41
Sie konnte sich noch genau an das erste Mal erinnern, als sie dafür bezahlt worden war, mit einem Kerl zu schlafen.
Es war auf einer Party in einem recht verfallenen, umzäunten Fabrikgelände gewesen. Sie waren mit ihren Rucksäcken über die Drahtzäune geklettert, hatten in einer der großen Hallen den mitgebrachten Alkohol auf einem verstaubten Gerät, das vielleicht eine Trocknermaschine war, abgestellt und an den Wänden zu sprayen begonnen. Nach und nach waren mehr Leute dazugekommen, bis sie bis sie bestimmt fünfzig Köpfe gewesen waren. Jemand hatte sogar Soundboxen mitgenommen.
Gegen Mitternacht hatte sie mit Justin an der Wand gegenüber ihrer gesprayten Kunstwerke gesessen, sie betrachtet und Bier getrunken, obwohl Bier nie wirklich ihr Lieblingsgetränk gewesen war.
Sie war sich nicht ganz sicher, wie alt sie gewesen war. Vielleicht zwölf oder dreizehn. Justin hatte ihr immer gesagt, dass sie locker als achtzehn durchgehen könnte und vermutlich stimmte das sogar, denn fremde Leute behandelten sie nur selten wie ein Kind. Riley hatte gemeint, dass es an ihrem ernsten Gesicht und den großen Brüsten lag.
An diesem Abend hatte sie sich an Justins Schulter gelehnt, um ihr Bild -das ein weinendes Gesicht, das sowohl das eines Jungen als auch das eines Mädchens hätte sein können- aus einer anderen Perspektive zu betrachten, als ihr zwei lange, dünne Beine die Sicht versperrt hatten.
Ein schlaksiger Typ mit blonden Haaren, die er im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden und bestimmt seit längerem nicht mehr gewaschen hatte, hatte auf sie herabgeblickt und sie gemustert, während er seinen Joint geraucht hatte.
Sie hatte sich näher an Justin gedrückt.
„Deine?", hatte er an Justin gerichtet gefragt.
„Vielleicht", hatte Justin erwidert. „Wieso?"
Der Typ hatte an dem Joint gezogen und den Rauch in ihre Richtung geblasen. „Wie viel kostet die Kleine?"
„Wie viel sie kostet?", hatte Justin ungläubig erwidert und sie war erleichtert gewesen, dass seine Reaktion so abweisen ausgefallen war. Auf manchen Suicide-Partys hatte sie schon auf Menschen getroffen, die für Geld mit anderen Menschen Sex gehabt hatten und sich deshalb das Leben nehmen wollten. Das hatte sie nie ganz verstanden. Sex war nichts Furchtbares und Geld war toll, warum hätte man sich deshalb umbringen wollen, anstatt es einfach weiter zu machen?
Sie hatte dabei außer Acht gelassen, dass diese Menschen vermutlich nicht nur mit gutaussehenden, witzigen Justin's Sex gehabt hatten, sondern vielleicht auch Mal mit dem einen oder anderen Danny.
In dem Moment, in dem der Pferdeschwanztyp sie so lüstern gemustert hatte, hatte sie ganz gut nachvollziehen können, warum manche Menschen deshalb eine Überdosis verpasst hatten.
„Komm schon, Alter, nenn mir einen Preis."
„Ich bin nicht dein Alter." Sie hatte sich verdrücken wollen, aber Justin hatte sie an der Hand festgehalten und den Typen nachdenklich gemustert. „Wie viel bietest du mir denn?"
„Spinnst du?", hatte sie gefragt, aber er hatte nicht reagiert.
Pferdeschwanz hatte in seinen Taschen gekramt und war dabei gewankt. Mühsam hatte er das Geld gezählt.
„Ich hab vierundzwanzig Mäuse."
„Hm. Dafür kannst du sie dreißig Minuten haben", hatte Justin gegrinst und sie hatte sich losgerissen, war aufgestanden und die zwei Vögel alleine gelassen. Justin hatte sie eingeholt.
„Was ist denn los?", hatte er ahnungslos gefragt.
„Was los ist? Ich will nicht mit irgendeinem Kerl für Geld schlafen. Hast du sie noch alle?"
„Vierundzwanzig Mäuse, Iz. Der Kerl ist doch so zu, der bekommt nicht mal einen hoch, komm schon", hatte er geraunt und sich umgesehen, als hätte er Angst davor gehabt, ihnen könne jemand zuhören.
Für sie waren vierundzwanzig Mäuse viel gewesen. Es war mehr gewesen, als ihre Mutter wegen ihrer Ersparnisse wöchentlich für Essen hatte ausgeben können.
„Mir gefällt der Typ nicht. Er ist ekelhaft."
