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Er hatte nicht damit gerechnet, dass Izzy auf seine SMS antworten würde.
Dass er sich nicht gerade nett ihr gegenüber verhalten hatte, war ihm klar. Er hatte an Silvester sogar noch versucht, sich bei ihr zu entschuldigen, aber sie war nicht auf Mias Party gewesen, wie er erwartet hatte.
„Sie redet doch ohnehin mit niemandem und sitzt nur wie ein stilles Püppchen in einer Ecke", hatte Mia als Erklärung vorgeschoben, warum sie Izzy nicht eingeladen hatte.
Die Tage darauf hatte er es nicht fertig gebracht, sich bei ihr zu melden. Er hatte es kaum fertig gebracht, aus dem Haus zu gehen und sich etwas zu Essen zu holen.
Wenn er eines seit dem Tod seiner Mom gelernt hatte, dann war es, dass Trauer eine seltsame Emotion war. Vielleicht die unberechenbarste, aller Emotionen. Und er hatte gelernt, dass trauern nicht bedeutete, den ganzen Tag traurig zu sein.
Es bedeutete, wütend zu sein, sich verloren zu fühlen, zu lachen und Schuld zu spüren, zu weinen, zu verleugnen, zu akzeptieren, nur um kurze Zeit später wieder ganz am Anfang zu stehen.
Er war nicht die ganze Zeit traurig. Es gab sogar Momente, in denen er gar nicht daran dachte, dass seine Mom tot war und dann war er glücklich.
Nur wurde er dann sofort mit tiefer Schuld erschlagen, die ihn wieder an seine Trauer erinnerte.
Wie konnte er jetzt schon glücklich sein? Lachen, wenn er sich einen witzigen Film ansah. Wie konnte er vergessen, dass einer der wichtigsten Menschen in seinem Leben erst vor wenigen Wochen gestorben war?
„Das ist doch völlig normal", hatte sein Dad vor ein paar Tagen zu ihm gesagt, als er ihm davon erzählt hatte, wie schuldig und abscheulich er sich fühlte, jedes Mal, wenn er die Umstände ignorierte und versuchte, weiter zu leben.
„Jeder Mensch empfindet nach dem Tod eines geliebten Menschen so. So ging es mir auch, als meine Mutter und mein Vater gestorben sind. Man denkt, man hätte nicht das Recht, glücklich zu sein. Aber du musst dich nicht schuldig fühlen, deine Mutter wäre erleichtert, wenn sie wüsste, dass es dir besser geht."
Besser ging es ihm nicht. Er hatte sich den Heilungsprozess dieses Verlustes irgendwie kontinuierlicher vorgestellt. Nicht so schleichend. Nicht so verwirrend. An manchen Tagen ging es ihm richtig gut und er glaubte, das Schlimmste endlich überstanden zu haben, nur um mitten in den Nacht aufzuwachen und vor Schmerz kaum atmen zu können.
Er hatte sich das Erholen nach diesem Grauen wie einen Graphen mit einer steigenden Gerade vorgestellt. Kontinuierlich eben. Gleichmäßig.
Er hatte nicht gedacht, dass es sich buchstäblich wie eine Achterbahnfahrt anfühlen würde. Ein ständiges, ungleichmäßiges auf und ab. Mal tiefer, mal höher. Mal besser, mal schlechter.
„Aber wenn ich nicht mehr traurig bin, heißt das nicht, dass ich sie gar nicht geliebt habe? Dass ich sie nicht vermisse?", hatte er verzweifelt gefragt.
Sein Dad hatte den Kopf geschüttelt und den angemachten Salat auf den Tisch gestellt. „Nein. Das heißt es ganz und gar nicht. Es heißt nur, dass du gerade versuchst, einen Weg zu finden, um mit deiner Trauer fertig zu werden. Du darfst deine Gefühle nicht so niederträchtig beurteilen und unter die Lupe nehmen, Ethan. Sie sind da und sie haben ihre Berechtigung. Lass sie einfach eine Weile nur da sein."
Er aß nicht viel. Er hatte keinen Hunger. Alles schmeckte nach Pappe. Oder zu süß oder zu sauer oder zu salzig. Trinken konnte er nur Wasser, ohne dass ihm davon schlecht wurde.
Zwar kam ihm oft der Gedanke, dass er Hunger haben und kochen wollte, aber das Gefühl kam nie in ihm hoch und so blieb er meist mit knurrendem, schmerzendem Magen auf der Couch sitzen, weil ihm die Kraft fehlte, sich in die Küche zu quälen und nach etwas Essbarem zu suchen, das er gar nicht wollte.
Immer wieder tauchten die ungebetenen Bilder von Moms Tod in seinem Kopf auf. Er drängte sie wieder und wieder zurück in die hinterste Ecke seines Bewusstseins. Doch er glaubte, je öfter er das tat, desto lauter wurden diese Gedanken, desto klarer und schärfer wurden die Bilder in seinem Kopf. Und er wusste, dass er sich keinen Gefallen damit tat, all das zu verdrängen, aber er konnte sich damit nicht auseinandersetzen. Er wollte erst, dass es ihm ein bisschen besser ging, bevor er sich zurück an den Tag wagte, an dem er seine Mom verloren hatte.
Wenn es nach ihm gegangen wäre, dann hätte er jetzt ruhig in der Uni sitzen und seinem Professor zuhören können, aber an den meisten Tagen wollte er nicht einmal das Haus verlassen. An den meisten Tagen wollte er gar nicht aufwachen.
Es war seltsam, dass sich die Welt einfach so weiterdrehte; mit ihm, aber ohne seine Mom.
Die letzten Monate hatte er das Gefühl gehabt, er wäre es gewesen, dem die Zeit davongelaufen war. Als wäre er derjenige gewesen, der bald sterben müsste. Als wäre er dem Tod selbst jeden Tag ein Stückchen näher gekommen. Jetzt war seine Mom tot und er war noch hier und er wusste nicht, was er damit anfangen sollte.
Lebendig fühlte er sich jedenfalls nicht und dieses Gefühl der Leere und Schwere war an manchen Tagen so unerträglich, dass er sich fast wünschte, mit seiner Mom gestorben zu sein.
