuniziert. Das war er nie. Und euch hier zu haben ist das Schrecklichste und Beste, das ihm hätte passieren können." Sie antwortete nicht. Sie konnte es nicht, sondern starrte nur in ihre Teetasse, und kaute an ihrer Unterlippe herum. „Er fühlt sich schuldig, dass er damals gegangen ist, aber ich glaube nicht, dass er ganz und gar freiwillig gegangen ist. Ich kenne eure Mutter nicht und ich werde mir nicht anmaßen, ihr zu unterstellen, dass sie versucht hat, euch von ihm fernzuhalten. Aber er hat mir nie erzählt, was damals passiert ist."

„Er ist gegangen."

„Er ist gegangen", stimmte Julia ihr zu. „Und wenn du wissen möchtest, wieso, wird er dir darauf bestimmt eine Antwort geben."

„Warum sollte er mit mir darüber reden, wenn er es mit dir nicht getan hat?"

Julia lächelte. „Du redest mit mir doch auch gerade über etwas, über das du mit niemandem sonst redest, oder irre ich mich?"

Julia schien einen sechsten Sinn für solche Dinge zu haben.

„Ich bin seine Frau, du bist sein Kind, da ist ein gewaltiger Unterschied." Julia drückte ihre Knie. „Und was deine Schwester angeht: Adam hatte schon einen sturen, komplizierten Teenager, den er von sich überzeugen musste, weil er nicht sein richtiger Vater war. Mit Isobel in derselben Situation zu stecken, frustriert und überfordert ihn einfach ein wenig. Und Isobel ist noch Mal einen deutlichen Level schwieriger, als Andrew es war." Sie schluckte. „Geh auf ihn zu. Er kann das einfach nicht von sich aus tun, er hat nie den ersten Schritt gemacht, wenn es um Gefühle ging. Du kannst das sehr gut. Ich verspreche dir, dass er dich nicht zurückweisen wird."

Sie rieb sich mit dem Ärmel ihres langärmligen T-Shirts die Nase.

„Ich weiß nicht..."

„Lass dir Zeit. Schlaf eine Nacht drüber, oder mehrere. Und du kannst immer zu mir kommen, wenn dich etwas bedrückt. Geht dir sonst noch etwas im Kopf herum, worüber du reden möchtest?"

Es gab vieles, aber sie war müde. „Nun... vielleicht eine Sache, aber jetzt kommt es mir richtig blöd vor."

Julia lächelte. „Frag nur."

„Bekommt ihr... bekommt ihr eigentlich Geld? Dafür, dass wir hier bleiben, meine ich." Diese Frage wurmte sie schon seit langem.

„Für dich nicht, weil du Adams leibliche Tochter bist. Für Isobel bekommen wir etwas, obwohl wir keine offiziellen... Pflegeeltern sind, wenn du so willst. Mach dir darüber bitte keine Gedanken. Wir werden nicht plötzlich ohne Dach über dem Kopf dastehen, nur weil ihr bei uns seid. Versprochen. Wir haben wirklich großes Glück in der Hinsicht."

Es fühlte sich furchtbar an, dieses Glück auszunutzen. „Hättet ihr Izzy auch aufgenommen, wenn ihr kein Geld für sie bekommen hättet?"

„Natürlich", sagte Julia sofort beschwichtigend. Dann legte sie studierend den Kopf schräg. „Du hast Angst von deiner Schwester getrennt zu werden, oder?"

Sie nickte. Das Schlimmste, das ihre Mom ihr hatte antun können, war, wenn sie die beiden auf getrennte Zimmer gesperrt hatte, wenn sie wütend gewesen war. In diesen Momenten hatte sie immer Angst um Izzy gehabt. Sie hatte sich gefühlt, als hätte ihre Mom ihr die Möglichkeit genommen, Izzy zu beschützen. Und an manchen Tagen glaubte sie, dass ihre Mom das nur allzu gut gewusst hatte.

„Ich sollte schlafen gehen", sagte sie und trank die ganze Tasse in einem Zug leer. Julia stand auf.

„Dann schlaf gut."

„Du auch."

Obwohl sie nicht geglaubt hatte, nach diesem Gefühlsausbruch gut schlafen zu können, schlief sie in dieser Nacht wie ein Baby. Vielleicht, weil sie sich zu Izzy ins Bett gelegt und ihre Arme um sie geschlungen und Izzy sich im Halbschlaf an sie gekuschelt hatte.

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