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Als sie sich ihre Ohrpiercings hatte stechen lassen, hatte sie nicht einmal geblinzelt.

Es war vor drei Jahren auf einer Party passiert. Ein Mädchen, etwa siebzehn Jahre alt und mit Tattoos am Körper und Piercings im ganzen Gesicht, hatte in einem Plastikbeutel ein paar Piercingnadeln, Korken und einige schlichte Ohrstecker (die bestimmt nicht aus empfohlenem Chirurgenstahl gewesen waren, aber das war ihr damals ziemlich egal gewesen) dabei gehabt. Geld, um zu einem richtigen Piercer zu gehen, hatte sie nicht gehabt. Und ihre Mutter hätte es ohnehin nie erlaubt. Das Mädchen hatte an einem Tisch in der kleinen Wohnung gesessen, deren Besitzer sie nicht gekannt hatte, und hatte Leuten Piercings gestochen. Rauchschwaden hatten in der Luft gehangen und es hatte irgendwie nach Erbrochenem gerochen, aber sie hatte nicht eruieren können, aus welcher armseligen Ecke.

Nach ihrem fünften Tequilashot war sie zu dem Mädchen gegangen und hatte gefragt, wie viel Geld es verlangte, aber es hatte abgewinkt und gelächelt. „Nichts, mir macht es Spaß."

„Es macht dir Spaß, fremden Leuten mit Nadeln in diverse Körperteile zu stechen?", hatte sie gefragt und sich auf den Stuhl vor das Mädchen gesetzt. Das tätowierte Mädchen hatte die Nadeln, den Korken und zwei Ohrstecker mit Vodka übergossen, mit einem Filzstift die Stellen, an denen es stechen wollte, vorgezeichnet, den Korken hinter ihr Ohrläppchen gehalten, zugestochen und den Ohrring in einer schnellen, flüssigen Bewegung durchgezogen.

Dann hatte das Mädchen sie schief angegrinst. „Du bist ziemlich krass drauf. Die meisten zucken zumindest zusammen. Ein paar kippen mir vom Stuhl."

Sie war nicht zusammengezuckt, weil sie den Schmerz willkommen geheißen hatte. Er hatte sie sogar entspannt. Das Brennen, wie von einem Wespenstich, und die glühende Hitze. Vielleicht war sie auch schon zu betrunken gewesen.

Später in dieser Nacht hatte sie stundenlang zu Hause vor den Spiegel gestanden und die Piercings gedreht und vor und zurückgeschoben, bis das Blut heruntergetropft war, ihre Finger und ihren Hals benetzt hatte. Dann hatte sie ein Taschentuch mit Desinfektionsmittel übergossen und gegen die Wunden gedrückt.

Sie hatte schon damals gefunden, dass Schmerz etwas Befriedigendes an sich hatte. Damals hatte sie es nicht verstanden, aber heute tat sie es. Seit sie sich fast täglich mit den höllischsten, vom Teufel höchstpersönlich geschaffenen Unterleibsschmerzen herumschlagen musste, hatte der selbstinduzierte Schmerz, den sie schon auf abartig kreative Arten hervorgerufen hatte, denselben Effekt wie damals schon.

Erleichterung, kurze Ablenkung, Umleitung des wahren Schmerzes.

Damals hatte sie versucht, den psychischen Schmerz zu übertrumpfen, heute den körperlichen.

Aber sie musste gestehen, dass ihre Unterleibsschmerzen nachgelassen hatten, seit sie die Pille nahm. Dr. Hale hatte Recht behalten. Sie blutete zwar immer noch in unregelmäßigen Abständen, obwohl sie die Einnahme nicht einmal für einen Tag unterbrach, und ihre Schmerzen waren an manchen Tagen immer noch so schlimm, dass sie sich übergab und fast das Bewusstsein verlor, weil sie so stark blutete, aber es wurde seltener und der ständige Schmerz wurde zumindest so erträglich, dass sie es durch ihren Tag schaffte, ohne andauernd daran zu denken. Sie lebte einfach damit, aber sie war erleichtert, dass zumindest etwas gegen ihre Schmerzen zu helfen schien.

Das war auch der Grund, warum sie absolut nicht bereit war, die Pille wieder abzusetzen. Und das wiederrum trieb sie in Geldnot, denn billig war so eine Monatspackung nicht.

Sie tat es nicht gerne, aber sie hatte wieder zu klauen angefangen. Immer, wenn Adam seine Geldbörse herumliegen ließ, verschwanden ein paar Dollar daraus. Je nachdem, wie viel Bargeld er eingesteckt hatte, den meiste zahlte er ohnehin mit seiner Karte.