Er vermisste Katy. Ohne sie war das Haus noch viel größer und noch viel leerer. Aber Katy war bei seinem Dad und John. Er glaubte, dass sie sich dort im Augenblick wohler fühlte als hier. Das wäre ihm auch so ergangen, aber er zwang sich, hier zu bleiben. Vielleicht würde das Gefühl, dass ihm dieses Haus so fremd war, mit der Zeit vergehen, wenn er sich nur daran gewöhnte und sich selbst mit der Abwesenheit seiner Mom konfrontierte.
Nur ihr Zimmer hatte er nicht wieder betreten. Er hatte es nicht über sich gebracht. Sein Dad war mit John in ihrem Zimmer gewesen, sie hatten das Bett abgezogen und das Bettzeug gewaschen, gelüftet und die Pfütze des umgekippten Wasserglases aufgewischt, die erstaunlich lange auf dem Boden überlebt hatte.
Länger als seine Mom.
Die Beerdigung war seltsam gewesen. Die Sonne hatte geschienen. Sie waren nur zu sechst gewesen. Er, Katy, sein Dad, John und die Eltern seiner Mom, zu denen er kaum noch Kontakt hatte. Sie hatten auch zu seiner Mom keinen Kontakt mehr gehabt, weil sie ihrer Tochter ihr Leben lang vorgehalten hatten, dass ihre kleine Schwester damals ertrunken war. Immerhin hatten sie am Grab ein paar Tränen geweint und seinen Arm gedrückt.
Er hatte gedacht, das Schlimmste wäre es gewesen, die Hand seiner Mom zu halten, während sie starb. Ihren letzten Atemzug zu hören, sich ein letztes Mal von ihr zu verabschieden, zu wissen, dass es jetzt vorbei war. Nie wieder ein Wort mit ihr wechseln zu können.
Nein, das Grausamste war der Augenblick gewesen, in dem er dem Sarg seiner Mom die Erde nachgeworfen hatte. Ihm war dabei so schlecht geworden, dass er sich beinahe übergeben hätte.
Ihm war klar, dass es eine Tradition war, den Beerdigten Erde und Blumen nachzuwerfen. Die Blumen waren okay, aber die Erde... es hatte sich angefühlt, als hätte er seiner Mom nur Dreck nachgeworfen. Dieser Gedanke war ihm nie zuvor gekommen.
Er hatte sich so respektlos gefühlt, wie nie in seinem Leben.
Das Geräusch, als die Erde auf den Sarg geprasselt war, konnte er immer noch hören.
Die Beerdigung hatte seine unbändige Angst vor dem Tod nur verstärkt.
Der Beginn des neuen Jahres hatte all diese grauenhaften Erinnerungen und Gefühle stärker in ihm geweckt, als er es für möglich gehalten hatte. Zeit, um an Izzy zu denken und daran, dass er vielleicht ihre Gefühle verletzt hatte, war also keine gewesen. Die kurze SMS, die er ihr geschrieben hatte, in der Hoffnung, sie würde vielleicht tatsächlich vorbeikommen, hatte ihm einiges abverlangt. Er war sich immer noch nicht sicher, ob er sie wirklich hier haben wollte, denn die meiste Zeit wollte er alleine sein, weil es ihn zu viel Kraft kostete, in der Gesellschaft einer anderen Person sein zu müssen.
Aber vielleicht fühlte Izzy sich genauso.
Mit einer Antwort hatte er nicht gerechnet. Er hatte auch keine bekommen.
Dafür saß sie jetzt mit ihm am Küchentisch und betrachtete ihn über den Rand ihrer Teetasse hinweg. Diesmal war es ein Apfelzimttee, der eigentlich zu weihnachtlich roch und schmeckte, um Mitte Januar noch angebracht zu sein, aber er hatte geglaubt, sich daran zu erinnern, dass sie einmal angedeutet hatte, Zimt zu mögen. Vielleicht hatte er sich das aber auch nur eingebildet. Vielleicht fand er einfach, dass sie wie ein Mädchen aussah, das Zimt mochte.
Es war ein Mittwochvormittag und er wusste, dass sie die Schule schwänzte. Sie war einfach so im Vorgarten des Hauses aufgetaucht, wie schon so viele Male zuvor, nur hatte sie diesmal nicht an seine Türe gehämmert, sondern eher so ausgesehen, als wollte sie gleich wieder Kehrt machen.
„Warum bist du hier?", fragte Ethan, dann, um die Stille zu zerbrechen.
Sie kniff die Augen ein wenig zusammen. „Du hast mir doch geschrieben."
„Schon, ich dachte nur nicht, dass du wirklich vorbei kommst."
„Hast du mir nur deshalb geschrieben? Um dein Gewissen zu beruhigen, aber in der Hoffnung, dass ich nicht auftauche?"
Er legte den Kopf schräg. „Ich wollte mich entschuldigen für das, was letztes Mal passiert ist."
„Passiert", wiederholte sie vielsagend.
„Für das, was ich gesagt habe", korrigierte er. Eigentlich war es ihm nie schwer gefallen, sich zu entschuldigen, wenn er begriffen hatte, dass er tatsächlich einen Fehler gemacht hatte. Aber bei Izzy fiel es ihm schwer. Er konnte sich gut vorstellen, dass sie seine Entschuldigung abweisen würde.
„Ich bin sogar auf Mias Silvesterparty gegangen. Du warst nur nicht da."
„Hannah hat es mir erzählt. Dass du nach mir gefragt hast."
„Es tut mir wirklich leid, was ich gesagt habe."
Nach einem weiteren Schluck Tee sagte sie: „Okay."
„Okay? Was heißt okay?"
„Okay heißt, dass ich ausnahmsweise versuchen werden, nicht allzu nachtragend zu sein", sagte sie und in ihren Augen lag eine Art ruhige Belustigung und er entspannte sich. Sie schien wirklich einen guten Tag zu haben.
„Dann können wir ja über wichtigere Themen sprechen."
„Zum Beispiel?"
„Bei welchem Band bist du?"
Sie begriff sofort und seufzte. „Bei keinem. Hab den sechsten Band unterbrochen und musste ihn zurück in die Bücherei bringen, als die zwei Wochen vorbei waren." Sie zuckte mit den Schultern und er wurde das Gefühl nicht los, dass sie seinetwegen aufgehört hatte, die Reihe zu lesen, denn sie wich seinem Blick aus.