„Du musst ihn ja nicht ansehen", hatte er erwidert, sie zu dem kaputten Trocknergerät mit dem Alkohol gezogen und ihr einen Becher zur Hälfte mit Gin gefüllt. Dann hatte er Tonic Water oben drauf gegossen.
„Hier. Trink das. Nach dem Zeug sieht der Kerl aus wie Brad Pitt."
„Wie wer?", hatte sie gefragt, aber er hatte ihr den Becher bereits in die Hand gedrückt und an den Mund geführt.
„Vertrau mir. Vierundzwanzig Dollar", hatte er eindringlich wiederholt, als sie getrunken und gehustet hatte, weil der Gin in ihrem Hals gebrannt hatte wie Feuer. „Überleg mal, was wir damit kaufen könnten."
Nach langem hin und her und Justins Argumenten hatte sie sich breitschlagen lassen und war mit dem Pferdeschwanz nach draußen verschwunden. Es war dunkel gewesen und sie hatten sich von der Scheune entfernt, um ungestört zu sein.
Er hatte keine Sekunde verstreichen lassen, denn als sie hinter einem Wellblechschuppen gewesen waren, hatte er ihr sofort die Zunge so tief in den Hals gesteckt, dass sie gewürgt hatte und widerlicher Weise waren ihr sofort die Erinnerungen an Danny gekommen und sie hätte sich kaum mehr vor diesem Kerl ekeln können.
Justins Vorhersagen waren zu allem Übel auch noch falsch gewesen. Der Pferdeschwanz hatte durchaus einen hochbekommen und er hatte wesentlich mehr Ausdauer als Justin gehabt. Alles in allem hatte sie bestimmt zwanzig Minuten mit ihm draußen verbracht und hatte seine schwitzigen, kalten Hände immer noch auf sich gespürt, als er längst wieder in das Gebäude hineingegangen war.
Einige Minuten war sie noch in der Kälte geblieben und hatte zitternd die Zeit verstreichen lassen, weil ihr Gehirn nicht in der Lage gewesen war, zu verarbeiten, was da gerade passiert war. Was sie getan hatte. Sie war zu erfüllt mit Scham gewesen, als dass sie zugelassen hätte, zu akzeptieren, dass sie gerade für Geld mit einem schmierigen Typen Sex gehabt hatte und hatte versucht, sich das Geschehene mit einer ganzen Menge Lügen schön zu reden.
Es war nicht so schlimm gewesen.
Sie hätte es nie getan, wenn sie es nicht tief im Innersten gewollt hätte.
Sie war keine Schlampe, sie hatte gerne mit ihm geschlafen, das Geld war nur ein Bonus.
Als sie so weit gewesen war, um diese Lügen beinahe selbst zu glauben, war sie wieder hineingegangen, hatte einen Wodkashot gekippt, um den ekelhaften Geschmack, der in ihrem Mund geklebt hatte, loszuwerden und hatte Justin gesucht, der zufrieden das Geld gezählt hatte. Er hatte sie gesehen und war breitgrinsend auf sie zugekommen.
„Und? War es so schrecklich? Sieh dir das an. Lauter Mäuse!"
„Können wir nach Hause?" Sie wäre selbst gegangen, aber Justin hatte sie auf seinem Motorrad mitgenommen.
„Warum machst du so ein Gesicht? Hier." Er hatte ihr ein paar Scheine in die Hand gedrückt. Sie hatte sie gezählt.
„Das sind nur zehn. Was ist mit dem Rest?"
„Ich hab das Ganze doch erst möglich gemacht, oder nicht?", hatte er gezwinkert. „Du bekommst vierzig Prozent, das ist doch nicht schlecht, oder?"
Sie war zu erschöpft gewesen, um zu diskutieren und hatte einfach nur noch in ihr Bett fallen wollen. Sie hatte nicht mehr darüber nachdenken wollen, warum sie was getan hatte und zu welchem Preis. Sie hatte duschen und dann schlafen gehen wollen.
Lange duschen und lange schlafen.
Nie mehr aufwachen.
„Wenn wir das öfter machen, werden wir reich!" Seine Augen hatten gestrahlt.
„Wie bitte?"
„Wir könnten Geld ansammeln und dann... dann wandern wir aus! Nach Puerto Rico oder so! Nur wir beide."
„Du spinnst doch. Ich mach das nie wieder!"
Sie hatte es wieder getan. Um genau zu sein, hatte sie es so oft getan, dass sie keine Zahl mehr wusste. Irgendwann hatte sie damit aufgehört, weil ihre Schmerzen beim Sex fast unerträglich geworden waren und ein Teil von ihr war ihrer Krankheit dankbar dafür. Sie war sich nicht sicher, ob der Scham und der Ekel, den sie für diese Menschen und sich selbst verspürte, genug gewesen wäre, um aufzuhören.