Morgen musste sie zu Dr. Hale fahren und sich die neue Packung holen, aber ihr fehlten noch zwanzig Dollar und an diesem Tag nahm sie aus Adams Portemonnaie, was sie brauchte, bevor Andrew sie und Hannah zur Schule mitnahm.

Die Hälfte des Tages verbrachte sie wie in Trance. Seit sie wusste, dass Ethans Mom gestorben war, hatte sie ein paar Mal versucht, ihn zu erreichen, aber er war nicht an sein Handy gegangen.

Kannst du diese Nachricht öffnen, damit ich zumindest weiß, dass du noch lebst?, hatte sie vor ein paar Tagen geschrieben. Sie hatte noch ein Bitte hinterhergeschickt. Am selben Abend hatte sie die zwei blauen Häkchen neben ihrer Nachricht entdeckt, aber er hatte ihr nicht geantwortet.

Seit sie es wusste, hatte sich ein seltsames Gefühl in ihren Knochen festgesetzt. Es war nicht das erste Mal, dass sie mit dem Tod konfrontiert worden war. Sie musste an die unzähligen Suicide-Partys zurückdenken. Sie hatte Leute kennengelernt, sich mit ihnen unterhalten und einige davon nie wieder gesehen.

Also, was nahm sie so sehr daran mit, zu wissen, dass Ethans Mom gestorben war?

Vielleicht, lag es daran, dass es nicht ihre Entscheidung gewesen war? Das, was sie an Suiziden immer so anziehend gefunden hatte, war die Tatsache, dass sie über das Kontrolle hatte, über das die meisten Menschen keine Kontrolle hatten oder keine Kontrolle haben wollten: Wie und wann sie sterben würden. Die Kontrolle darüber zu haben, war ihr immer wichtig gewesen, denn die meisten Leute in ihrem Leben liebten es, ihr ihre Entscheidungen abzunehmen.

Und Ethans Mom war die Entscheidung darüber auch einfach genommen worden.

Oder ging es ihr nur so schlecht, weil sie wusste, dass es Leute gab, die Ethans Mom vermissen würden? Die unter ihrem Tod litten. Die Leute, auf den Suicide-Partys hatten oft niemanden gehabt, und falls doch, hatte sie sich nicht mit deren Verlusten auseinander setzen müssen, weil sie diese Menschen nicht einmal gekannt hatte.

Rot leuchtende, zusammengeheftete Blätter glitten auf ihr Textbuch und rissen sie aus ihren Gedanken. Es war der Mathetest von letzter Woche und sie musste ihn sich gar nicht ansehen, um zu wissen, dass er vor Fehlern überquoll. Sie schob den Test unter das Buch, um ihn nicht mehr sehen zu müssen und bemerkte den Blick des Jungen, der neben ihr saß. Der, der ihr am ersten Tag in dieser Klasse seine Hilfe angeboten hatte. Der, mit dem alten, ausgefransten Rucksack. Mittlerweile wusste sie, dass er Lionel hieß und im Unterricht genauso wenig redete wie sie.

Unter seinem Blick wurde sie nervös. Sie wusste, was er dachte. Vermutlich war er verwundert, warum sie bei einem Test so schlecht abgeschnitten hatte, der so leicht gewesen war, dass sogar er kaum Fehler gemacht hatte.

Sie betete, dass er sie nicht darauf ansprechen würde und anscheinend war Gott heute auf ihrer Seite. Als es zur Pause klingelte, wollte sie aufspringen und so schnell wie möglich aus dem Klassenraum verschwinden, aber Mr. Teakin war schneller, fing ihren nervösen Blick auf, und tippte mit dem Zeigefinger auf sein Lehrerpult, was seine neue Art war, sie zu bitten, noch einen Augenblick zu bleiben. Kurz überlegte sie, so zu tun, als hätte sie nichts gesehen, aber dann hätte er sie angesprochen und dann hätte wieder jeder in der Klasse gewusst, dass sie länger bleiben musste. Und das hatte sie seit ihrem Ausflug mit Justin schon ein paar Mal gemusst. Also ließ sie sich Zeit dabei, ihre Sachen in den Rucksack zu räumen und wartete unruhig darauf, dass auch die letzten beiden Schülerinnen die Klasse verließen.

Die letzten paar Male hatte Mr. Teakin über ihre fehlervollen Hausaufgaben sprechen wollen, über die Tatsache, dass sie in seinem Unterricht nur noch in ihrem Notizblock zeichnete und darüber, dass sie mit ihm reden konnte, wenn sie es wollte.