„Das können wir so nicht stehen lassen", entschied er, stand auf, ging nach oben auf sein Zimmer und zog den sechsten Band der Harry Potter Reihe aus seinem Regal.
„Und im Gegensatz zur Bücherei gibt es bei mir kein Rückgaberecht, bevor du das Buch beendet hast", sagte er, gab ihr das Buch und ihr entfuhr ein belustigtes Lachen. Er ließ sich wieder ihr gegenüber nieder.
„Wie geht es dir eigentlich?", fragte sie nach kurzem Zögern vorsichtig. Er dachte kurz nach.
„Naja, ich will nicht mehr jeden Menschen umbringen, dem ich über den Weg laufe."
„Klingt nach einem Fortschritt", sagte sie und klang dabei so ehrlich, dass er lächeln musste. „Und du lebst hier jetzt wirklich ganz alleine?"
Er nickte. „Katy kommt ab und zu vorbei, aber sie bleibt selten über Nacht."
„Ist das nicht... richtig einsam?"
„Ich bin im Augenblick ganz gerne alleine... Wenn ich alleine bin, dann kann ich glücklich sein, wenn ich glücklich bin, traurig sein, wenn ich traurig bin und wütend sein, wenn ich wütend bin, ohne mich rechtfertigen zu müssen." Er sah hoch. „Das klappt nicht so gut, wenn andere Leute bei einem sind."
Das letzte Mal zumindest hatte er Izzy vergrault. Und wenn er das nicht wollte, dann musste er eine Maske aufsetzen, eine, die andere Menschen in seiner Gegenwart nicht verlegen machte. Eine Maske, die zwar nichts mit ihm zu tun hatte, die aber anderen Menschen besser gefiel.
Und das wollte er nicht, denn jedes Mal, wenn er nach Hause kam und diese Maske abnahm, hatte er das Gefühl, Stücke seiner selbst mit abzunehmen.
„Es gibt immer Leute, die das ertragen können", sagte sie.
„Vielleicht, aber das ist doch egoistisch, oder? Leute zu suchen, die die schlimmste Seite an einem ertragen können, um nicht alleine zu sein."
„Ist das nicht das, was wir alle tun?"
Er zog die Schultern hoch. „Ich weiß nicht, es scheint mir unfair gegenüber den Leuten, die es eben nicht ertragen können. Sie sind ja deshalb keine schlechten Menschen und ich kann nicht von jedem erwarten, dass sie mit meinen Gefühlen klarkommen."
„Das habe ich doch auch nie gesagt. Ich finde nur, dass jeder einen Menschen verdient hat, der einen immer aushalten kann, egal, was passiert und was gesagt oder getan wird. Einen sicheren Hafen, an dem man immer anlegen kann."
Er dachte kurz über ihre Worte nach. „Hast du so jemanden?"
Sie nickte. „Aber du magst ihn nicht sonderlich."
Er hob die Augenbrauen. „Ach, komm. Justin? Das kauf ich dir nicht ab."
„Was hat er getan, dass du ihn so sehr hasst?"
Er wollte es ihr nicht sagen. Er wollte Izzy nicht sagen müssen, was Justin zu ihm gesagt hatte. Was Justin über sie gesagt hatte. Entweder hätte sie ihm nicht geglaubt, oder sie hätte ihm geglaubt und er hätte sie der einzigen Person beraubt, von der sie glaubte, ihr nie zu viel zu werden.
„Warum schwänzt du eigentlich immer an Mitwochen?", fragte er, anstelle einer Antwort, um die Stimmung nicht absacken zu lassen.
„Was?"
„Du schwänzt immer am Mittwoch. Zumindest bist du immer an Mitwochen hier."
„Ich war auch schon mal an einem Samstag hier."
Er musste schmunzeln, weil sie das so genau wusste. Dann senkte sie den Blick.
„An Mittwochen habe ich Biologie. Und Mrs. Rampling hasst mich mit brennender Leidenschaft. Mittwoch ist auch der einzige Tag in der Woche, in der ich keinen Matheunterricht habe. Ich verpasse Mr. Teakins Unterricht nicht gerne."
Er horchte auf. „Mr. Teakin ist dein Mathelehrer?" Er lächelte bei dem Gedanken an seinen ehemaligen Lieblingslehrer. „Er ist richtig cool."
„Hattest du ihn auch?"
Er nickte. „Er hat mich dazu ermutigt, Mathe zu studieren, aber ich wollte nicht."
„Ich wusste nicht, dass du so gut in Mathe bist."
„Nur weil man gut in etwas ist, heißt das leider nicht, dass man es gerne hat." Er zuckte mit den Schultern. „Drew hat mir erzählt, dass du eine Klasse übersprungen hast. Ziemlich beeindruckend."
„Nur in Mathe." Sie lächelte. „Und es war nur..." Sie hielt inne und sah kurz aus dem Fenster. Heute schneite es zur Abwechslung einmal nicht, aber es war trotzdem grau und duster. „Nein, ich hab keine Ausrede."
„Wieso Ausrede?", wollte er wissen.
Sie wandte verlegen den Blick ab. „Keine Ahnung, es kommt mir nur so vor, als wären die Leute total überrascht, wenn sie davon hören, dass ich in Mathe eine Klasse übersprungen habe. Das... fühlt sich komisch an."
„Beleidigend?", bot er ihr an und sie nickte zögerlich.
„Ja. Schon."
Sie war ihm nie wie jemand vorgekommen, der sonderlich viel auf die Meinung anderer gab, aber andererseits war das vielleicht nur ein Schutzmechanismus, den sie sich antrainiert hatte, eben weil sie so viel auf die Meinung anderer gab. Er wusste es nicht und er war sich nicht sicher, ob er dieses Mädchen jemals durchschauen würde.
Aber plötzlich wollte er nicht mehr alleine in diesem Haus sein.
Er hatte Izzy schon lange nicht mehr so entspannt gesehen. War mit ihr lange nicht mehr auf selber Augenhöhe gewesen.
„Bleibst du?", fragte er daher. „Ich mach dir auch noch einen Tee."