Doch nach diesem Streit war sie erst einmal von der Party davon gelaufen, hatte sich ein Taxi gerufen und war damit so weit gefahren, wie sie für zehn Dollar hatte fahren können. Das restliche Stück war sie zu Fuß gelaufen.
Was sie bis heute am schrecklichsten fand, war die Tatsache, dass sie an manchen Tagen selbst den Vorschlag gemacht hatte, mit jemandem für Geld zu schlafen. An Tagen, an denen sie so gut drauf war, dass sie dachte, sie könne die Welt umreißen, hatte ihr der Gedanke an Geld gegen Sex so gut gefallen, dass sie es sogar genossen hatte. Das Geld hatte sie sofort für neue Sprayfarbe, Junkfood und Schokolade verschleudert und sobald die Realität sie wieder mit ihrer Faust geschlagen hatte, war sie jedes Mal ein neues Tief gerutscht und sich geschworen, so etwas Widerliches, Abstoßendes, Entwürdigendes nie wieder zu tun.
Bis sie das nächste Hoch getroffen und mit sich gerissen hatte und sie wieder von einer verrückten Idee gepackt worden war.
Verrückte Ideen. Manchmal glaubte sie, dass ihr Gehirn nur zwei Extreme kannte. Die verrückten Ideen oder gar keine Ideen. Meist konnte sie ein paar Stunden vorher abschätzen, ob sich gerade eine verrückte Idee in sich zusammenbraute.
So wie heute. Sie wusste zwar noch nicht, welche Idee das genau sein würde, aber sie wusste, dass etwas in ihr zu brodeln begann, dass es wieder schlimm werden würde, aber sie hatte keine Angst davor.
Sie aß nicht oft in der Schule zu Mittag. In der Schule zu Mittag zu essen, war in etwa so stressig und angsteinflößend, wie in einen vollen Bus einzusteigen, wenn man gezwungen wäre, sich auf einen Platz zwischen ein paar wildfremden Menschen zu zwängen.
Gestern, als sie eine Freistunde gehabt hatte, war sie in die Bibliothek gegangen, um ihre Mathehausaufgaben zu erledigen und hatte ihre Schwester zwischen den Regalen am Boden sitzen und ein trocken aussehendes Sandwich essen sehen. Sie hatte kurz überlegt, ob sie sich zu ihr hatte setzen sollen, hatte aber gewusst, dass es Hannah unangenehm gewesen wäre, wenn sie sie dabei erwischt hätte, wie sie in der Bibliothek zu Mittag aß, anstelle mit ihren Freunden in der Kantine zu sitzen, also hatte sie es gelassen und auch nicht angesprochen.
Als sie an diesem Tag besagte Matheaufgaben auf Mr. Teakins Tisch legte und aus der Klasse gehen wollte, holte Lionel sie ein.
„Bevor du was sagst", begann sie, ohne sich zu ihm zu drehen. „Nein."
„Oh, gut, ich wollte nämlich fragen, ob du nicht mit mir ausgehen willst", erwiderte er triumphierend und schulterte seine Tasche.
„Ich hab wirklich keine Lust."
„Das kommt schon noch."
„Wie bitte?"
„Es braucht Zeit, bis man mich mag", behauptete er.
„Ich hab keine Zeit." Eigentlich hatte sie gehofft, ihn mit diesen Worten und ihren schnellen Schritten abgeschüttelt zu haben.
„Ich hab gehört, dass du Bücher magst."
Sie würde Hannah umbringen. „Wann hast du mit meiner Schwester geredet?"
„Vor ein paar Tagen."
„Und warum rennst du dann nicht ihr nach?"
Ihre Laune sank mit jedem Wort, das sie sagte, tiefer und tiefer.
„Wir könnten doch am Freitag nach der Schule in das kleine Buchcafé gehen", schlug er vor.
„Könnten wir nicht."
„Warum nicht?"
„Weil ich nicht möchte."
„Na gut", er zuckte mit den Schultern. „Ich werde dort sein, falls du es dir anders überlegst. So gegen vier."
Lionel sah sie mit einem Blick an, der fast besagte, dass er ihr Kommen doch erwartete, aber sie schüttelte nur genervt den Kopf und er und sein abgewetzter Rucksack verschwanden in der Schülermasse.
Hannah hatte an diesem Tag länger Unterricht als sonst, irgendein spezieller Kurs, der die nächsten drei Wochen jeden Dienstag stattfinden würde, oder so. Sie hatte nicht zugehört, als Hannah es gestern beim Abendessen verkündet hatte und es fiel ihr nur ein, weil Andrew alleine in seinem Wagen saß und auf sie wartete. Sie bemerkte, dass er wütend aussah und seine Lippen bewegten sich.