Einmal war sie sogar kurz versucht gewesen, ihm alles zu erzählen. Kurz und schmerzlos. Sie hatte nicht wirklich ernsthaft darüber nachgedacht; sie hatte sich nur einen Augenblick lang ausgemalt, was wohl passieren würde und war zu dem Schluss gekommen, dass es besser war, wenn sie schwieg.

Als er den Stuhl von dem Tisch, der vor ihrem stand, hervorzog, sich daraufsetzte und sie musterte, erwartete sie eine ganze Ansprache zu dem Test, den sie von vorne bis hinten vergeigt hatte. Warum sie den Test so in den Sand gesetzt hatte, wusste sie. Nur Mr. Teakin war vermutlich irritiert.

Seit sie von ihrem Ausflug mit Justin zurück war, war sie müde, unkonzentriert, ausgelaugt. Ihr Kopf fühlte sich an, als würde er seine Gedanken verlieren. Als würde einer nach dem anderen durch ihre Ohren hinausfallen und weil sie materielos waren, konnte sie sie nicht greifen und wieder zurückstopfen. Sobald sie nach der Schule zu Hause war, fiel sie auf ihr Bett und schlief bis zum Abendessen durch, nur um danach sofort wieder einzuschlafen und sich am nächsten Morgen trotzdem geschlaucht und ausgelaugt zu fühlen.

Konnte man zu viel schlafen?

Als sie gestern aufs Datum gesehen hatte, war sie erschrocken, weil sie nicht verstehen konnte, wie in neun Tagen Weihnachten sein konnte. Die Stunden in den letzten Wochen waren dahingeschlichen, aber die Tage waren schneller vergangen als je zuvor.

Zu ihrer Überraschung sprach Mr. Teakin den Test nicht an. Zumindest noch nicht, vielleicht kam das noch.

„Wie geht es dir heute?", fragte er stattdessen.

Diese Frage schien ihr beinahe wie ein Hohn. Man musste doch erkennen, dass es ihr nicht gut ging, oder? Und sie wollte auch nicht, dass die Leute nachbohrten und sie ständig fragten, wie es ihr ging. Sie wollte ihre Ruhe. Denn nur in Ruhe konnte sie die Tage überstehen. Ohne ständig angequatscht zu werden. Ohne ständig krampfhaft Fragen und Gesprächen aus dem Weg gehen zu müssen. Ohne so tun zu müssen, als ginge es ihr gut, nur damit sich die Leute in ihrem Umfeld nicht unwohl fühlten. Sie wollte ihre Ruhe! Verstanden die Menschen nicht, dass sie ihr halfen, indem sie sie in Ruhe ließen? In dem sie sie mit ihren Problemen und Gefühlen alleine klar kommen ließen? Genau das hatten sie doch früher auch gemacht, warum mussten sie ihr ausgerechnet jetzt auf die Nerven gehen?

Wenn sie Hilfe wollte, würde sie danach fragen. (Das würde sie natürlich nicht, aber sie redete sich ein, dass sie einfach so darum bitten könnte, wenn sie denn gewollt hätte. Sie war gerne unglücklich. Es war ihre Komfortzone.)

„Blendend", sagte sie ausdruckslos und wich seinem Blick nicht aus. Er wusste, dass sie log, und das durfte er ruhig wissen. Er durfte wissen, dass seine nervige Fragerei nicht dazu führen würde, dass sie sich ihm auf magische Weise anvertraute und ihm ihr Herz ausschüttete. Ihr Herz war bereits so vollgestopft mit beschissenem Zeug, dass sie es ihm nicht einmal hätte ausschütten können, wenn sie das gewollte hätte. Diese Dinge steckten irgendwie fest. Die ganze beschissene Scheiße war so fest hineingestopft worden, steckte so zusammengepfercht in ihrem Herz fest, hatte sich so tief darin vergraben, dass es ihr manchmal selbst schwer fiel, sie wieder hervorzuholen.

Ähnlich, wie es bei der Plastikkiste gewesen war, in der sie und Hannah als Kinder ihre Kuscheltiere verstaut hatten und so tief und fest hineingestopft hatten, damit sie noch unters Bett gepasst hatte, dass die Kuscheltiere nicht einmal mehr herausgefallen waren, wenn sie die Kiste herumgedreht und sie wie wild geschüttelt hatten. Ihre Mutter hatte dann die Kuscheltiere immer an ihren Armen und Beinen gepackt und gewaltsam aus den Verkeilungen gerettet.