*
Izzy blieb über Nacht und obwohl ihn der Gedanke an Gesellschaft von anderen Leuten runterzog, schien ihn der Gedanke an Izzy in seinem Bett zu erleichtern. Seit dem Augenblick, seit sie in seinem Garten aufgetaucht war, hatte er nicht mehr an den Tod seiner Mom gedacht, nicht mehr die Bilder im Kopf gehabt, die ihn seit ihrem Tod verfolgten; es war noch nicht einmal passiert, als er Moms Zahnbürste im Zahnputzbecher gesehen hatte. Er brachte es nicht über sich, sie wegzuwerfen, aber als er und Izzy sich an diesem Abend die Zähne putzten (sie hatten fast immer ein oder zwei neue Zahnbürsten zu Hause, weil Drew oder Mason vor der Geschichte mit seiner Mom oft spontan bei ihm übernachtet hatten), wurde er nicht traurig, als er die Zahnbürste seiner Mom sah; sie war nur ein lebloser Gegenstand, der eben da war und nie wieder Verwendung finden würde. Izzy war viel wichtiger, viel präsenter und sie alberten ein bisschen im Bad herum und lachten, weil sie einander mit der Zahnpasta im Mund kaum verstehen konnten.
Diese Seite an ihr kannte er nicht, aber es war die Seite, die er näher kennen lernen wollte.
Sie redeten noch ein wenig, als sie im Bett lagen und es war ihm schon lange nicht mehr gelungen, so gut und friedlich einzuschlafen.
*
Er wachte auf, weil Izzy nicht neben ihm war. Ihre Anwesenheit hatte ihn irgendwie beruhigt und bis zwei Uhr nachts hatte er wirklich gut durchgeschlafen, aber er hatte bemerkt, dass sie nicht mehr da war.
In der Dunkelheit kämpfte er sich unter der Decke hervor und folgte den Geräuschen, die aus dem Bad drangen. Er wusste nicht, was es war, aber in seinem schlaftrunkenen Gehirn glaubte er, dass sie sich übergab.
Er klopft leise an die Badezimmertüre und hoffte, dass er sie nicht erschreckte.
„Izzy?"
„Komm nicht rein!", rief sie panisch und klang dabei ziemlich schwach.
„Ist alles okay?"
Er hörte, wie sie die Toilettenspülung betätigte und das flüchtige Wasserrauschen im Waschbecken, bevor sie die Türe öffnete. Das Licht im Badezimmer blendete ihn kurz, aber seine Augen hatten sich schnell daran gewöhnt und er erschrak.
Ein metallischer, saurer Geruch lag in der Luft.
Izzy war ohnehin meist recht blass, aber jetzt sah sie so aus, als hätte sie eben im Badezimmer drei Liter Blut verloren. Ihr Gesicht glänzte und seine Hand wanderte automatisch an ihre Stirn und ihre Wangen.
„Du glühst ja, hast du Fieber?"
Sie schob seine Hand weg. „Ich sollte nach Hause", blinzelte sie und wankte gegen den Türstock. Als er seine Arme um sie legte, bemerkte er, dass sie zitterte. Sie atmete schwer und ein kaputter Teil in ihm wurde an den Abend erinnert, an dem er seine Mom erstickend am Schlafzimmerboden gefunden hatte. Er drängte den Gedanken beiseite.
„Was ist denn los?", fragte er abermals, aber sie wiederholte nur immer wieder, dass sie nach Hause musste.
Während sie sich mühselig umzog, war er sich sicher, dass er sie in diesem Zustand nicht gehen lassen konnte. Sie konnte kaum aufrecht stehen und krümmte sich immer wieder zusammen.
„Izzy, bitte bleib hier."
„Ich muss nach Hause."
„Wieso musst du nach Hause? Sag mir doch, was los ist, ich will dir helfen."
„Du kannst mir nicht helfen!" Sie krümmte sich, als hätte sie ein Blitz durchzuckt und stütze sich an der Lehne seines Schreibtischstuhls ab.
Der Blick in ihren Augen flehte ihn widersprüchlich nach Hilfe an und er erkannte, dass sie einfach nicht wusste, wie sie danach fragen oder sie annehmen sollte. Er kam noch einmal zu ihr, legte seine Hände an ihr Gesicht, sah ihr in die Augen und gab ihr zu verstehen, dass er sie nicht gehen lassen würde.
„Du solltest das nicht sehen", wisperte sie und Tränen schossen ihr in die Augen.
„Was soll ich nicht sehen?
„Mich. So."
Er verstand nur Bahnhof, aber das war ja auch im Augenblick nicht wichtig. „Sag mir, wie ich dir helfen kann. Bitte. Sag mir, was los ist, sag mir, was du brauchst."
Er glaubte nicht, dass sie plötzlich Fieber bekommen hatte und ihr übel geworden war, wenn dem so gewesen wäre, hätte sie sich nicht so seltsam verhalten. Und etwas Schlechtes konnte sie auch nicht gegessen hatten, denn sie hatten sich am Abend chinesisches Essen bestellt und hatten beide dasselbe gekostet.
Eine Mischung aus Schluchzen und Lachen entfuhr ihrer Kehle und sie wandte den Blick ab. Dann sagte sie etwas, mit dem er nicht so ganz gerechnet hatte.
„Kannst du mich nach Anchorage bringen?"
„Was? Wohin?"
„Zu meiner Ärztin. Dahin, wo wir letztes Mal waren."
Er nickte ohne zu zögern. Schlafen konnte er ohnehin nicht mehr, also zog er ihr noch einen seiner Pullover an, weil sie immer noch zitterte, nahm eine Decke von der Couch und half Izzy, die Treppen hinunter.
Dabei wurde er schlagartig an die vielen Male erinnert, in denen er seiner Mom über die Treppen geholfen hatte.
Izzy kletterte auf die Rückbank seines Autos, wickelte sich in die Decke und legte sich hin. Er schwang sich hinter den Rücksitz, schaltete die Heizung ein und fuhr los. Zügig, aber vorsichtig genug, dass Izzy unangeschnallt und auf der Rückbank liegend nichts passieren konnte.
Er konnte sich noch halbwegs an den Weg erinnern, der Großteil der Strecke bestand aus Autobahn und da halfen ihm die Schilder aus. Auf halber Strecke bemerkte er, dass Izzy ihr Handy am Ohr hatte. Ihre Stimme zitterte, als sie leise sagte: „Irgendwas stimmt nicht. Kann ich vorbeikommen?"