Als sie sich auf den Rücksitz schwang, wusste sie auch, wieso. Er telefonierte mit Abby über die Freisprecheinrichtung. Zumindest glaubte sie, dass es Abby war. Sie hatte dieses Mädchen nicht allzu oft gesehen, schon gar nicht ihre Stimme übers Telefon gehört.
Andrew fuhr los, bevor sie sich angeschnallt hatte und sie fluchte, weil er die Kurve so scharf und schnell und wütend nahm, dass sie sich wie ein Ping-Pong Ball fühlte.
Sie wusste, dass er zu schnell fuhr und er hielt vor einer roten Ampel so abrupt an, dass der Sicherheitsgurt in ihren Oberkörper schnitt.
„Geht's nicht noch ein bisschen schneller?", fauchte sie. „Die Polizei ist noch nicht auf uns aufmerksam geworden."
„Ist sie das?", brüllte das Mädchen, mit dem Andrew telefonierte.
„Nein, das ist Izzy."
„Das beantwortet nicht meine Frage!"
„Jetzt mach dich nicht lächerlich."
Sie setzte sich die Kopfhörer auf, aber die beiden stritten mit einer solch brennenden Leidenschaft, dass sie es trotzdem hören konnte.
„Du bist durch meine Sachen gegangen, dazu hattest du überhaupt kein Recht!", schimpfte er.
„Du hast mich gefragt, ob ich dir deine Trinkflasche bringen kann, ich dachte sie ist in deiner Sporttasche!"
„Ich schulde dir jedenfalls keine Erklärung!"
„Willst du mich verarschen?"
„Du hättest das nicht sehen sollen, es waren meine Sachen, du hattest kein Recht, es durchzusehen, also hast du auch kein Recht, danach zu fragen."
„Weil ich es nicht rausgefunden hätte, wenn ich nicht zufällig in deine blöde Tasche gesehen hätte, findest du, dass ich keine Erklärung dazu verdient habe? Du bist wirklich das größte Arschloch, das mir je untergekommen ist!"
Im Laufe des Gespräches erriet sie irgendwie, dass Abby wohl etwas in seinen Sachen gefunden haben musste, das einem anderen Mädchen gehörte. Abby war darüber mächtig sauer und Andrew sah nicht, was er falsch gemacht hatte und erwähnte bestimmt zehn Mal, dass sie in keiner festen Beziehung waren.
Irgendwann warf sie ihn aus der Leitung und er schlug kräftig aufs Lenkrad.
„Scheiße!"
Sie zog sich die Kopfhörer vom Kopf, ließ ihn kurz abkühlen und beugte sich neugierig zwischen den beiden Vordersitzen vor. Vielleicht kam ja jetzt die ganze Idiotie hervor, die sich den lieben langen Tag in ihr zusammen gebraut hatte.
„Was hat Abby denn gefunden?"
„Lass mich in Ruhe, du hast nichts gehört, kapiert?"
„Ich wünschte, ich hätte nichts gehört", erwiderte sie augenrollend. „Aber ich kenne jetzt neunundneunzig Prozent der Geschichte. Jetzt muss ich schon wissen, was sie da in deinen Sportsachen gefunden hat."
Er stöhnte. „Wieso?"
„Damit ich weiß, auf wessen Seite ich stehe."
„Du stehst auf Abbys Seite, du magst mich nicht einmal."
„Stimmt", nickte sie. „Du hast ja auch mit meiner Schwester geschlafen und dann fallen lassen wie eine heiße Kartoffel."
„Und? Du hast mit meinem besten Freund geschlafen."
„Nicht dasselbe", sagte sie entschieden.
Plötzlich war sie gut gelaunt und Andrew zu ärgern machte Spaß.
„Sag's mir", forderte sie.
„Hör auf, zu nerven."
„Nein."
Er beschleunigte an einer sicheren Stelle so ruckartig, dass sie zurück in ihren Sitz gedrückt wurde. „Bleib sitzen, oder ich fahre beim nächsten Mal gegen einen Baum", knurrte er.
Er fuhr etwas ruhiger weiter und starrte dabei grimmig gerade aus.
„War es Unterwäsche?", riet sie weiter.
„Wenn du möchtest."
„Was soll das denn heißen?"
„Es ist doch völlig egal, was es war. Das ändert nichts."
„War es ein Nacktfoto?"
„Von mir aus."
Zu Hause angekommen, fanden sie eine lauwarme Schale unangeschnittener Gemüselasagne auf dem Herd vor. Julia und April waren nirgends zu sehen, also nahmen sie sich zwei Teller und setzten sich mit der Lasagne an den Tisch.
„War es ein Sexspielzeug?"