Das hatte schmerzhaft ausgesehen. Darauf konnte sie verzichten.

Er legte den Kopf schräg. „Du musst mir nicht von deinem Privatleben erzählen, ich will nur wissen, warum dir dieser Kurs so plötzlich egal zu sein scheint."

Er war ihr nicht egal. Sie hatte es toll gefunden, ein bisschen besonders zu sein. Besonderer als Hannah.

Obwohl, nein, das stimmte nicht, sie würde nie besonderer sein als Hannah. Ihrer Schwester war immer schon alles in den Schoß gefallen, Hannah musste sich nicht anstrengen, um ein tolles Leben zu haben, deshalb würde sie ihrer Schwester auch niemals das Wasser reichen können, denn sie konnte strampeln so viel sie wollte und schien trotzdem stetig auf den Grund zu sinken. Nicht auf den Grund des Ozeans, vielleicht auf den Grund des Lebens.

Vielleicht sank sie in den Tod.

Sie schaffte es morgens kaum noch aus dem Bett, wie hätte sie denn Aufgaben über Funktionen und den Limes und Tangenten und Sekanten und Winkelfunktionen verstehen und lösen sollen, wenn sie beim Betreten des Schulgebäudes ganze zehn Sekunden brauchte, um sich wieder daran zu erinnern, welcher Spint ihrer war? Ihr Gehirn war erschöpft. Und keine Menge an Schlaf hätte ihm die Ruhe gegeben, die es brauchte.

„Vielleicht haben Sie sich in mir getäuscht", sagte sie kühl, noch bevor sie sich im Klaren darüber war, was ihre Worte bedeuteten. Er sah sie abwartend an, schien gespannt auf das, was sie noch sagen würde. „Vielleicht bin ich nicht so..."

So, wie?"

„So wie Sie denken. Ich glaube, Sie haben einen Fehler gemacht, mich eine Klasse überspringen zu lassen."

Mr. Teakin lehnte sich zurück, blickte auf seine Hände, die er im Schoß zusammengefaltet hatte und sie meinte, beinahe so etwas, wie ein amüsiertes Lächeln auf seinen Lippen zu erkennen.

„Nein, ich denke nicht, dass ich einen Fehler gemacht habe", sagte er nach kurzer Zeit. „Ich denke, das möchtest du dir einreden, weil es leichter ist."

„Vielleicht tu ich das", knurrte sie. „Und? Sie können mich nicht zwingen, in dieser Klasse zu bleiben, wenn ich nicht möchte. Und wenn ich nicht möchte, dann geht Sie der Grund absolut nichts an."

Mr. Teakins Körperhaltung veränderte sich, aber er sah nicht wütend aus.

„Möchtest du denn zurück?"

Nein, das wollte sie natürlich nicht. Sie war schon Gespött genug, das Letzte, was sie brauchen konnte, war in Mathe wieder in ihre alte Klasse zurück zu gehen. Es hätte nur die Meinung der anderen bestätigt.

Aber... was hätte das an diesem Punkt noch groß ausgemacht?

„Du hast letztens Hannahs Hausaufgaben gemacht", bemerkte er dann. War Hannah wirklich so dämlich gewesen, die Aufgaben einfach so abgegeben zu haben? Mr. Teakin kannte die unterschiedlichen Handschriften der Schwestern mittlerweile bestimmt, abgesehen davon sahen Hannahs Hausaufgaben immer so aus, als wären sie Hand in Hand über eine sonnige Blumenwiese gelaufen.

Als hätte Mr. Teakin ihre Gedanken gelesen, sagte er: „Es war nicht deine Handschrift, aber es war dein Stil."

„Mein Stil?", hakte sie missbilligend nach.

„Hannah lernt Formeln auswendig", erklärte er. „Du leitest sie her. Vermutlich, weil du zu faul bist, sie auswendig zu lernen, hab ich recht?" Er hatte nicht unrecht. „Du hast also die Hausaufgaben deiner Schwester gemacht, während du deine Prüfung in den Sand setzt. Warum? Immer noch unterfordert?"

Kaum. Sie hatte ganze drei Stunden gebraucht, um Hannahs Hausaufgaben zu lösen, vielleicht auch, weil sie so unkonzentriert und müde gewesen war, aber die Tatsache, dass Hannah ihr absolut nichts zutraute, hatte sie sauer gemacht und während ihre Schwester mit Mr. Perfect durch die Gegend flaniert war, hatte sie sich das Mathebuch ihrer Schwester geschnappt, gelernt und basierend darauf ihre Hausaufgaben erledigt.

Das hatte Hannah wütend gemacht und das durfte es ruhig. Ihr hatte es Befriedigung und ein Triumphgefühl verschafft.

„Gibt es etwas, das du mir sagen möchtest?", fragte er ruhig.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Sie überschreiten eine Grenze", sagte sie. Nicht, weil er es tatsächlich tat, sondern weil sie wusste, dass er das als Lehrer nicht durfte. Zumindest nicht, wenn sie ihn wissen ließ, dass er ihr zu nahe trat. An seinem Blick erkannte sie, dass er genau wusste, welches Spiel sie spielte.

Kurz dachte sie, dass er nicht mitspielen würde, aber im Grunde genommen hatte er keine andere Wahl.

„Das tut mir leid", sagte er.

Sie stand auf, schulterte ihre Tasche und schlängelte sich zwischen den Tischen hindurch. „Ich muss in die nächste Stunde."

Den restlichen Tag über versuchte sie nicht mehr über das Gespräch mit Mr. Teakin nachzudenken. Warum kümmerte es ihn, wieso sie plötzlich kein Interesse mehr an seinem Unterricht zeigte? Normalerweise fielen die schlechten Noten von Schüler auf Lehrer zurück, das verstand sie. Aber alle Lehrer hassten sie und sie war sich sicher, dass niemand Mr. Teakin für ihr Versagen verantwortlich machen würde.

Zu nichts zu gebrauchen, hatte ihre Mutter gerne zu ihr gesagt, wenn sie etwas falsch gemacht hatte.

Alles, was du anfasst, machst du kaputt, war noch einer ihrer Lieblingssprüche gewesen. Oder: Menschen wie du atmen Menschen wie deiner Schwester nur unnötig den Sauerstoff weg!

Diese Dinge hatte ihre Mutter zwar immer nur dann gesagt, wenn sie ein absolutes Tief gehabt hatte und ihre wütende Phase eingeschlagen hatte, aber es hatte trotzdem Narben hinterlassen. Da half es auch nichts, dass sie wusste, dass ihre Mutter Hannah ähnlich grauenvolle Dinge an den Kopf geworfen hatte.

Ihre Mom schien recht gehabt zu haben. Zumindest, was sie betraf.

Als sie beim Mittagessen ihren üblichen Platz weit weg von allen anderen, die zur selben Zeit Pause hatten, wurde ihre wunderbare Ruhe von Lionel gestört, der sein Tablett mit dem heutigen Mittagessen (gebackenen Fischstäbchen und Pommes) darauf ihr gegenüber auf den Tisch knallen und sich auf den Stuhl fallen ließ.

Sie zuckte zusammen und beobachtete seine Bewegungen. Die Art, wie er den weißen Strohhalm in die kleine Apfelsaftpackung steckte, die zu klein für seine Hand war. Er badete ein Pommes in Ketchup, bevor er abbiss und sie unverwandt ansah.

„Also", sagte er. „Was ist dein Problem?"

„Ich hab kein Problem", sagte sie und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie diese Frage und die Tatsache, dass er plötzlich einfach so da war, aus der Bahn warf.

Er machte sich weiterhin über die Pommes her, während er sprach. „Wieso redest du dann mit niemandem?"

„Vielleicht habe ich ja niemandem hier etwas zu sagen", grummelte sie, zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht und schob das Tablett von sich. Ihr war der Appetit vergangen und Lionels bohrender Blick machte sie nervös.

„Ich finde dich übrigens ziemlich hübsch."

Bis eben hatte sie sich noch zusammenreißen können, aber jetzt musste sie sich bemühen, ihr Lachen zu unterdrücken. Was passierte hier?

„Willst du mich auf den Arm nehmen?", fragte sie perplex.

„Nein." Er schüttelte den Kopf und ließ sie nicht aus den Augen. „Wir könnten ja Mal was zusammen unternehmen. Du weißt schon, außerhalb der Schule."

„Ja, wieso nicht? Treffen wir uns nach dem Unterricht vor dem Schulgebäude und ich sage dir, dass ich kein Interesse habe."

Er stellte das Saftpäckchen ab und zog die Augenbrauen zusammen. „Das ist ziemlich fies. Ich wollte nur nett sein."

„Und ich will meine Ruhe. Hab ich dich darum gebeten, mir diese Dinge zu sagen? Hast du dir vorher vielleicht Gedanken darüber gemacht, dass ich sie gar nicht hören will?" Sie griff nach ihrem Rucksack, genervt darüber, dass sie nicht einmal mehr in Ruhe Mittagessen konnte.

„Und wenn du mich das nächste Mal ansprechen möchtest: Lass es!" Sie machte sich nicht einmal die Mühe, ihr Tablett zurück zu bringen, sondern stampfte aus dem Schulgebäude, machte eine Runde zur Rückseite, dort, wo die Mülltonnen standen, und kramte ihre Zigaretten aus der Tasche.

Heute war ein absolut furchtbarer Tag. Wieso dachten manche Menschen, dass es okay war, einfach so die Grenze zu übertreten? Sie konnten nicht wissen, wo ihre Grenze lag, aber wenn sie es nicht wussten, dann sollten sie eben Abstand halten! 

Mit dem Kommentar, dass Lionel sie hübsch fand, hatte er eine Grenze überschritten. Es war zwar keine körperliche Grenze, aber sie war trotzdem da, verdammt! Sie hatte das nicht hören wollen. Justin hatte sie einmal hübsch genannt, nachdem sie miteinander geschlafen hatten und sie hatte sich augenblicklich angezogen und war nach Hause gefahren.

Als Ethan sie hübsch genannt hatte, hätte sie ihn am liebsten am Straßenrand stehen lassen.

Etwas hatten diese Worte und die Art, wie Menschen sie sagten, an sich, das ihr einen widerlichen Schauer über den Rücken jagte. Sie fragte sich oft, woher das kam.

Vielleicht war es Danny zuzuschreiben, aber sie erlaubte sich nicht, jetzt an ihn zu denken. Auf keinen Fall.

Die Zigarette beruhigte sie ein bisschen und sie sprühte sich kräftig mit Deo ein, damit sie nicht so stark nach dem Rauch stank, bevor sie zurück ins Schulgebäude ging.

Den restlichen Schultag überstand sie erfolgreich mit ihrer Kapuze auf dem Kopf und einem desinteressierten, ignoranten Blick im Gesicht.

Am Nachmittag saß sie im Wohnzimmer auf der Couch und war gerade dabei, den sechsten Band von Harry Potter zu beginnen, als sie Adam in seinem Arbeitszimmer lauthals fluchen hörte und ihr das Herz stehen blieb.

„Es reicht", rief er und sie hörte seine wütenden Schritte die Treppen herunterpoltern. „Ich gebe es auf mit dem Kind!"

Julia, die in der Küche saß und mit einer Tasse Tee in einer Zeitschrift blätterte, sah ihn irritiert an, während er so wütend auf sie zukam, dass ein Teil von ihr sich am liebsten auf der Couch zusammengerollt und unter der Decke versteckt hätte, aber sie blieb stur sitzen, wandte den Blick wieder auf die Zeilen des Buches und bewegte sich keinen Zentimeter.

Warum?", fragte er zornig. „Du hast hier alles, was du brauchst, ich versuche dir alles zu geben, was du brauchst! Und das ist der Dank?!"

„Adam-", versuchte Julia ihn zu beruhigen und stand auf, aber er beachtete seine Frau gar nicht.

„Warum bestiehlst du mich?"

Sie antwortete nicht, verankerte nur ihre Augen in den Buchstaben. Ihr wurde warm. Ihr wurde sogar so warm, dass sie glaubte, in ihrem Pullover gleich in Flammen aufzugehen und sie spürte, wie sich ihre Atmung beschleunigte, wie ihre Muskeln starr wurden.

Wenn er jetzt zuschlagen würde, gab es nichts, das sie tun konnte, um sich zu wehren. Sie hatte ein Buch, aber Adam war größer und stärker und zorniger. Würde Julia ihr helfen? Oder würde sie bleiben, wo sie war und zusehen, so wie ihre Mutter manchmal tatenlos zugesehen hatte, wenn einer ihrer Männer auf sie oder Hannah eingeschlagen hatte? Würde Julia auch danach zu ihr kommen und sich entschuldigen und ihr sagen, dass sie aus Angst nichts getan hatte?

In ihrem Kopf formten sich erklärende Worte zu Sätzen, die plausibel und wahrhaftig klangen, aber ihre Zunge war wie gelähmt und sie brachte es nicht über sich und schließlich gab sie den Kampf gegen sich selbst auf.

Adam schüttelte ungläubig den Kopf, stampfte aus dem Wohnzimmer und kurz darauf knallte die Türe zu einem Arbeitszimmer zu und sie atmete vorsichtig die angehaltene Luft aus, um nicht aufzuschluchzen.

Julia hatte das Wohnzimmer längst verlassen, als ihr die Tränen über die Wange liefen.

Warum konnte er sie nicht endlich rauswerfen? Dann wäre Schluss mit diesem lächerlichen Schauspiel! Wie weit musste sie es noch treiben, bis er zugeben würde, dass er sie von Anfang an nicht hatte hier haben wollen?

Immerhin hatte sie das Geld.

Am Abend saß sie immer noch auf der Couch, aber sie hatte die Kopfhörer aufgesetzt und las in dem Buch weiter. Sie hatte nur mitbekommen, dass Andrew und Hannah nach Hause gekommen waren, aber keiner von beiden hatte sie beachtet. An diesem Punkt fühlte sie sich entweder zu sichtbar oder zu unsichtbar. Justin hatte Recht. Sie war immer zu viel.

So sehr sie es auch versuchte, sie konnte sich kaum noch auf das Buch konzentrieren, aber das hielt sie nicht davon ab, so zu tun, als wäre sie weiterhin total darin vertieft. Zumindest, bis die rote Pillenpackung plötzlich zwischen den Seiten des Buches landete, sie sich erschrocken die Kopfhörer runterriss und aufsah.

„Ist es deshalb?", fragte Julia, aber zu ihrer großen Überraschung klang sie nicht wütend, eher neutral. Vielleicht auch ein wenig neugierig. „Bestiehlst du Adam deshalb?"

Sie fand es frech, dass Julia in ihren Sachen herumwühlte und dann eine Antwort erwartete, die sie nichts anging, deshalb sagte sie auch nichts. Während sie die Packung im Ärmel ihres weiten Pullis verschwinden ließ, setzte Julia sich neben sie.

„Wenn du Adam nicht sagen willst, dass du die Pille nimmst, ist das okay. Das verstehe ich." Julia nickte. „Aber du hättest zu mir kommen können. Er ist wirklich sehr sauer." Sie sagte nichts. „Es war doch nicht das erste Mal, oder? Vor ein paar Tagen ist er zu mir gekommen und hat mich gefragt, ob ich für den Wochenendeinkauf an seinem Portemonnaie war."

Das überraschte sie tatsächlich, denn eigentlich hatte sie damit gerechnet, dass er sie von Anfang an unter Verdacht gehabt hatte. Sie atmete tief ein.

„Erzählst du es ihm?", fragte sie und konnte den bitteren Unterton in ihrer Stimme nicht verbergen. Julia zögerte.

„Nein." Sie sah Julia nicht an. „Ich sage ihm, dass ich mir das Geld geliehen und vergessen habe, ihm Bescheid zu geben." Julia beugte sich ein Stück vor, und wollte augenscheinlich, dass sie sich zu ihr drehte, aber sie tat es nicht. „Wenn du Geld für die Pille brauchst, dann komm ab jetzt bitte zu mir, anstatt Adam zu bestehlen. Versprichst du mir das?"

Sie hielt nicht viel von Versprechen. Versprechen waren nur Worte. Und Worte besaßen keine Materie. Und alles, was keine Materie war, war wertlos, oder?

Außerdem machte es sie wahnsinnig, dass Julia versuchte so nett zu ihr zu sein, wenn es doch wohl unmöglich war, dass sie sie nicht am liebsten auch vor die Türe gesetzt hätte, immerhin hatte sie gerade ihren Mann bestohlen. Julia fragte auch nicht, wie lange sie die Pille schon nahm, oder verlangte zu wissen, warum sie sie nahm oder ob sie in ihrem Alter schon Sex hatte und wollte auch nicht, dass sie aufhörte, die Pille zu nehmen.

Also nickte sie. Julia wartete noch einen Augenblick, aber sie sagte nichts mehr, also stand sie auf, ging in die Küche und begann mit der Zubereitung des Abendessens.

Beim Essen war Adam nicht mehr wütend, daraus schloss sie, dass Julia mit ihm geredet haben musste, aber das machte es ihr nicht leichter, in seiner Gegenwart entspannt zu bleiben.

Und Adam musste gewusst haben, dass seine Frau ihn angeflunkert hatte, denn er entschuldigte sich nicht bei ihr für seinen Wutausbruch.

*

Es musste irgendwann in der ersten Woche gewesen sein. Schon lange hatte sie sich nicht mehr so einsam und verloren und tot gefühlt. Normalerweise wäre sie mit Justin sprayen gegangen oder notfalls hätte sie sich zu Hannah ins Zimmer gelegt, einfach, damit sie nicht so alleine gewesen wäre.

Aber Hannah und Justin waren nicht da gewesen, somit hatte sie sich mitten in der Nacht aus dem Zimmer geschlichen, um Ryan zu sehen. Die Türen waren nicht jede Nacht verschlossen gewesen, nur in jenen, in denen die Mitarbeiter nicht gestört werden wollten. Sie hatte nie ganz herausgefunden, wann solche Nächte waren, aber in der Nacht, in der sie sie aus ihrem Zimmer gezerrt hatten, war eine dieser Nächte gewesen.

Ryans Zimmer hatte nur zwei Türen von ihrem entfernt gelegen. Ein bisschen hatte er sie immer an Justin erinnert und bei Justin fühlte sie sich sicher, deshalb überraschte es sie kein Bisschen, dass sie sich an ihrem absoluten Tiefpunkt zu Ryan hingezogen gefühlt hatte.

Und sie hatte gewusst, dass Ryan sie nicht aus seinem Zimmer werfen würde, denn über die ganze letzte Woche hinweg hatte sie seine Blicke auf ihr gespürt, aber es waren keine widerlichen, unangenehmen Blicke gewesen. Er hatte auch keine Gelegenheit verstreichen lassen, sich neben sie zu setzen oder mit ihr zu reden, obwohl sie nicht viele Antworten gegeben hatte, aber sie hatte begonnen, seine Anwesenheit zu tolerieren. Begonnen, seine Art zu mögen, die grauenhaften Campmitarbeiter mit einem schulterzucken nicht an sich heran zu lassen und das Beste aus jedem Tag zu machen.

Einmal hatten sie tatsächlich Bilder aus Makkaroni basteln sollen und während sie sich beschwert und gefragt hatte, ob sie so aussähe, als ginge sie noch in den Kindergarten, hatte Ryan die Nudelteilchen bunt angemalt, ihr amüsiert bei ihren Protesten zugehört und ein Blumenbild mit einem Fisch, der durch die Luft flog, gebastelt.

Seine Begeisterung für das fertige Bild hatte sie sogar ein wenig zum Lachen gebracht.

Dann hatte er aus ihren Makkaroni eine Halskette gebastelt und ihr um den Hals gehängt. Den ganzen Tag lang hatte sie diese Kette getragen.

Sie erinnerte sich nicht mehr daran, was aus ihr geworden war.

Als sie in dieser Nacht sein Zimmer betreten hatte, hatte er sich alarmiert aufgesetzt, bereit, sich zu verteidigen. Bestimmt hatte er einen Mitarbeiter erwartet, aber sie war zu klein, um einem der Mitarbeiter gerecht zu werden.

„Erschreck mich doch nicht so!", hatte er gezischt, als sie seinem Bett nahe genug gewesen war, dass er sie hatte erkennen können. Sie war wortlos zu ihm unter die Decke geschlüpft, hatte sich auf ihn gesetzt, zu sich gezogen und die Leere in sich weggeküsst. Sie war nicht überrascht gewesen, dass er sie so unbekümmert zurückgeküsst und an sich gezogen hatte. Er hatte kurz innegehalten, als sie sich ihr T-Shirt über den Kopf gezogen hatte, aber sie hatte ihre Lippen wieder auf seine gelegt und ihm nicht die Gelegenheit gegeben, sicherzustellen, dass passierte, was er vielleicht gehofft hatte, das passieren würde.

Sie dachte oft an diese Nacht zurück. Daran, dass eine einzige Entscheidung so viel kaputt gemacht hatte. Nicht nur kaputt gemacht, sie... sie hatte etwas in Bewegung gesetzt, das unverzeihlich war. Sie, für ihren Teil, würde es sich zumindest nie verzeihen. Und vergessen konnte sie auch nicht.

Immer wieder dachte sie daran, dass es ihre Schuld war. Dass Ryan sich vielleicht nicht um sie geschert hätte, wenn sie in dieser Nacht nicht auf sein Zimmer gekommen wäre und mit ihm geschlafen hätte. Vielleicht wäre er in jener Nacht, in der sie Durst gehabt und aus ihrem Zimmer in die Küche geschlichen war und auf den Aufpasser getroffen hatte, nie aus seinem Bett aufgestanden, weil er sie weinen gehört hatte. Vielleicht hätte er es ignoriert und versucht, weiter zu schlafen.

Und an den Tagen, an denen Selbsthass und Schuld ihre Tentakeln um sie schlangen und sie zu ersticken drohten, wusste sie, dass Ryan noch leben würde, wenn sie nicht gewesen wäre.

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