Sie musste damit gerechnet haben, dass ihre Ärztin sie nicht abweisen würde, sonst hätte sie ihn nicht gebeten, sie zu fahren, bevor sie angerufen hatte.
„Ich weiß nicht", murmelte sie verzweifelt. „Es ist... ich weiß nicht, irgendwas stimmt einfach nicht."
Er warf einen flüchtigen Blick in den Rückspiegel und sah, dass sie die Augen zusammenkniff und weinte.
„Ich glaube, es ist so schlimm, wie beim ersten Mal, aber ich bin nicht sicher." Er versuchte, sich einen Reim aus ihren Worten zu machen, wurde aber nicht schlauer. „Ja, wir sind unterwegs. Es dauert noch... Ich versuche es." Dann versteckte sie ihr Handy wieder unter der Decke.
Zwanzig Minuten bevor sie Anchorage erreichten, begann Izzy vor Schmerzen zu stöhnen und laut zu atmen und wenn er es nicht besser gewusst hätte, dann hätte er geglaubt, dass sie auf seiner Rückbank gerade ein Kind auf die Welt brachte und hätte lachen können, wenn es nicht so verstörend gewesen wäre.
Als er glaubte, vor dem Gebäude zu stehen, vor dem er auch das letzte Mal gestanden hatte, stieg er aus dem Wagen und half Izzy vorsichtig heraus.
Er wurde mit jeder Sekunde, die verstrich, mehr an das erinnert, das er mit seiner Mom erlebt hatte, auch, wenn er sich ziemlich sicher war, dass Izzy heute Nacht nicht sterben würde.
Vor der schweren Holztüre des Gebäudes deutete Izzy nur zitternd auf einen der vielen Klingelknöpfe und er drückte ihn. Innerhalb weniger Sekunden ertönte der Summer und Izzy schleppte ihre Beine die Treppen hoch. Er überlegte, ob er sie tragen sollte, glaubte aber, dass sie das niemals zugelassen hätte. Während er sie stützte und festhielt, drückte sie seinen Körper in die richtige Richtung. Er merkte kaum, wohin sie gingen, nur, dass eine Frau mittleren Alters und mit verschlafenem, aber freundlichem Gesichtsausdruck in der offenen Türe einer Ordination stand und die beiden hereinließ.
„Gerade nach hinten, das Zimmer links", ließ sie Ethan wissen und schlang sich ihren Cardigan um den Körper. Izzy musste sie wirklich aus dem Schlaf gerissen haben und er stellte das Verhältnis, das sie zu dieser Ärztin zu haben schien, abermals in Frage. Die Praxis war um diese Zeit natürlich absolut menschenleer und nur eine kleine Lampe am Empfangstresen brannte.
Als er das Zimmer betrat, in das die Frau sie verwiesen hatte, fügten sich zumindest ein paar Puzzleteile zusammen. Zum Beispiel schloss er aufgrund der Tatsache, dass an der Wand Bilder der weiblichen Anatomie hingen und ein Gebilde, das aussah, wie eine zerlegbare Gebärmutter mit Eierstöcken, auf dem Schreibtisch der Ärztin stand, dass es ihn hier zu einer Gynäkologin verschlagen hatte.
Sicher konnte er sich natürlich nicht sein, denn wann hätte er jemals an den Punkt kommen sollen, das Arztzimmer einer Gynäkologin von innen zu sehen?
Er fühlte sich unwohl, versuchte das Gefühl aber abzuschütteln.
„Hallo, Isobel", sagte die Frau, als sie hinter ihnen das Zimmer betreten und die Türe geschlossen hatte. Dann wandte sie sich an ihn und stellte sich nur kurz lächelnd als Dr. Hale vor, während Izzy sich auf der kleinen Liege zusammenrollte und die Stirn auf die Lederfläche drückte.
„Ich... warte dann Mal draußen", sagte er und wollte sich eigentlich verdrücken, aber Izzy riss die Augen auf.
„Bitte bleib hier."
Er wollte nicht. Er hatte Angst, dass das, was er vielleicht gleich sehen würde, sein Frauenbild für immer völlig zerstören würde, aber Izzy sah so verängstigt aus, dass er gar nicht anders konnte, als bei ihr zu bleiben und Dr. Hale schob einen Stuhl als Izzys Kopfseite, damit er sich setzten konnte.
„Keine Sorge", zwinkerte sie ihm zu. „Die ganzen gruseligen Instrumente verwenden wir heute nicht."
„Und ich hab mich schon gefreut", erwiderte er und Dr. Hale lachte.
„Isobel ist wirklich ein Magnet für sarkastische Freunde, oder?"
Dr. Hale zog ein kleines Multivitaminsaftpäckchen aus ihrer Schublade, zog den Strohhalm aus der Plastikverpackung, drückte ihn in die Packung und drückte sie Izzy in die Hand.
„Trink das. Ich gebe dir gleich ein paar Eisentabletten. Schmerzen auf einer Skala von eins bis zehn? Eins ist erträglich, zehn ist ich-möchte-sterben."
„Elf", sagte Izzy, ohne mit den Wimpern zu zucken und begann, an dem Strohhalm zu saugen.
Dr. Hale ging zu einem der Schränke und kam mit einem Plastikbeutel zurück, in dem eine klare Flüssigkeit schwamm und er musste den Blick abwenden, weil er das Krankenbett seiner Mutter, mit all den Schmerzinfusionen vor sich sah. Er hörte Bonnies Stimme, die ihm sagte, dass seine Mom so viel Morphin bekam, wie benötigt, damit die Schmerzen erträglich waren. Während sie gestorben war.
Er konnte auch nicht hinsehen, als Dr. Hale Izzy mit einer kleinen Nadel einen Zugang in den Arm legte und den Beutel an die metallene Vorrichtung hängte.
„Die Schmerzen hören bald auf", versicherte sie Izzy und strich ihr mütterlich über die Stirn. „Du hast Fieber", stellte sie dann besorgt fest. „Wann hat das angefangen?"
„Weiß nicht genau", hauchte Izzy erschöpft. Ihr fielen die Augen zu und ihre Finger um die Saftpackung schienen an Kraft zu verlieren, sodass er den Saft sanft aus ihrer Hand löste.