„In Gottes Namen, hör auf zu fragen", flehte er kopfschüttelnd und ging nach oben ins Badezimmer, um seine Kontaktlinsen gegen seine Brille einzutauschen.
Sie sah ihm nach.
Vor ein paar Tagen hatte ihm der Wetterumschwung von arschkalt zu ein bisschen weniger arschkalt und der starke Wind ziemlich zugesetzt. Julia hatte es in der Zeit auch nicht leicht gehabt und gemessen an Aprils unaufhörlich gebrüllt hatte, hatte sie ebenfalls die Migräne ihrer Mutter geerbt.
Es hatte am Donnerstagabend angefangen, als Julia und Andrew fast zeitgleich Kopfschmerzen bekommen und vorsorglich schon einmal Schmerztabletten genommen hatten. In der Nacht hatte sie mitbekommen, dass Andrew sich übergeben hatte. Julia war zu ihm ins Bad gekommen und sie hatte durch den Türspalt ihres Zimmers hindurchgelinst und gelauscht und beobachtet, wie Julia und Adam durchs Haus gelaufen waren, bemüht, sie und Hannah nicht zu wecken, weil Andrew auf dem Badezimmerboden umgekippt war und zu schwer gewesen war, um von den beiden auf sein Zimmer getragen zu werden. Julia hatte vorgeschlagen, die Matratze einfach ins Bad zu schieben, aber das hatte Adam auf eine Idee gebracht, und er hatte die Couchdecke nach oben geholt, im Badezimmer auf dem Fußboden ausgebreitet und Andrew draufgerollt. Julia und er hatten die Decke jeweils an den Enden genommen und Andrew über den Boden auf sein Zimmer geschleift und aufs Bett gehievt. Als Julia wieder nach unten gegangen war, um eine Wärmflasche für Andrew zu machen und Adam im Badezimmer nach weiteren Schmerzmitteln gesucht hatte, hatte sie sich aus ihrem Zimmer geschlichen und war auf Andrews gegangen, das stockfinster gewesen war. Gespannt hatte sie sich hinter seinem Schreibtisch versteckt und dabei zugesehen, wie Adam ihm einen Kübel neben das Bett gestellt und Julia ihm die Wärmflasche, die noch kleiner gewesen war, als die Prinzessinenwärmflasche, die sie damals von Ethan bekommen hatte, in den Nacken gelegt hatte.
Adam war wieder ins Bett gegangen, aber Julia war bei Andrew geblieben und hatte ganz leise und sanft mit ihm geredet, wie eine richtige Mutter wohl mit ihrem Kind redete. Mit einem sehr kleinen Kind. Zumindest war es ihr so vorgekommen, aber in dieser Nacht hatte sie nichts in Andrew wiedererkannt, dass ihn zu Andrew machte.
Er hatte gewimmert, Dinge gesagt, die absolut keinen Sinn ergeben hatten, dass ein gewisser Grant gleich kommen würde und Julia weglaufen sollte -sie glaubte, dass er halluziniert haben musste- er hatte sich gewunden und sie war fasziniert davon gewesen, die Schmerzen einer Person zu beobachten, die so anders und so gleich gewesen sein mussten, wie ihre eigenen.
Irgendwann war er eingeschlafen, oder wieder ohnmächtig geworden und Julia hatte ihn auf die Stirn geküsst und das Zimmer verlassen.
Sie war die ganze Nacht lang wach gewesen und hatte bemerkt, wie unruhig er geschlafen hatte, welche verzweifelten, kindlichen Laute er von sich gegeben und wie er sich noch einmal übergeben hatte. Erst, als der Himmel wieder Farbe angenommen hatte war sie aus seinem Zimmer geschlichen und hatte sich in ihr eigenes Bett gelegt.
„Es war Make-up", sagte sie, als er zurückkam. „Sie hat Make-up in deiner Tasche gefunden. Und einen BH."
„Ich sagte doch, hör auf zu fragen", sagte er, als er sich wieder an den Tisch setzte.
„Es war ja auch keine Frage", erwiderte sie unschuldig.
„Hast du nichts Besseres zu tun, als mir auf die Nerven zu gehen?"
„Zum Beispiel?"
„Keine Ahnung. Willst du nicht auf den Spielplatz gehen und kleine Kinder erschrecken?"
Sie musste lachen und er sah sie so verstört an, dass sie noch mehr lachen musste. Warum war ihr nie aufgefallen, wie witzig Andrew war?
Er setzte sich auf die Couch und schaltete den Fernseher ein und sie setzte sich zu ihm.
„Hast du wirklich nichts zu tun?", wiederholte er mürrisch, aber sie gab nichts darauf. Eigentlich wollte sie ihn nur ansehen. Irgendwie sah er doch gar nicht so furchtbar aus, wie sie ihn die letzten Wochen und Monate wahrgenommen hatte. Je länger sie ihn so anstarrte, desto mehr wurde ihr bewusst, warum Hannah ihn so attraktiv gefunden hatte.
Irgendwann drehte er den Kopf zu ihr. „Wärst du so freundlich und könntest aufhören, mich anzustarren?", fragte er genervt.
Sie kniff die Augen ein wenig zusammen. „Du hast ein so perfektes Gesicht", sagte sie langsam, ohne den Blick von ihm abzuwenden.
Seine Augen wurden größer und unsicherer. „Was?"
„Es ist das schönste Gesicht, das ich je gesehen habe."
„Du machst dich gerne über mich lustig, oder?"
Sie machte sich nicht lustig über ihn. Er hatte wirklich ein perfektes Gesicht. Und seine Haare schienen danach zu lechzen, von ihr berührt zu werden. Ihr Puls beschleunigte sich.
„Was machst du da?", fragte er nervös und rückte ein Stück von ihr ab. Ihr war nicht bewusst gewesen, wie nah sie ihm gekommen war.
„Deine Haare sehen so weich aus-"
„Okay, du fängst an, mir Angst zu machen", sagte er und in seiner Stimme konnte sie echte Besorgnis hören. Sie lächelte. Er musste sich keine Sorgen machen. Es war alles klar. Zum ersten Mal seit langem schien wieder alles so glasklar. All die Farben im Wohnzimmer waren nicht mehr so trüb und grau sondern viel intensiver, als hätte Andrew die Sonne vom Himmel geholt und anstelle der Lampen von Ikea an die Decke geschraubt.
„Weißt du, dein Grinsen hat irgendwie was Serienkiller-mäßiges. Wenn du damit aufhörst, dann sag ich dir sogar, was Abby in meiner Sporttasche gefunden hat."
„Ich will noch was Essen!", beschloss sie, sprang von der Couch, lief in die Küche und lud sich noch eine Portion Lasagne auf den Teller. Genießerisch tauchte sie ihre Gabel in die Pastanudeln.
Es schmeckte sogar noch viel besser, als noch vor zwanzig Minuten. Sie schloss die Augen und verschlang das Stück, als wäre es ihre letzte Mahlzeit. Sogar die Cola, die sie nachtrank, schmeckte viel intensiver, das Prickeln war herrlich auf ihrer Zunge und Andrew sah sie an, als wolle er gleich in der Psychiatrie anrufen.
Erst da merkte sie, dass sie ihn anstrahlte.
„Ist alles okay mit dir?", fragte er unsicher.
Sie seufzte glücklich und ließ das Gefühl sie überschwemmen. „Ich war schon lange nicht mehr so glücklich. Fühlst du das nicht auch? Findest du nicht auch, dass heute der perfekte Tag ist, um... alles zu tun?"
Er blinzelte. „Nicht wirklich?"
„Ich könnte Mal wieder radfahren." Es war Ewigkeiten her.
„Hast du denn ein Rad? Außerdem ist es draußen arschkalt."
„Riechst du das?"
„Geht's dir gut?"
„Hier riecht es nach Schokoladenkuchen."
Er zog die Augenbrauen zusammen. „Nein, tut es nicht."
Sie galoppierte wieder hinüber zur Couch und setzte sich so dicht neben ihn, dass er wieder von ihr abrückte.
„Was ist los mit dir?", fragte er und verzog abermals das Gesicht. „Du benimmst dich echt seltsam. Ist das so ein Psychotrick, um mich irgendwie fertig zu machen?"
Sie hob eine Hand und ließ ihre Finger durch seine Haare gleiten. „Die sind so weich", staunte sie und er stieß ihre Hand weg.
„Was soll das?" Sie war sich nicht sicher, was die Gereiztheit in seiner Stimme, in seinen Augen, in seiner Haltung zu suchen hatte.
Es war doch alles in Ordnung. In bester Ordnung sogar.
Ein klitzekleiner Teil in ihr begriff noch, wie verrückt und abartig und seltsam und unlogisch es war, doch dieser kleine Teil wurde überrollt und vergraben von einer Lawine anderer Emotionen. Es war so klar, so einfach, so ganz und gar logisch, dass es so kommen musste, dass das hier jetzt passieren musste, weil es absolut umwerfend und toll sein würde, das wusste sie einfach. Vielleicht war es das, wonach sie ihr Leben lang gesucht hatte. Sie stand am Gipfel der Welt und fühlte sich unbesiegbar und sie wollte dieses Gefühl festhalten, denn ihr fehlte etwas und er hielt es in seinen Händen und sie wollte es haben und diesem Impuls nachzugeben, war praktisch unmöglich.