„Ich mache den Ultraschall, sobald deine Schmerzen ein wenig nachgelassen haben", sagte Dr. Hale und holte die versprochenen Eisentabletten aus einer Schublade.
„Sagst du mir, was los ist?", fragte Ethan an Izzy gewandt, weil es ihn nervös machte, so gar nicht zu wissen, worum es hier genau ging. Warum diese mysteriöse Ärztin mitten in der Nacht ihre Praxis nur für Izzy öffnete und sofort zu wissen schien, was ihr fehlte.
Izzy sah ihn so zwiegespalten an, so unsicher, so voller Angst, dass er nicht damit rechnete, aus ihr eine ehrliche Antwort heraus zu bekommen, jetzt schon gar nicht.
„Versprichst du, dass du es niemandem sagst?", fragte sie und er nickte, wenn auch vielleicht nur, damit sie ihm endlich sagte, was los war.
Sie senkte den Blick. „Ich hab Endometriose."
Er blinzelte abwartend, aber sie sagte nicht mehr dazu. „Vielleicht sollte ich jetzt schockiert vom Stuhl fallen, aber ich habe keine Ahnung, was das ist."
„Eine Gebärmutterkrankheit", erläuterte Dr. Hale und drückte Izzy zwei kleine Pillen in die Hand, die sie ohne Wiederstand schluckte und dann nach der Saftpackung winkte, die er für sie festhielt.
„Um es ein bisschen leichter zu erklären, als es das Textbuch tun würde", begann Dr. Hale und zog ein großes, transportierbares Ultraschallgerät und einen Stuhl heran. „Es sind Tumoren."
Jetzt wäre er wirklich fast vom Stuhl gefallen.
Tumoren. Tumoren.
Izzy hatte Tumoren in ihrem Körper.
Krebs.
Izzy hatte Krebs?
Nein, nicht alle Tumoren waren Krebs, richtig? Oder vielleicht doch.
Ihm blieb die Luft weg. Das konnte nicht wahr sein. Nicht jetzt, nicht wenige Wochen, nachdem er seine Mom an Krebs verloren hatte.
Er hatte das Gefühl, kein weiteres Wort von irgendjemandem auf dieser Welt mehr ertragen zu können, aber er hatte gefragt und Dr. Hale hatte sich ihm gegenüber hingesetzt und das signalisierte ihm, dass sie gerade erst angefangen hatte, ihm zu erklären, was mit Izzy los war.
„Gutartige Tumoren", fuhr Dr. Hale fort, die nicht mitbekam, was in seinem Inneren vor sich ging und mit derselben gefassten Ruhe sprach, die er an seinem Dad stets so bewunderte.
„Gewebe, das sich im weiblichen Körper bilden kann und sich wie das Gewebe der Gebärmutterschleimhaut verhält. Diese Tumoren können sich innerhalb der Gebärmutter einnisten, außerhalb davon, in und an den Gedärmen, in der Leber, der Niere, dem Herzen, sogar der Lunge."
Er hätte denken können, dass Izzy eingeschlafen war, wenn sie nicht ab und zu das Gesicht ein wenig verzogen hätte.
„Natürlich sind die Symptome, wenn solche Zellen in den Lungen sitzen, völlig andere, als wenn sie an der Gebärmutter sitzen. Da diese Gewebezellen sich wie die Gebärmutter verhalten, sind sie an den weiblichen Hormonzyklus gebunden. Die Gebärmutterschleimhaut wird aufgebaut, damit die Eizelle nach dem Sprung in ihr heranreifen kann. Wird die Eizelle nicht befruchtet, stirbt sie ab und die Gebärmutter wirft ihr aufgebautes Gewebe wie eine zweite Haut wieder ab. Das ist die Menstruationsblutung, aber bei Endometriose verhalten sich alle Tumorzellen so. Sie bauen also Gewebe auf und wieder ab. Nur können das Blut und das tote Gewebe nirgends hin. Sie schwimmen also fröhlich im Körper herum und verursachen diese Höllenschmerzen."
Ihr Blick lag auf Izzy, als sie das sagte. „Geht es dir etwas besser?"
Izzy sah fast schon seelisch entspannt aus, als sie ihre Augen wieder öffnete. Ein bisschen high und so, als hätte sie gerade eine Erleuchtung gehabt. Sie nickte und Dr. Hale schob vorsichtig den Pullover und das T-Shirt, die ihm gehörten, von ihrem Bauch.
„Hinzu kommen die ganzen Verwachsungen und Verklebungen im Bauchraum", sagte Dr. Hale.
„Kann man dagegen etwas machen?", fragte er.
„Geheilt werden von dieser Krankheit kann man nicht, nein. Noch nicht, zumindest. Die Ursachen sind genauso wenig bekannt, aber man kann diese Endometriose-Ansiedlungen operativ entfernen lassen. Das ist nicht immer möglich, weil diese Zellen manchmal zu klein sind, um sie überhaupt auf dem Ultraschall zu erkennen. In einigen Fällen sind sie auch so mit den Organen verwachsen, dass Operationen nicht in Frage kommen."
Das alles klang in etwa so beängstigend, wie jede einzelne Besprechung mit den Ärzten seiner Mom, bei denen er dabei gewesen war.
„In Isobels Fall könnten die meisten Tumore entfernt werden."
„Ich hasse privilegierte Menschen", murmelte Izzy mit halb geöffneten Augen und Dr. Hale drückte ein klares Gel auf Izzys Bauch.
„Was?", fragte er verwirrt und sah Izzy an.
„Sehe ich für dich so aus, als wäre ich versichert genug, um mir so eine Operation zu leisten?", fragte sie und er verstand. Aber gleichzeitig tat sich eine andere Frage in ihm auf.
„Wenn du nicht versichert bist, wie kannst du dann hier... naja, du weißt schon."
Er warf einen unsicheren Blick auf Dr. Hale und sie seufzte.
„Ich darf sie eigentlich nicht behandeln", gab die Ärztin zu. „Ich würde es also schätzen, wenn du das hier für dich behältst."
Jetzt wusste er, warum er niemandem davon erzählen sollte. Er nickte.
„Warum machen Sie es, wenn Sie es nicht dürften?", fragte er, obwohl er sich dabei irgendwie unfreundlich vorkam. Er fand, dass es nach einem Verhör klang und er fand, dass er wie John klang.
„Ich bin der Meinung, dass gerade Frauen mit solch schwierigen Krankheiten oft von unserem Gesundheitssystem alleine gelassen werden. Krankheiten, die nur Frauen betreffen, werden nicht genug untersucht." Dr. Hale sah ihn an. „Und so eine Krankheit kann man nicht einfach abschütteln und akzeptieren. Man kann nicht einfach so mit ihr leben, nicht wenn sie diese Ausmaße angenommen hat."
Er hätte Izzy gerne gefragt, wie schlimm es wirklich war, aber sie wirkte gerade einfach nur erleichtert, dass ihre Schmerzen aufgehört hatten, sodass er sie nicht ausquetschen wollte.
„Die Pille hat einen guten Effekt, auf dich, habe ich gehört", lächelte Dr. Hale Izzy dann an und schaltete den Bildschirm des Ultraschallgeräts ein. „Die Pille macht dem Körper praktisch weis, dass er schwanger ist, so reift keine Eizelle heran und die Endometriosezellen haben kaum noch Interesse daran, sich aufzubauen und ihre Gewebe monatlich wieder abzustoßen, weil es die Gebärmutter auch nicht tut."
„Es ist ein bisschen besser geworden", nickte Izzy und schielte selbst auf den Monitor. Er erkannte nicht viel, außer grauer, schwarzer und weißer Flecken, doch Dr. Hales Miene wirkte nun besorgter und sie kniff konzentriert die Augen zusammen. Izzy schien wesentlich ruhiger darauf zu warten, was sie ihr gleich sagen würde, als er.
„Ja, sie ist eindeutig geplatzt", sagte Dr. Hale dann.
„Was ist geplatzt?", fragte er verstört.
„Die Ovarialzyste."
„Das wird ja immer besser..."
„Aber es sieht nicht so aus, als hätte sich dein Eierstock verdreht."
„Schade", murmelte Izzy. „Ich hätte gerne damit angegeben, dass meine Eierstöcke Gymnastik machen."
Dr. Hale warf einen Blick auf den Infusionsbeutel. „Das nächste Mal gebe ich dir die Sarkasmus lindernden Schmerzmittel."
Izzy grinste, aber Dr. Hale sah immer noch besorgt aus.
„Ich habe zwar gesagt, dass wir die gruseligen Instrumente heute weglassen, aber ich fürchte, um einen vaginalen Ultraschall kommen wir nicht vorbei. Ich glaube, da hat sich eine neue Zyste gebildet, aber es ist schwer zu erkennen."
„Zysten scheinen sich bei mir wohlzufühlen."
„Mir wäre lieber, wenn sie schreiend vor die davon laufen würden." Dr. Hale nahm das Ultraschallgerät von ihrem Bauch und wischte das Gel mit ein paar Tüchern weg.
„Darf ich jetzt draußen warten?", fragte er an Izzy gewandt, einfach, weil er nicht unbedingt sehen musste, wie etwas anderes als er in ein Mädchen eindrang. Er war schon verstört genug.
Als Dr. Hale nach guten zehn Minuten die Türe öffnete, um ihn wieder herein zu lassen, saß Izzy aufrecht auf dem Stuhl, auf dem er vorhin gesessen hatte.
„Danke, dass du sie hergebracht hast", lächelte Dr. Hale ihn an und Izzy stand auf und schlang die Arme um ihren Bauch, allerdings sah es mehr so aus, als wäre ihr kalt, als dass sie noch Schmerzen hatte.
Dr. Hale begleitete sie nach draußen. „Nimm in den nächsten drei Tagen noch jeweils eine Eisentablette. Der Fruchtsaft hilft bei der Aufnahme des Eisens. Und du weißt ja, eine Wärmeflasche hilft bei deinen Schmerzen und ein kühler Umschlag, um die starke Blutung zu mindern." Izzy war wieder schweigsam geworden und nickte nur noch. „Ruh dich aus. Keinen Sport in den nächsten Tagen, sonst kippst du mir noch um. Und sieh zu, dass du ausreichend trinkst."
Als sie wieder auf dem Weg nach Palmer waren, ging bereits die Sonne auf.
*
Er setzte Izzy nicht bei Adam ab, sondern brachte sie wieder zu sich nach Hause. Hannah hatte ihm gestern Abend eine wütende Nachricht geschrieben, ob er wusste, wo Izzy abgeblieben war.
Seit er Hannah auf der Party nach Izzy gefragt hatte, schien er ihre erste Anlaufstelle zu sein, wenn Izzy verschwand.
Er hatte ihr geschrieben, dass Izzy bei ihm war und er sie nicht rauswerfen würde und sie oder Adam schon würden vorbeikommen müssen, um Izzy abzuholen.
Hannah hatte nicht geantwortet und noch war niemand aufgetaucht.
Izzy verzog sich sofort in sein Bett, unter die Decke und er legte sich zu ihr.
„Tut mir leid", wisperte sie nach einigen Minuten der Stille.
„Was denn?"
„Dass ich dich gebeten habe, mich zu fahren. Dass du all das mitbekommen hast, das hab ich nie gewollt..." Ihm war nicht entgangen, wie unangenehm es ihr war, über ihre Krankheit zu sprechen. Er war sich nur nicht ganz sicher, wieso.
Auf ihre Entschuldigung erwiderte er nichts, denn er war sich nicht sicher, was er hätte sagen sollen. Er war froh, dass er endlich wusste, warum sie ihn damals gebeten hatte, sie nach Anchorage zu fahren. Dass er wusste, was mit ihr los war, welche Krankheit sie hatte. Dass sie ihm offenbar genug vertraute, um ihn ein kleines Stück (für sie vermutlich ein riesiges Stück, wenn er bedachte, dass sie nicht wollte, dass davon jemand erfuhr) weiter in ihr Leben zu lassen.
Gleichzeitig wusste er nicht, wie er damit umgehen sollte. Mit einer Krankheit, die ihn zwingen würde, wieder untätig dabei zuzusehen, wie ein Mensch, der ihm wichtig war, litt. Izzy war zwar nicht in Lebensgefahr, aber sie hatte Schmerzen. Sie hätte eine Operation gebraucht, die sie sich nicht leisten konnte.
„Hast du noch Schmerzen?", fragte er und sie schüttelte den Kopf.
„Nach diesem Schmerzmittelcocktail würde ich es vermutlich nicht Mal spüren, wenn mir jemand alle Zähne ziehen würde."
„Seit wann hast du diese Krankheit?"
Sie zog sich die Decke bis zu den Schultern. „Die Schmerzen habe ich seit... ich dreizehn bin, glaube ich. Hannah hat immer gesagt, es ist normal, aber Cassy, eine Freundin von mir, hat gesagt, dass es nicht ganz so normal ist, sich vor Schmerzen zu übergeben, oder ohnmächtig zu werden, weil man so viel Blut verliert. Ich hab Justin nach Geld gefragt und bin bei Dr. Hale gelandet, weil Cassy mir gesagt hat, dass sie gut ist und eine ihrer Freundinnen gut behandelt hat. Schon bei der ersten Untersuchung hat sie mir gesagt, dass mein Bauchraum voll mit Endometriosezellen ist."
„Und das hast du niemandem gesagt?", fragte er ungläubig, weil er sich gar nicht vorstellen wollte, wie beängstigend so etwas für ein dreizehnjähriges Mädchen gewesen sein musste.
Sie schüttelte den Kopf. „Ich wollte es Hannah sagen, aber... ich hatte Angst, dass sie meine Schmerzen für einen Witz hält. Als eine Übertreibung. Ich hatte Angst, dass es niemand ernst nimmt. Nur Justin und Cassy habe ich es erzählt und Riley hat es erfahren, als ich jemanden gebraucht habe, der mich zu Dr. Hale bringt, als das erste Mal eine Zyste geplatzt ist." Sie sah ihn an. „Tut mir leid, das ist eklig."
„Ist es nicht." War es doch, aber er hatte in den letzten Monaten weitaus ekligere Dinge gehört und gesehen. „Drew hat mir erzählt, dass du seinen Dad beklaut hast", bemerkte er, ohne eine Antwort zu erwarten.
„Bitte sag es keinem."
„Mach ich nicht, aber... war es, um Dr. Hale zu bezahlen?"
„Nein, es war für die Pille. Dr. Hale behandelt mich auch ohne, dass ich sie bezahle. Ich gebe ich Geld, damit ich mich nicht ganz so schlecht fühle, aber die Pille kann sie mir nicht einfach so geben."
„Hast du... Hast du Angst?", fragte er dann. Er hätte Angst gehabt. Sie dachte lange nach, bevor sie antwortete.
„Manchmal... Nicht vor der Krankheit, nur vor den Schmerzen. Ich hab Angst, dass sie so schlimm werden, dass ich mich irgendwann von einem Dach stürze oder so..." Sie sah ihn lange und biss sich unsicher auf die Unterlippe, bevor sie sich ein bisschen aufrichtete, sich den Pullover auszog und den linken Ärmel des T-Shirts bis zur Schulter hochkrempelte. Er erschrak.
„Sind das-" Er wollte es kaum aussprechen.
„Manchmal werden die Schmerzen so schlimm, dass ich sie nur umleiten kann. Früher hab ich..." Sie zögerte und er gab ihr Zeit, fassungslos darüber, was sie ihm anvertraute. Darüber, dass sie ihm diese Dinge anvertraute. „Ich hab mich geschnitten. An meinen Beinen. Aber nicht sonderlich lange, weil die Schmerzen oft so unerwartet und plötzlich kamen, dass ich einfach nicht immer... Zugriff auf scharfe Gegenstände hatte."
„Du hast angefangen dich zu beißen?", fragte er und konnte kaum glauben, was er da sagte. Die Stelle an ihrem Arm war deutlich vernarbt und er fragte sich, wie verzweifelt ein Mensch sein konnte, um sich vor Schmerz selbst so tief und oft ins eigene Fleisch zu beißen, dass solche Narben entstanden.
Sie sah ihn zweifelnd an. „Ist dir... das alles zu viel?"
Ja. „Nein." Sie machte ihm Angst. Er hatte ihr nicht glauben wollen, dass sie Probleme hatte. Hatte gedacht, dass es vielleicht nur ihre pubertäre Sichtweise war. Er hatte sich geirrt.
In diesem Mädchen war so einiges kaputt.
Er war sich nicht sicher, ob er damit umgehen konnte. Besonders jetzt, in einer Zeit, in der er sich selbst kaum zu helfen wusste.
Sie legte sich wieder unter die Decke und er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.
„Dr. Hale hat gesagt, dass ich vielleicht niemals Kinder haben werde." Sie sah nachdenklich an die Decke. „Und so schrecklich das für manche Menschen auch sein mag, ich... fühle es nicht. Es macht mir keine Angst, es macht mich nicht traurig, es... lässt mich kalt. Es ist mir egal, obwohl es das nicht sein sollte. Ich weiß nicht, wieso das so ist." Ihre Finger begannen am Stoff des Pullovers, der leblos auf der Decke lag, herumzuzupfen. „Manchmal bin ich so..." Sie rang nach den richtigen Worten. „So voller Gefühle, dass ich nicht weiß, wohin mit ihnen. Ich fühle alles auf einmal. Freude, Wut, Trauer, Angst, Euphorie, Lust, Hass. Es ist so viel, dass ich sie nicht mehr auseinanderhalten kann. Und dann gibt es Tage, an denen ich nichts fühle. Gar nichts. Nur... Taubheit. Gleichgültigkeit und alles sieht grau aus."
Das, was sie als erstes beschrieben hatte, konnte er nicht nachvollziehen, dafür aber das zweite Szenario umso besser, so fühlte er sich nämlich seit einigen Wochen.
Izzy schloss die Augen. „Ich bin müde."
„Schlaf noch ein wenig, du hast nicht viel Schlaf abbekommen", sagte er sanft und strich ihr über den Kopf. Das Fieber war abgeklungen.
Er betrachtete sie grübelnd, während sie in den Schlaf glitt. Izzy war ein Mädchen, das er wirklich, wirklich gerne hatte. Sie zog ihn an.
Aber in Augenblicken wie diesen, wünschte er sich doch, dass sie ein bisschen anders war. Dass Izzy ein klein wenig weniger kompliziert war, nur ein bisschen normaler und nicht so... viel.
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