Seine Augen waren so wundervoll, dass sie darin hätte versinken können. Sie beugte sich vor und küsste ihn und im selben Moment sprang Andrew von der Couch und taumelte vor Entsetzen beinahe gegen den Fernseher. Er ließ eine Reihe an Flüchen und Schimpfwörtern los, während er sich wild über die Lippen rieb.
„Spinnst du?!"
Sie kletterte an den Rand der Couch, ein bisschen sauer, weil er diesen wundervollen Augenblick zerstört hatte.
„Was ist dein Problem?", fragte sie.
„Was mein Problem ist? Hast du sie noch alle?!"
„Mit meiner Schwester hast du es doch auch gemacht."
Er wollte augenscheinlich etwas erwidern und ein paar schockierte, ungläubige Laute und Wortanfänge verließen seinen Mund, aber nichts Zusammenhängendes.
Das war mal wieder typisch. Hannah wollten alle, nur sie wollte absolut niemand. Niemand, außer Justin vielleicht.
Die Türe wurde aufgeschlossen und ein paar Sekunden später stand Hannah im Raum, die die angespannte Stimmung sofort aufschnappte.
„Was ist los?", fragte sie vorsichtig.
„Deine Schwester hat einen absoluten Vollschaden!", schimpfte Andrew und Hannahs Augen blitzen auf.
„Hey, pass auf, was du sagst!"
In ihrem Kopf rasten die Gedanken und noch bevor Hannah sich ihren Mantel ausgezogen hatte, sprang sie aufgeregt zu ihrer großen Schwester und zog an ihrem Arm.
„Komm, lass uns gehen", sagte sie aufgeregt.
„Gehen? Wohin denn?" Hannah sah sie irritiert an.
„Nach Prag! Du wolltest nach Prag, also lass uns gehen!"
Hannah zog die Augenbrauen hoch. „Izzy, Prag ist viel zu weit weg. Praktisch am anderen Ende der Welt, da können wir jetzt nicht hin."
„Natürlich können wir, wir fliegen einfach mit dem Flugzeug hin, jetzt komm schon, wir haben keine Zeit mehr!"
„Izzy-" Kopfschüttelnd wimmelte Hannah sie von ihrem Arm.
„Sie werden uns schon mitfliegen lassen!", sagte sie überzeugt. „Jetzt komm, es ist wichtig."
„Wichtig?", hakte Hannah nach und sah sie eindringlich an. „Es ist wichtig, dass wir jetzt nach Prag fliegen? Wieso? Was ist in Prag?"
Hannahs ganze Fragerei machte sie wütend. Fast so wütend, wie Andrews Abweisung. Sie wollte doch nur dieses Glück voll auskosten und tun, was sich richtig anfühlte.
„Bist du high?", fragte Hannah dann in völligem Ernst.
„Du denkst wohl, dass ich nichts anderes kann, oder?!", schrie sie vor Zorn und ihre Schwester trat einen Schritt von ihr zurück. „Wieso darf ich nicht auch einmal glücklich sein, so wie alle anderen auch?"
„Izzy, hör auf damit, was ist denn los?"
Erst jetzt bemerkte sie, dass Hannah sie so erschrocken und verzweifelt ansah, dass ein Teil von ihr einen Augenblick lang selbst Angst bekam und begriff, was sie da tat, was sie redete, aber diese Empfindung war sofort wieder verschwunden und wurde von einem anderen Gefühl verdrängt.
„Ich will zu Justin", beschloss sie feierlich. Justin würde sie nicht so komisch ansehen, würde nicht aufspringen und sie fragen, ob sie verrückt war, wenn sie ihn küssen wollte. „Er versteht das."
Sie strahlte ihre große Schwester an, betrachtete ihr hübsches Gesicht, die hübschen Haare, sie sie sich immer glättete und ihr Herz zerbarst fast vor Liebe, die sie in diesem Augenblick für Hannah empfand und sie schlang ihre Arme fest um ihre große Schwester.
„Izzy", presste Hannah hervor.
„Danke!", sagte sie überglücklich und drückte Hannah fester. „Danke, danke, danke!"
Als sie sie losließ, sah Hannah immer noch völlig desperat aus und sie begriff nicht, warum Hannah die Tränen kamen. Sie wünschte, sie hätte ihrer großen Schwester etwas von diesem tollen Gefühl abgeben können.
Sie wollte laufen! Sie wollte ihren Körper bewegen, denn es fühlte sich an, als wäre sie die letzten Tage auf Sparflamme gefahren, nur um jetzt alle Energie wie eine riesige Explosion, wie eine Atombombe, freizusetzen.
Sie wischte Hannah die Tränen von der Wange.
„Izzy, bleib hier", sagte Hannah erstickt. „Du- du kannst gerade nicht klar denken, okay? Bitte vertrau mir und bleib hier."
„Aber ich will zu Justin", lachte sie und drückte Hannah noch einen Kuss auf die Wange. „Probier die Lasagne, sie schmeckt atemberaubend lecker!", rief sie noch, bevor sie ohne ihre Jacke aus dem Haus stürmte.
Sie nahm die eisige Kälte kaum wahr. Die Leute im Bus sahen sie komisch an, wenn sie lachen musste, weil sie so glücklich war und sich so sehr darauf freute, Justin gleich zu sehen, und weil ihre Brust so voller Gefühle war, dass sie wahrhaftig kribbelte und ihre Hände vor Aufregung zitterten und vielleicht auch, weil sie ohne Schuhe und nur in ihren dicken Wintersocken, die jetzt ganz nass und dreckig waren, aus dem Haus gelaufen war und als sie bei Justin war und bemerkte, dass sie alleine zu Hause waren, riss sie abwechselnd sich und dann ihm die Kleider vom Leib.
Hände glitten über Haut, Farben liefen ineinander, Musik, die gar nicht da war, wurde immer lauter und sie taumelten vom Küchentisch auf die Couch und auf den Boden, dann in sein Bett, wieder auf den Boden, sie jagten einander durch die Wohnung, sie tranken etwas, das vielleicht Wein war, und sie rauchte einen Joint und dann drehte sie sich. Schneller und schneller und schneller und schneller, so schnell, dass sie glaubte, fliegen zu können und sie schrie vor Glück.
Dann schaltete jemand alle Lichter aus.
*
Ethans Nachrichten waren nichts, das sie überraschte, aber auch nichts, mit dem sie sich befassen konnte, auch nicht Tage später, denn sie bestanden im Großen und Ganzen aus vielen WTF's und: „Du hast Andrew geküsst?" und einem abschließenden: „Kannst du das vielleicht erklären?"
Nein. Konnte sie nicht. Und selbst wenn sie es hätte erklären können, hätte er es vermutlich nicht verstanden. Sie verstand es selbst nicht. Wenn sie Andrew jetzt ansah, verstand sie nicht, wie sie ihn überhaupt hatte anziehend finden können. Alleine die Tatsache, dass er mit ihrer Schwester geschlafen hatte, war Grund genug für sie, es nicht zu wollen. Es war doch absolut ekelhaft. Außerdem hatte er Ethan sofort davon erzählt und sie war sich nicht sicher, ob ihre Meinung über ihn noch weiter hätte sinken können.
Vielleicht, wenn er eine Babyschildkröte in die Mikrowelle gesteckt hätte.
Sie war noch am selben Abend wieder nach Hause gekommen, verwirrt und beschämt wegen der Dinge, die sie getan und gesagt hatte und hatte sich in ihr Bett verzogen und hatte versucht, mit aller Kraft nicht darüber nachzudenken, was geschehen war, was hätte passieren konnte und vor allem: Warum es passiert war.
Auch zum Abendessen war sie nicht wieder nach unten gekommen. Hoffentlich hatte Andrew nicht auch Julia oder Adam davon erzählt, das wäre wirklich der Gipfel aller Peinlichkeiten gewesen.
Wenigstens fühlte sie sich nicht ganz so grauenvoll, wie nach ihrem kleinen Ausflug mit Justin, sondern war den Rest der Woche einfach nur hundemüde und ging jeglichen Fragen ihrer Schwester und insbesondere Andrew einfach aus dem Weg. Sie fuhr sogar mit dem Bus zur Schule und wieder nach Hause, obwohl sie Busfahren hasste wie die Pest, aber nach dem, was vorgefallen war, wollte sie nicht mehr in seiner Nähe sein. Es war schlimm genug, ihm in Adams Haus über den Weg zu laufen, ihm beim Abendessen gegenübersitzen zu müssen, oder unabsichtlich das Bad zu betreten, wenn er sich gerade die Zähne putzte.
Sie hatte gedacht, das Leben bei Adam hätte nicht alptraumhafter werden können.
Am Freitagnachmittag, -so gegen vier- stand sie vor der Glastür des kleinen Buchcafés, an dem neben etlichen bunten Flyern für Buchangebote und verbilligten Kaffee das „OPEN"-Schild hing. Mit Ende Januar war es immer noch kalt genug, dass ihre Nase ganz rot gefroren war. Sie warf noch einen Blick auf Ethans letzte Nachrichten, die ihr wie Dämonen im Rücken klebten und auf die sei einfach nicht antworten konnte. Sie ließ ihr Handy zurück in ihre Jackentasche gleiten und drückte die Türe des Cafés mit klopfendem Herzen auf.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro