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„Kann ich einen Augenblick mit dir sprechen?", fragte Mr. Teakin und sie war kurz davor, den Kopf zu schütteln und mit Mia und Abby zusammen den Raum zu verlassen. Sie glaubte zu wissen, worüber Mr. Teakin mit ihr sprechen wollte. Und selbst, wenn es nicht so war, wollte sie nicht riskieren, dass sie recht hatte.

„Wir warten draußen", bot Mia an, aber sie schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht, dass die beiden ihre Pause auf dem Flur verbringen mussten. „Geht ruhig schon runter und holt euch was zu essen. Ich komm gleich nach."

Als auch der letzte Schüler den Raum verlassen hatte, begann sie nur langsam, ihre Sachen in ihre Tasche zu packen, einfach damit sie ihre Hände beschäftigen konnte.

Mr. Teakin lehnte sich an den Tisch, der in der Reihe vor ihrem stand und umfasste mit beiden Händen die Kante.

„Möchtest du mir sagen, was mit deiner Schwester los ist?", kam er sofort auf den Punkt. Sie war nicht überrascht, deshalb fiel ihr die Antwort auch nicht schwer.

„Ich bin nicht ganz sicher, was Sie meinen." Sie schob ihren Notizblock lächerlich bedacht in ihre Tasche.

„Erst war Isobel eine Woche ohne Krankmeldung nicht in der Schule und jetzt macht sie ihre Hausaufgaben nicht mehr. Was, wie ich hörte, in anderen Fächern ganz ihrem Stil entspricht, aber nicht in meinem. Sie hört auch nicht mehr zu, sie sieht nur so aus, als würde sie jede Sekunde einschlafen und das ist ein bisschen beleidigend." Er lächelte schief. „Geht es ihr gut?"

Sie zog den Reißverschluss an ihrem Federmäppchen zu und hob die Augenbrauen. „Ich schätze, das müssen Sie meine Schwester fragen."

„Ich habe versucht mit ihr zu reden", erwiderte er ernst und verschränkte die Arme vor der Brust. „Es war nur ein sehr einseitiges Gespräch."

Das glaubte sie ihm aufs Wort. „Ich kann Ihnen nicht mehr sagen", erwiderte sie schulterzuckend. „So ist Izzy nun mal. Sie hat sich nie für die Schule begeistern können."

Mr. Teakin betrachtete sie einen Augenblick nachdenklich, bevor er antwortete. „Sie macht sich sehr gut in meinem Unterricht, sonst hätte ich sie in Mathe nicht die Neunte überspringen lassen. Ich frage mich nur, wo dieser plötzliche Umschwung herkommt. Die Aufgaben, die sie mir abgibt, waren vor ein paar Wochen fehlerlos und jetzt sind sie es nicht mehr. Wenn sie mir überhaupt welche abgibt."

„Vielleicht ist die Zehnte doch zu schwer für sie", mutmaßte sie und versuchte die Bitterkeit in ihrer Stimme zu verstecken. Es war ihr immer noch ein Rätsel, wie Mr. Teakin behaupten konnte, dass Izzy eine gute Schülerin war.

Jetzt war ihr Tisch leer und sie konnte sich nicht mehr mit Wegräumen beschäftigen. Widerwillig sah sie zu Mr. Teakin auf. „Weißt du, ich bin auch Vertrauenslehrer. Wenn du mir etwas sagen möchtest, dann kannst du das tun, und es wird niemand sonst erfahren. Das habe ich deiner Schwester auch schon gesagt."

Oh, es hätte einiges gegeben, das sie Mr. Teakin jetzt hätte sagen können. Dass Izzy mit einem Fünfundzwanzigjährigen sieben Tage lang abgehauen war, zum Beispiel. Oder, dass es nicht das erste Mal war, dass Izzy so plötzlich und spurlos verschwunden war oder ihre Stimmung schneller und intensiver kippte als die Tagestemperaturen in den Tropen. Oder dass es sich ihrer Erfahrung nach in ein paar Tagen oder zwei Wochen wieder ändern und es Izzy wieder besser gehen würde, denn viel mehr als zur Schule gehen und sich danach im Bett zu verkriechen, machte ihre kleine Schwester im Augenblick nicht. Sie glaubte nicht einmal, dass Izzy sich nachts rausschlich, um zu sprayen. Sie hätte ihm auch sagen können, dass sie die absolut falsche Person war, um etwas über Izzy in Erfahrung zu bringen, denn Izzy erzählte ihr absolut gar nichts mehr aus ihrem Leben.

„Meiner Schwester geht es gut", versicherte sie mit einem breiten Lächeln. Es war zwar gelogen, aber sie fand nicht, dass sie das Recht hatte, Mr. Teakin etwas über Izzy zu erzählen, was Izzy nicht von selbst erzählen wollte. Und sie fand nicht, dass Mr. Teakin das Recht auf Informationen über ihr Privatleben hatte. „Sie steckt in der Pubertät. Sie kriegt sich sicher bald wieder ein."

Er lächelte kaum überzeugt, stieß sich aber vom Tisch ab und ging an sein Pult zurück. „Genieße deine Pause, Hannah. Wir sehen uns am Montag."

Zum Mittagessen waren fast alle zu Hause, weil Freitag war, sie und Izzy schon um zwei von der Schule kamen und bei Andrew die letzte Stunde ausgefallen war. Nur Adam fehlte und während Julia ihre übliche Wie-geht-es-euch Fragerunde spielte und dabei April fütterte, klebten ihre Gedanken bei Mr. Teakin und Izzy.

Ihre Schwester stocherte nur lustlos in den Bratkartoffeln und ihrer Hühnerbrust herum und sie musste daran denken, wie seltsam es doch war, dass es Izzy hier im Schlaraffenland, nach so vielen Jahren kalter Winternächte wegen unbezahlter Stromrechnungen und Mikrowellenfraß, keinen Deut besser ging. Ihr ging es besser. Ein bisschen zumindest. Es war wunderbar, sich nicht so viele Sorgen machen und nicht ständig an alles denken zu müssen. Diesen Part übernahm Julia und seit ein paar Wochen war das auch okay für sie.

Aber dass es Izzy unverändert schlecht ging, musste bedeuten, dass es etwas anderes in ihrem Leben gab, das an ihr nagte. Etwas anderes als Mom und die schäbige Wohnung und ihre alte Schulte.

Aber darüber nachzudenken hätte geheißen, sich eingestehen zu müssen, dass Izzys Probleme weitaus größer waren, als sie sich all die Jahre hatte einreden wollen und dazu war sie nicht bereit, also wandte sie den Blick ab und versuchte sich auf Julia zu konzentrieren, die Andrew besorgt musterte und den Kopf schräg gelegt hatte.

„Wie geht es ihm denn?", fragte Julia und sie brauchte einen Augenblick um zu begreifen, von wem die Rede war.

„Keine Ahnung", gab Andrew zurück und trank einen Schluck Cola. „Er meldet sich nicht und geht nicht ran, wenn ich ihn anrufe oder ihm schreibe."

Julia sah so betroffen aus, dass es ihr selbst das Herz zusammenzog. Julia mochte vielleicht vor zehn Jahren keine perfekte Mutter für Andrew gewesen sein, aber sie glaubte, dass sie sich im Ausgleich dafür für jeden Menschen auf dieser Welt verantwortlich fühlte.

„Fahr doch Mal zu ihm", schlug sie vor, aber Andrew schüttelte den Kopf.

„Er will alleine sein, Mom. Er will in Ruhe gelassen werden, sonst hätte er sich gemeldet." Andrew legte seine Gabel und sein Messer zur Seite. Ihm schien es den Appetit vertrieben zu haben, was sie überraschte, denn er und Mason hatten schon über Darmoperationen bei Tisch geredet und unbekümmert weiter gegessen. „Er hat zugesehen, wie seine Mom gestorben ist. Da hätte ich auch keine Lust, jemanden zu sehen und mir von Leuten sagen zu lassen, wie Leid es ihnen tut und dass es irgendwann besser wird."

Das Argument leuchtete ihr ein. Sie hatte es auch immer gehasst, wenn Nachbarn oder Ärzte oder die Leute vom Jugendamt oder Lehrer oder sonst jemand zu ihr gesagt hatte, dass es ihnen leid tat, wie die Situation mit ihrer Mom ausgeartet war.

Beileid half nicht, es half nur jenen, die es aussprachen, weil sie sich nutzlos fühlten und es -um ehrlich zu sein- auch waren. Wenn schlimme Dinge passierten, wollten die meisten Leute keine halbherzigen Beileidsbekundungen, sondern nur Leute, deren Schweigen und deren Hand in diesen Zeiten mehr Kraft schenkten als alle Worte dieser Welt.

Izzy war für sie so ein Mensch gewesen, aber mit der Zeit war sie ihr entglitten und mittlerweile hatte sie niemanden mehr, an den sie sich in schweren Zeiten lehnen würde. Nur sich selbst.

„Von wem redet ihr?", fragte ihre Schwester, die plötzlich mehr als interessiert aber auch alarmiert aussah.

Andrew sah Izzy nicht einmal an, als er antwortete. „Ethan."

Sie ließ ihre Schwester nicht aus den Augen und merkte, wie Izzy plötzlich ganz ruhig wurde. Sich nicht mehr bewegte und Andrew ansah, als hätte er ihr eben gesagt, dass ein Mann mit Pistole auf ihren Hinterkopf zielte.

Sie wusste von Mia, dass Ethans Mom vor einer knappen Woche verstorben war, denn Mia war die Einzige gewesen, die ihn mit Anrufen und Textnachrichten penetriert hatte, nachdem er sich fünf Tage bei niemandem gemeldet hatte. Irgendwann hatte er nachgegeben und ihr gesagt, dass seine Mom gestorben war und sie ihn in Ruhe lassen sollte. Seitdem konnte ihn niemand mehr erreichen.

Mia wurde deshalb schon halb verrückt und hatte erst heute in der Mittagspause gesagt, dass sie Angst hatte, dass Ethan sich umbringen und niemand etwas davon mitbekommen würde. Das war natürlich sehr weit hergeholt, aber Andrew hatte wohl recht, wenn er sagte, dass Ethan im Augenblick einfach niemanden sehen und mit niemandem reden wollte.

„Seine Mutter ist gestorben?", hakte Izzy nach und klang immer noch genauso erschrocken, wie sie aussah.

Jetzt drehte Andrew sich zu ihrer kleinen Schwester und musterte sie. „Ja."

Izzy starrte eine lange Zeit zurück, bevor sie ihren Stuhl hastig nach hinten schob. „Ich bin fertig, kann ich auf mein Zimmer?"

„Sicher", nickte Julia irritiert, während sie auf Izzys vollen Teller blickte.

Sie sah Izzy nach, während sie die Treppen hinauf verschwand. Dass sie und Ethan ein paar Mal Zeit miteinander verbracht hatten, wusste sie. Aber ihr Bauchgefühl verriet ihr, dass noch etwas anderes dahinter steckte. Etwas, das Izzy ihr bestimmt nicht verraten würde.

„Ich bin auch fertig", sagte sie schnell, obwohl auch sie ihr Essen kaum angerührt hatte. „Es hat ausgezeichnet geschmeckt, wie immer. Kann ich auch auf mein Zimmer?"

Julia hob die Augenbrauen, aber es war eher Verwunderung als Missbilligung. „Du musst nicht fragen."

Also folgte sie ihrer Schwester nach oben, fand Izzy aber nicht auf ihrem Zimmer, sondern vor dem Badezimmerspiegel.

Sie betrat den Raum und schloss die Türe hinter sich, damit Julia und Andrew nicht jedes Wort mitbekamen. Izzy nahm den Blick nicht von ihrer eigenen Reflexion.

„Ich will mir die Haare färben", sagte ihre Schwester wie aus dem Nichts. „Schwarz."

Sie verzog das Gesicht. „Bitte nicht. Du bist ohnehin schon so blass."

„Ich mag das", war ihre Antwort. Izzy umfasste mit beiden Händen den Rand des Waschbeckens und sie wusste, dass sie nicht wirklich über Haarfarben sprechen wollte.

Sie seufzte. „Was ist los?"

„Was soll los sein?"

Sie klappte den Deckel der Toilette hinunter und setzte sich darauf. „Sag du es mir."

Jetzt sah Izzy sie an. Es war das erste Mal seit langem und obwohl ihr Gesicht nichts von ihrer Gefühlswelt preisgab, erkannte sie, wie erschöpft Izzy war. Nicht körperlich. Seelisch. Psychisch. Mental.

„Ich mochte seine Mom...", sagte Izzy.

„Du kanntest sie?"

„Ich hab sie nur ein oder zwei Mal gesehen... aber sie war... eine gute Mutter, denke ich. Eine richtige." Eine andere, als wir sie haben.

„Also... ist Ethan der Junge, wegen dem du plötzlich die Harry Potter Bände liest?", wagte sie den Schuss ins Blaue und traf offenbar ins Schwarze, sonst hätte Izzy den Blick nicht wieder grimmig ihrem eigenen Spiegelbild zugewandt. „Macht es dich traurig, dass seine Mom tot ist?"

„Er hat das einfach nicht verdient", murmelte Izzy dann niedergeschlagen. „Warum muss seine Mutter -eine gute Mutter, an die Ethan nur gute Erinnerungen hat- sterben, während unsere weiter leben darf?"

„Izzy!" Ihr blieb fast die Luft weg, als sie ihre Schwester das sagen hörte.

„Es ist nicht fair!", schoss Izzy wütend zurück. „Unser Leben ist schon beschissen, aber warum muss Leuten so etwas passieren, die ein gutes Leben haben und die es nicht verdient haben?"

Warum muss Leuten so etwas passieren, die es nicht verdient haben? Sie wiederholte Izzys Worte im Stillen und las eine ganz andere Bedeutung in ihnen, als ihre Schwester vielleicht hatte preisgeben wollen.

„Du findest, dass wir alles, was geschehen ist, verdient haben?", hakte sie leise nach. Ihre Schwester wurde ihr mit jedem Tag rätselhafter. Vielleicht hielt sie sich deshalb von ihr fern. Sie wurde aus Izzy einfach nicht schlau. Ihre kleine Schwester konnte doch unmöglich denken, dass sie ihre Vergangenheit verdient hatten. Ihre Gegenwart. All die schlaflosen hungrigen Nächte, in denen sie sich vor Mom versteckt hatten, weil sie so wütend gewesen und im Wohnzimmer herumgeschrien und mit Gegenständen um sich geworfen hatte.

Aber Izzy reagierte nicht darauf sondern betrachtete wieder ausdruckslos ihre Haare. „Wenn ich Farbe kaufe, färbst du mir die Haare?"

„Du weichst meiner Frage aus."

„Und du beantwortest meine nicht."

„Ich färbe dir deine Haare nicht."

Izzy stieß sich vom Waschbecken ab. „Schön, dann mach ich es selbst." Mit diesen Worten verschwand sie aus dem Badezimmer auf ihr Schlafzimmer und schloss die Türe hinter sich.

*

Bist du zu Hause?

Der Begriff zu Hause war für sie relativ breit gefächert. Aber sie wusste, was er mit dieser Textnachricht meinte. Nur war sie sich nicht ganz sicher, warum er fragte.

Ja, wieso?

Darauf kam keine Antwort mehr und das wunderte sie noch mehr. Denn normalerweise kam nach so einer Frage ein Anruf. Sie legte ihr Handy zur Seite und wandte sich wieder ihren Mathehausaufgaben zu.

Es war Sonntagnachmittag und außer ihr und Izzy war niemand zu Hause. Andrew war bei Abby, Julia war mit April bei ihren Eltern und Adam war... einfach nicht da. Bestimmt hatte auch er etwas Wichtiges zu tun, aber sie wusste ihre Aufmerksamkeit besser aufzuteilen, als ihm ein so großes Stück davon zukommen zu lassen.

Sie vergrub die Finger in ihren Haaren und war schon seit zehn Minuten kurz davor, Izzy zu fragen, ob sie mit ihrem angeblich so brillanten Mathegehirn verstand, wie zur Hölle sie dieses Textbeispiel zu verstehen hatte, aber ihr Stolz hielt sie davon ab, ihre kleine Schwester für eine lächerliche Hausaufgabe um Hilfe zu bitten. Besonders, da Izzy laut Mr. Teakin in letzter Zeit ohnehin nicht viel für Mathe übrig zu haben schien.

Nein, sie brauchte Izzy nicht dafür, sie würde es auch so schaffen.

Es ging um das Wachstum einer Bakterienkultur. Sie sollte die Bakterienzahl in Abhängigkeit der Zeit mithilfe einer Wachstumsfunktion beschreiben.

Sie hasste Exponentialfunktionen. Etwas hatten diese bestimmten Funktionen an sich, mit dem sie einfach nicht warm wurde, dabei ergab es so viel Sinn, wenn Mr. Teakin es auf der Tafel vorrechnete.

„Weißt du, wenn du Hilfe brauchst...", meinte Izzy und sie drehte sich zu ihrer Schwester, die mit dem fünften Harry Potter Band auf ihrem Bett lag. Izzy war vor einer Stunde wortlos in ihre Zimmer gekommen, hatte sich auf ihr Bett gelegt und zu lesen begonnen. Es störte sie nicht unbedingt ihre Schwester auf ihrem Zimmer zu haben, so wusste sie wenigstens, dass sie nicht bei Justin war, aber es ärgerte sie, dass Izzy mitbekam, dass sie seit guten zwanzig Minuten auf dieselbe Seite starrte und immer wieder Sachen aufschrieb und wieder durchstrich.

„Ich brauche deine Hilfe nicht", murrte sie. „Du bist außerdem in der Zehnten und nicht in der Elften. Diese Aufgaben würdest du gar nicht verstehen." Diese kleine Bemerkung hatte sie gebraucht, auch wenn sie Izzys brennenden Todesblick auf sich spüren konnte.

Izzy war nie gut in der Schule gewesen und doch war sie es, die in Mathe eine Klasse an einer neuen Schule überspringen durfte. Daran würde sie noch eine Weile zu knabbern haben.

Plötzlich klingelte es an der Türe und Izzy sah von ihrem Buch auf und sie blickte von ihren Matheaufgaben hoch.

„Ich mach nicht auf", sagte Izzy nach ein paar Sekunden und senkte die Augen wieder auf die Seiten. Sie ließ den Stift seufzend fallen, schwang sich aus dem Stuhl und galoppierte die Treppen nach unten. Wahrscheinlich hatte Andrew wieder seine Schlüssel vergessen.

Doch es war nicht Andrew, der vor der Türe stand. Und während sie noch damit beschäftigt war, ihren Unterkiefer vom Boden aufzuheben, grinste Jason sie an, halb unsicher, halb aufgeregt.

„Du siehst mich an, als hättest du einen Geist gesehen", bemerkte er und sie musste sich daran erinnern zu atmen.

„Oh mein Gott, was zur Hölle machst du hier?"

„Ich glaube, ich habe noch nie jemandem das Wort Gott und Hölle im selben Satz verwenden hören. Beeindruckend."

Sie lachte auf und noch bevor es ihr bewusst war, zog sie ihn in eine freudige Umarmung. Aber nur kurz, weil ihr schon nach wenigen Augenblicken bewusst wurde, dass sie sich noch nie so nahe gewesen waren und sie ihn wieder losließ und ein wenig Abstand zwischen sie brachte.

„Was machst du hier?" Jetzt, da sich der erste Schock gelegt hatte und sie sich sicher war, dass sie nicht vor lauter Exponentialfunktionsterror zu halluzinieren begann, fiel es ihr schwer, das Grinsen zu unterdrücken. Er schob die Hände zurück in die Jackentaschen und erst jetzt wurde ihr bewusst, dass es draußen schneite und sie mit der geöffneten Türe die ganze Kälte ins Haus lies, aber es war ihr egal.

„Eigentlich bin ich beruflich hier. Theoretisch. Ich hatte heute drei Flüge und mein letzter ist hier ins Alaska gelandet. Ich fliege erst morgen Abend wieder."

Sie glaubte, ihrem Gehirn nicht genug Sauerstoff zur Verfügung zu stellen, damit es seine Worte verarbeiten konnte, aber er war hier und er würde bis morgen hier bleiben und er war hier! Vor ihrer Türe. Sie freute sich unheimlich, keine Frage, aber sie war so sehr damit beschäftigt, ruhig zu atmen, dass sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte.

„Hast du Zeit?", fragte er und sie verschränkte die Arme vor der Brust.

„Das hättest du vielleicht fragen sollen, bevor du den ganzen Weg hier her gefahren bist", grinste sie.

Er zuckte mit den Schultern. „Ich gehe gerne Risiken ein."

Sie nickte. „Danke, das erinnert mich daran, dass ich niemals zu dir in ein Flugzeug steigen werde."

Er lachte. Sein ganzes Gesicht war so hell und voller Leben und Freude und so anders als die Gesichter und Wesen und Persönlichkeiten jener Menschen, von denen sie Tag für Tag umgeben war. Sie fand fast, dass die Energie, die er ausstrahlte, nicht an einen so grauen und verschneiten Ort passte.

Kein Wunder, dass er Dubai so gerne hatte. Dort schien fast jeden Tag die Sonne.

„Also?", fragte er.

„Hm?", machte sie halb verträumt, halb verwirrt.

Sein Grinsen wurde breiter. „Hast du Zeit?"

„Oh! Äh... ja!" Sie nickte hastig. „Ja, ich... gib mir nur eine Minute, ich hol meine Jacke. Komm so lange rein." Sie ließ ihn ins Haus und war gottfroh, dass Adam und Julia und besonders Andrew nicht zu Hause waren. Besonders Andrew hätte sofort Mia davon erzählt, nur um sie zu ärgern.

Hastig lief sie die Treppen nach oben. Ihre Jacke hing unten auf dem Garderobenhaken, aber sie trug nur eine Jogginghose und ein T-Shirt und ihre Haare sahen furchtbar aus und sie hatte heute nicht geduscht und- Himmel, Herrgott und Jesus!

Izzy betrachtete sie irritiert über den Rand ihres Buches hinweg, während sie hektisch ihre Jogginghose abstreifte, dabei beinahe stolperte, sich aber problemlos eine enge, schwarze Jeans anzog, einen weißen, flauschigen Strickpullover mit Stehkragen überzog und ihre Haare, die sie sehr zu ihrem Missfallen weder gestern Abend noch heute Morgen geglättet hatte, weil sie nicht damit gerechnet hatte, aus dem Haus zu gehen, oder mit ihrem absoluten Traummann ein spontanes Date (war es denn ein Date? Sie wollte, dass es eines war, aber es gab eine ganze Liste von Gründen, warum es keinesfalls ein Date sein sollte!) haben würde, zu einem Pferdeschwanz. Normalerweise trug sie keine Pferdeschwänze, weil ihre Haare zu lang und zu schwer waren und sie nach einiger Zeit Kopfschmerzen bekam, aber das war ihr im Augenblick egal, sie musste ihre Mähne bändigen und hatte keine Zeit für einen schönen, kunstvollen Dutt, verdammt. Deo, Parfüm, Lipgloss, ein bisschen Rouge auf die Wangen, damit sie nicht so tot aussah und Mascara.

„Wer zur Hölle hat denn da an der Tür geklingelt?", fragte Izzy mit einer Mischung aus Irritation und Abscheu.

„Der Postbote."

Izzy stieß amüsiert die Luft aus. „Klar..."

„Ich bin kurz weg", sagte sie aufgeregt zu Izzy. „Vor dem Abendessen bin ich wieder zurück." Ihre Wangen taten weh und während sie die Treppen wieder nach unten lief, ermahnte sie sich, nicht so dämlich zu grinsen. Sie zog sich noch schnell Schuhe und Jacke an, wickelte sich den Schal um und griff nach ihrer Tasche.

„Ich hoffe ich habe dich nicht bei irgendwas gestört", sagte er, als sie aus dem Haus zurück in die Kälte und die Schneeflocken getreten waren.

„Nein, um genau zu sein hast du mich gerettet", grinste sie.

„Wovor?", fragte er amüsiert.

„Mathe."

„Mathe?"

„Ja, meine Hausaufgaben waren kurz davor, mir den Verstand zu rauben und dann hätte dir ein sabberndes, lallendes Monster die Türe aufgemacht. Oder schlimmer!"

„Was ist schlimmer als ein sabberndes, lallendes Monster?"

„Meine Schwester."

Er schüttelte lächelnd den Kopf. „Mathematik ist wirklich keine Hexerei."

„Da hast du absolut recht, es ist ein Teufelswerk."

Jetzt lachte er und sein Lachen war eines dieser ehrlich glücklichen Geräusche, die einem das Gefühl haben, ganz leicht zu werden und fliegen zu können. Oder vielleicht war das auch nur ihre Aufregung.

Es war kalt und der Schnee lag bestimmt schon zwanzig Zentimeter hoch auf den Straßen, aber es wehte kein Wind. Sie beschlossen, sich auf den Weg in die Stadt zu machen, da, wo die ganzen Weihnachtsmärkte ihre Stände aufgebaut hatten.

„Warst du schon bei deiner Familie?", fragte sie und er schüttelte den Kopf.

„Nein, ich bin ins Hotel gefahren, hab mich umgezogen und dann gefunden, dass ich dich viel lieber habe, als meine nervige Schwester, die mich völlig ignoriert, seit sie einen Freund hat und meine Mom, die mich immer noch täglich daran erinnert, dass ich Weichspüler verwenden soll, wenn ich meine Wäsche wasche."

Sie musste lachen. „Und dein Dad?"

„Mein Dad ist die einzig normale Person in diesem Haushalt, wenn du mich fragst, aber er arbeitet heute."

Ihr fiel auf, dass sie Mias Dad noch nie gesehen hatte. Er war seltener zu Hause als ihre Mom, aber von Mias Erzählungen ging hervor, dass ihr Dad toll sein musste.

Sie war nicht unbedingt neidisch darauf, dass Mia einen tollen Dad hatte, aber an manchen Tagen war sie auf das Gesamtpaket neidisch. Auf Mias Mom, auf ihren Dad, auf das Haus, auf das Geld, auf ihr tolles Aussehen und darauf, dass sie jetzt auch noch eine Beziehung hatte, mit der sie glücklich war. Aber das würde sie nie zugeben.

„Keine Sorge", lächelte sie dann. „Mich ignoriert Mia auch, seit sie mit Hao zusammen ist."

„Meine Schwester hatte schon immer die Aufmerksamkeitsspanne einer Zucchini", schüttelte er den Kopf. „Aber wenn man ihr nicht alle Aufmerksamkeit der Welt schenkt, dann wird sie zickig."

Sie wusste nicht warum, aber sein Tonfall war umgeschwungen. War ein bisschen ernster, einen Hauch bitter geworden, aber bevor sie ihn darauf ansprechen konnte, lachte er schon wieder.

„Ich muss sie lieb haben. Ich bin schließlich ihr großer Bruder und die Familie kann man sich nicht aussuchen." Er sah sie an. „Du kannst wenigstens vor ihr davon laufen."

Sie lachte. „Ich will doch gar nicht vor ihr davon laufen."

„Oh, es werden Zeiten kommen, da wirst du vor Mia davonsprinten wollen."

Sie musste wieder lachen. Er redete über Mia, wie über Izzy sprach, deshalb wusste sie, dass seine Worte in gewisser Weise mit Liebe verbunden waren.

„Sie ist eine kleine Prinzessin", sagte er. „Sie ist es gewohnt, dass sie bekommt, was sie will und dass Mom und Dad auf ihrer Seite stehen." Er sah sie an. „Sie nimmt an, dass es für dich okay ist, dass sie mehr Zeit mit Hao verbringt. Weil es immer für alle okay sein muss, was sie tut. Sie meint es nicht böse. Manchmal schaut sie einfach nicht über den Tellerrand hinaus."

„Ich weiß." Sie nickte und lächelte sanft. Es tat gut, von ihm zu hören, dass es nicht an ihr lag, dass Mia ein gute Mensch und bestimmt eine gute Freundin war. Vielleicht sollte sie sie anrufen und ihr einfach sagen, wie sie sich fühlte. Vielleicht war es Mia ja wirklich nicht in den Sinn gekommen, dass es Menschen verletzte, wenn man sie vernachlässigte. Oder vielleicht war ihr auch einfach gar nicht aufgefallen, dass sie ständig Versetzte.

Aber sie war es gewohnt, Freundschaften abzubrechen wie Eiszapfen vom Terrassendach, weil es leichter war, als sich mit Diskussionen und Problemen und Lösungen herumzuschlagen. Letztendlich brach doch ohnehin jede Freundschaft. Aber wenn sie ehrlich war, dann wollte sie diese bestimmte Freundschaft noch nicht beenden.

Der kleine Weihnachtsmarkt war nichts im Vergleich zu den Weihnachtsmärkten, die Jason ihr aus New York schilderte, sobald er gemerkt hatte, wie sehr sie sich für Weihnachten und die ganzen Lichter und Schneemänner und Christbäume begeistern konnte. Sie hatte auch noch nie ein Einkaufszentrum betreten, das groß genug gewesen wäre, um riesige Gold- und Silbersterne von der Decke baumeln zu lassen, aber sie stellte es sich fast magisch vor.

Weihnachten war immer ihre liebste Zeit im Jahr, obwohl sie mit Mom und Izzy nie ein richtiges Weihnachten, so wie sie es sich vorstellte, gehabt hatte. Aber dieses Jahr würde sie ein tolles filmreifes Weihnachtsfest erleben, denn Julia backte schon seit einer Woche alle möglichen Kekse und lies im Hintergrund Weihnachtslieder laufen. Sie redete mit Adam schon über die Größe des Baumes und ob er dieses Jahr wieder am selben Platz zwischen Fenster und Fernseher stehen sollte.

Dieses Jahr würde ein richtiges Weihnachten werden und darauf freute sie sich.

„Ich möchte unbedingt mal nach New York und all das mit meinen eigenen Augen sehen", seufzte sie, als sie sich an einem kleinen Holzstand alkoholfreien Früchtepunsch holten, um sich ein wenig aufzuwärmen. „Ich stelle mir New York im Schneefall toll vor."

„Das kommt darauf an, was du dir erwartest", lachte er. „Der Schnee in New York ist auf jeden Fall nicht so weiß wie hier. Hier sind die Landschaften weiß und die Bergspitzen und die Seen sind eingefroren und man kann auf ihnen Eislaufen, aber in New York siehst du nur Gebäude und grauen, matschigen, zertretenen Schnee."

Ihr Herz setzte kurz aus, als er das Eislaufen ansprach. Als Kind hatte sie Izzy manchmal geschnappt, sie zusammen mit den Eislaufschuhen der beiden in den Bus verfrachtet und war mit ihr so weit wie möglich aus Anchorage rausgefahren. Ein Fußmarsch von etwa fünfzehn Minuten durch Schnee und Bäume hatte zu einem eingefrorenen See geführt, auf dem außer ihnen oft noch vereinzelt andere Leute eisgelaufen waren, aber im Großen und Ganzen war es ihr kleiner Geheimort gewesen. Damals hatte Izzy noch gelacht und Freude an solchen Dingen gehabt.

„Du findest die Winter in New York also nicht so schön wie hier?", fragte sie, um ihre Gedanken ans Eislaufen und an eine glückliche Izzy zu vertreiben.

„Auf jeden Fall", nickte er. „Alles hier ist besser als in New York."

„Warum bist du dann dorthin gezogen?", hakte sie nach.

„Wegen meinem Job."

Sie rollte milde mit den Augen. „Das weiß ich. Aber ist es dir das wirklich wert?"

Er zuckte mit den Schultern und trank einen Schluck von dem dampfenden Getränk, das in einer roten Weihnachtsmanntasse ruhte. „Ich bin ohnehin ständig wo anders. Ob ich hier oder in New York meinen Wohnsitz gemeldet habe, ist auch schon egal. Selbst wenn ich noch hier wohnen würde, würde ich ständig wegwollen." Er grinste schief. „Ich habe eben immer Fernweh."

Dieses Gefühl kannte sie nicht, aber das lag vielleicht daran, dass sie außer Alaska kein anderes Land kannte. Sie träumte zwar davon, die Welt zu sehen, aber sie wollte nicht weg von hier. Sie fühlte sich wohl in dieser kalten, verschneiten, Großteils naturbelassene Gegend. Der Gedanke daran, nirgends wirklich zu Hause zu sein oder sich nie wirklich geborgen und zufrieden zu fühlen, wenn man in seinen eigenen vier Wänden war, kam ihr nicht. Sie hatte gerne einen fixen Pol, zu dem sie jeden Tag zurückkehren konnte.

Aber sie hatte ja auch nicht vor, Pilotin zu werden.

„Willst du denn niemals zu Hause sein?", fragte sie, fasziniert davon, dass jemand so ganz anders als sie sein konnte, sie sich aber trotzdem hervorragend mit ihm verstand.

„Natürlich", nickte er. „Für ein paar Tage. Aber dann zieht es mich wieder in die Welt hinaus." Er breitete die Arme aus. „Selbst, wenn es nicht mein Beruf wäre, mit einem Flugzeug von Land zu Land zu fliegen, würde ich bei jeder sich bietenden Möglichkeit meinen Koffer packen und wo anders hinfahren."

„Aber wieso?" Sie bekam dieses Gefühl einfach nicht in ihren Kopf hinein. Er blieb geduldig.

„Weil es da draußen so unfassbar viel zu sehen gibt." Er sah sie ernst an und seine Augen leuchteten mit einer Art Begeisterung, die sie nur zu gut kannte. Es war die Art, die sie verspürt hatte, wenn sie das Eis betreten hatte.

Und plötzlich verstand sie.

Jason wurde auf dieselbe Art von Ort zu Ort gezogen, wie sie auf das Eis gezogen wurde. Manchmal hatte sie das Gefühl gehabt, dass ihre Sucht nach dem Eislaufen abartig war. Sie hatte immer daran gedacht, auf dem Eis sein zu können. In der Schule, beim Essen, bei den Hausaufgaben, sie hatte jede Nacht davon geträumt und tat es immer noch, aber mittlerweile waren ihre schönen Träume durch Alpträume ersetzt worden. Sie hatte es nie abwarten können, wieder ihre Eislaufschuhe zu binden und auf dem Eis schweben zu können. Die Tage hatten sich immer mittelmäßig und grau angefühlt und sie war nie ganz zufrieden gewesen, bis sie einen Fuß aufs Eis hatte setzen können.

Auf dem Eis zu tanzen hatte sich mehr wie der natürliche Strom und Rhythmus ihres Körpers angefühlt als alles andere auf dieser Welt. Das Eis war ihr zu Hause gewesen. Ihre Komfortzone, der Ort, an dem sie sich unbesiegbar gefühlt hatte und sicherer als in ihrem Bett.

Es hatte nie etwas Vergleichbares gegeben und sie fühlte sich wieder beklommen, als sie daran dachte, dass sie dieses besondere Gefühl nie wieder erleben würde. Dass sie das Gefühl angekommen zu sein, zu Hause zu sein, nie mehr erleben würde.

„Alles okay?", fragte er. Ihr Stimmungswechsel musste ihr anzusehen sein und sie wischte ihn mit einem Lächeln fort.

„Ja, ich glaube, ich verstehe jetzt, was du meinst."

„Du hast ans Eislaufen gedacht, oder?"

Sie war überrascht, aber auch wieder nicht, wenn sie an das Gespräch in Mias Haus in der Küche zurückdachte.

„Ja", stieß sie seufzend aus, sagte aber nicht mehr dazu und das war vielleicht Zeichen genug für ihn, dass sie nicht darüber reden wollte.

Der graue Himmel verlor langsam sein Licht und ein kühler Wind zog auf, der sie beide frösteln ließ. Sie waren so weit in die Stadt hineingegangen, dass Adams Haus nicht mehr unbedingt einen Katzensprung entfernt war, also schlug er vor: „Wenn du möchtest, kannst du kurz auf mein Hotelzimmer mitkommen, dich aufwärmen, bevor du wieder nach Hause gehst."

Sofort stiegen ihr unanständige Bilder in den Kopf und sie hasste sich dafür, weil Jason sie so unschuldig musterte. Er hatte bestimmt anständige Gedanken und sie rügte sich für ihr dreistes Gehirn.

Da ihre Finger schon ganz taub und rot waren und auch durch das ganze Kneten nicht warm werden wollten und ihre Hüfte und ihr Becken seit einer Weile ächzten und sich nach einer Pause sehnten, stimmte sie dankbar zu.

Außerdem war sie neugierig, wie sein Hotelzimmer wohl aussehen mochte. Er hatte ihr erzählt, dass seine Fluggesellschaft ausnahmslos jedes Mal für seine Unterkunft aufkam und diese meist auch noch verdammt ansehnlich waren.

Gelogen hatte er nicht.

Das Hotel war nur acht Minuten entfernt, hatte riesige Glastüren und an der Rezeption saß ein junger Mann in grauem Anzug, der den beiden freundlich zulächelte und ihnen einen guten Abend wünschte.

Sie fühlte sich fehl am Platz in so einem schicken Hotel mit all dem Glas und den glänzenden Böden und den roten Teppichen und den grünen Pflanzen und dem Fahrstuhl, der ebenfalls komplett aus Glas war. Sie war froh, dass sie keine Treppen steigen musste, das hätte ihr ihr Körper nicht verziehen.

„Cooler Job", murmelte sie, als Jason im Fahrstuhl auf die drei drückte. Er lachte.

„Er hat seine Vorzüge, ja."

Sie verschluckte sich fast vor Unglaube. „Du nennst das Vorzug?"

„Wie soll ich es sonst nennen?"

„Keine Ahnung, vielleicht... Der einzige Grund, niemals den Job zu wechseln." Vielleicht würde sie doch auch Flugbegleiterin oder so etwas werden.

Amüsiert zog er die Augenbrauen zusammen. „Wegen ein paar Hotelzimmern?"

Wenn er gewusst hätte, dass diese paar Hotelzimmer mehr Stil hatten als ihre alte Wohnung in Anchorage, hätte er vielleicht nicht so irritiert ausgesehen.

Der Flur zu seinem Zimmer war lang und schmal und mit dicken Teppichen ausgelegt und die Türen lagen alle weit genug voneinander entfernt, sodass sie sich die Größe der einzelnen Zimmer ausmalen konnte, noch bevor er die Türe aufgesperrt hatte und sie zuerst eintreten ließ. Er schaltete das Licht ein, weil es draußen düster wurde und sie ließ ihren Blick neugierig durch das Zimmer gleiten.

Das Zimmer war in dunklen Blau- und Grautönen gehalten mit einem bemusterten Teppichboden, einem riesigen Doppelbett, einem kleinen Tisch mit einem Armsessel und einem Divan der vor dem Fenster stand, von dem aus man über die niedrigen Gebäude der Stadt und auf die Berge in der Ferne blicken konnte.

„Ein Vorzug", murmelte sie und hörte ihn hinter sich leise lachen, während sie vorsichtig weiter ins Zimmer eintrat, unsicher, wie weit sie sich vorwagen sollte. Er war definitiv entspannter als sie, das spürte sie an seinen Bewegungen.

Hinter der angrenzenden geschlossenen Türe lag vermutlich das Badezimmer. Sie bemerkte einen kleinen, schwarzen Rollkoffer neben dem Bett stehen und drehte sich zu Jason, der sich gerade die Jacke auszog und auf einen Haken aus dem Kleiderschrank hängte.

„Räumst du deinen Koffer nie aus?", fragte sie und er schüttelte den Kopf.

„Nicht, wenn ich am nächsten Tag schon wieder fliege. Ich bin viel zu faul dafür. Außerdem bin ich am überlegen, nachher noch zu meiner Familie zu fahren und die Nacht dort zu verbringen."

Sie nickte und knetete ihre Hände immer noch, aber nicht mehr, weil sie so kalt waren, aber das konnte er ja nicht wissen. Jason lächelte.

„Willst du nicht die Jacke ausziehen?" Er nahm noch einen Kleiderhaken von der Stange im Schrank und kam auf sie zu. Ihr war ziemlich warm, denn der Temperaturunterschied war gewaltig, aber ohne ihre Jacke fühlte sie sich angreifbarer. Diese Empfindung fand sie fast lächerlich, schließlich hatte sie keine Angst vor ihm. Aber sie musste daran denken, dass sie sich vielleicht ein hübscheres Oberteil angezogen hätte, wenn sie gewusst hätte, dass sie ihre Jacke ausziehen würde.

Trotzdem knöpfte sie sich den Mantel auf und schlüpfte aus seinen Ärmeln, bevor sie ihn auf den Haken hängte, den Jason bereithielt. Dann wickelte sie sich den Schal vom Hals. Als er sich umdrehte, um die Sachen aufzuhängen, wirbelte sie herum zu den Fenstern und betrachtete ihre blasse, durchscheinende Reflektion -nur zur Sicherheit, aber sie sah okay aus. Ihre Nasenspitze war ganz rot gefroren und ihre Wangen auch, aber so sah sie immerhin nicht wasserleichenblass aus.

„Ich wusste gar nicht, dass du Locken hast."

„Was?" Diese Bemerkung warf sie aus der Bahn, weil sie so aus dem Nichts kam und sie sofort verunsicherte. Weil sie nicht wusste, was er mit diesem Kommentar sagen wollte.

Wieso hatte sie ihre Haare gestern nicht geglättet? Sie sah wie eine Hexe aus! Wie ein Schaf... So, als hätte sie in eine Steckdose gegriffen. Die Schneeflocken, die in ihren Haaren geschmolzen waren, hatten es nur noch schlimmer gemacht.

Als er sich wieder zu ihr drehte, musste er ihren verunsicherten Gesichtsausdruck bemerkt haben. „Hab ich was Falsches gesagt?", fragte er und klang dabei selbst zu teilen verunsichert, aber eher amüsiert.

„Nein." Sie schüttelte den Kopf. „Naja, ich... mag meine Locken eigentlich nicht", gab sie zu und ein unbehagliches Lachen entwich ihrer Kehle. „Ich wollte sie eigentlich gestern Abend glätten, aber dann war ich zu müde und heute Morgen dachte ich nicht, dass ich aus dem Haus gehen würde und-" Jetzt sah er sie nur noch amüsiert an. Sie hielt inne und war sich nicht sicher, wie sie seine Mimik zu deuten hatte. Fand er auch, dass sie aussah wie ein Schaf? Ein Schaf mit rotgefrorener Nase und weißem, flauschiegen Oberteil?

Zum Glück hatte sie zumindest ihre Narbe in der Früh abgedeckt. Sie deckte ihre Narbe fast immer ab, egal, ob sie das Haus verließ oder nicht. Einerseits, weil es dann nicht das Erste war, das ihre Augen zu fassen bekamen, wenn sie einen kurzen Blick in den Spiegel warf, andererseits, weil Andrew herausgefunden hatte, wie unangenehm ihr ihre Narbe war und wenn er einen schlechten Tag hatte, dann starrte er mit voller Absicht darauf, damit sie sich genauso mies fühlte wie er. Manchmal starrte er auch an diese Stelle, obwohl sie ihre Narbe abgedeckt hatte, einfach, weil er wusste, dass es sie unruhig machte und verunsicherte und dafür sorgte, dass sie sich fragte, ob das Make-up vielleicht verschmiert war oder nicht deckend genug und man die Narbe trotzdem sehen konnte, ohne dass sie es bemerkte. Das war nie der Fall, aber Andrews intensives Starren auf ihre Narbe war pure Folter. Und das wusste die kleine Ratte genau.

Diese Angst hätte sie bei Jason nicht haben müssen, denn er hatte noch nie, auch nur einmal einen Blick auf die Narbe unter ihrem Auge geworfen. Das kostete ihm manchmal bestimmt Anstrengung, aber sie rechnete es ihm hoch an.

„Ich mag deine Locken", sagte er dann schulterzuckend und lächelte.

Gut, sie musste zugeben, dass das noch viel einschüchternder war, als Andrews Starren.

Noch nie hatte jemand gesagt, dass er ihre Locken mochte. Doch, Mia. Vor Masons Party, aber Mia war ein Mädchen. Das zählte nicht. Sie erinnerte sich daran, dass Clayton ihre langen Locken genervt hatten, weil seine Finger immer in ihnen hängen geblieben waren. Während der Dauer ihrer Beziehung hatte sie sich immer die Haare geglättet, egal, wie müde oder erschöpft sie gewesen war oder wie wenig Lust sie dazu gehabt hatte.

Sie war sich nicht sicher, ob Jason es ernst meinte, oder ob er das nur gesagt hatte, weil er Menschen gut lesen konnte und instinktiv wusste, was er sagen musste, um seinem Gegenüber Schmetterlinge in den Bauch zu jagen... Vielleicht hatte er sie ja auch einfach nur angelogen und fand, dass ihre Locken lächerlich aussahen. Vielleicht war es ihm auch völlig egal.

So oder so er hatte es gesagt und sie wusste nicht mehr, was sie darauf antworten sollte. Hätte er ihr nicht zu ihrem langweiligen Oberteil ein Kompliment machen können?

Sie winkte ab. „Ich bitte dich, mit diesen Locken sehe ich aus wie einer dieser zotteligen Hunde."

Einer dieser zotteligen Hunde?", lachte er.

„Ja, die die so aussehen als hätten sie viele kleine Zöpfe", erläuterte sie, erleichtert darüber, dass nicht mehr von ihren Haaren die Rede war. Obwohl sie sich nicht sicher war, wie hilfreich es war, dass sie ihre Locken mit dem Fell eines Hundes verglichen hatte.

„Du meinst einen Puli. Aber wenn du ein Hund wärst, wärst du eher ein Golden Retriever."

„Ach", lächelte sie, halb amüsiert, halb verstört, und lehnte sich gegen das Fensterbrett, wo die Heizkörper schön warm waren und sie ihre Hände perfekt aufwärmen konnte. „Wieso das?"

„Sie sind vertrauenswürdig. Zuverlässig, nett, intelligent, selbstbewusst."

Selbstbewusst... wenn er nur gewusst hätte...

„Und wenn du ein Hund wärst?", fragte sie. „Was wärst du?"

Er lachte auf. „Das kommt vermutlich darauf an, wen du fragst."

„Was, wenn ich deine Schwester fragen würde?"

„Vermutlich würde sie sagen, ich bin ein Jack Russel Terrier. Wenn sie wüsste, welche Gemüter diese Hunde haben -Mia interessiert sich nur für ihren langweiligen Hamster."

„Wie sind denn Jack Russel Terrier?", hakte sie nach und er kam zu ihr und stellte sich ebenfalls mit dem Rücken zu den Fenstern, um seine Hände an den Heizkörper legen zu können.

„Stur", sagte er und sie lachte. „Ziemlich clownhaft. Energisch. Sportlich. Lautstark."

Sie nickte. „Oh ja, das klingt nach etwas, das Mia über dich sagen würde."

„Wusste ich es doch."

„Und wenn ich deinen besten Freund fragen würde?"

„Andres würde sagen, dass ich meinem Hund ähnlich bin. Faul, gutmütig, langsam. Und vor allem gut erziehbar."

„Gut erziehbar", nickte sie lachend. „Und wenn ich dich fragen würde?", fragte sie und stupste ihn sanft mit dem Ellenbogen in den Arm.

„Eindeutig ein Ragdoll."

Sie zog die Augenbrauen zusammen. „Die Rasse kenne ich gar nicht..."

„Die meisten Menschen würden ihn nicht als Hund erkennen", nickte er ernst. „Er hat den Kopf einer Katze. Und auch den Körperbau."

Sie lachte wieder. „Magst du Katzen lieber als Hunde?"

Er neigte den Kopf hin und her. „Nicht unbedingt, aber mit meinem Job ist Basco arm dran. Ich bin fast nie zu Hause. Einer Katze ist das egal. Aber der Hund war ja auch nicht meine Idee."

„Wessen Idee war er denn?", hakte sie nach, bemerkte aber im selben Augenblick, dass sich sein Blick verändert hatte. Er war nicht mehr so unbeschwert und glücklich und sie beschloss, ihm eine Antwort zu ersparen, in dem sie sagte: „Mia hat es mit ihrem Hamster doch richtig gemacht. Der braucht nicht so viel Aufmerksamkeit, nur ein paar Körner, Früchte, ab und zu den einen oder anderen Wurm und wacht höchstens nachts mal auf, um in seinem Laufrad zu randalieren."

„Schon, aber Tiere in Käfigen tun mir leid", gestand er.

„Und auf deinem Teller nicht?"

Er warf ihr einen amüsierten Blick zu. „Eins zu null für dich."

Ihr Handy vibrierte und als sie es hervorzog las sie Julias Nachricht, dass es in einer Stunde Abendessen gab und sie sich auf den Weg nach Hause machen sollte.

„Musst du gehen?", fragte er und sie überlegte, ob sie so etwas wie leise Enttäuschung in seiner Stimme hörte. Sie wollte nicht gehen. Es war lange her, dass sie sich so wohl gefühlt hatte in der Präsenz eines anderen Menschen und Gott wusste, wann sie diese Chance wieder bekommen würde. Jason kam an Weihnachten, aber das dauerte ihr zu lange.

„Das kommt ganz darauf an, ob du mich schon loswerden willst", erwiderte sie lächelnd, weil sie zu behaupten wagte, dass Julia ihr nicht den Kopf abreißen würde, wenn sie ein Abendessen verpasste.

„Du kannst so lange bleiben, wie du willst, ich will nur nicht der Kerl sein, der dich nicht vor Sperrstunde nach Hause bringt."

Sie war sich nicht sicher, ob es bei Adam so eine Art Sperrstunde gab. Izzy hatte eine. Um neun musste Izzy von Sonntag bis Donnerstag zu Hause sein, um zehn an Freitagen und Samstagen, aber sie hielt sich selten daran. Und sie selbst war ohnehin immer zu angemessenen Zeiten zu Hause, weshalb sie gar nicht recht wusste, wann sie zu Hause sein sollte, aber es war erst fünf. Wenn Izzy an Sonntagen um neun zu Hause sein sollte, konnte sie das bestimmt auf eine zehn ausdehnen, oder?

„Ich kann Julia sagen, dass ich später komme", sagte sie, aufgeregt darüber, dass sie noch bleiben konnte. „Aber ich warne dich, ich habe heute noch nicht viel gegessen und wenn ich Hunger habe, kann ich launisch werden, du wirst es also vielleicht bereuen, mich hier zu behalten."

Er bereute es nicht. Nachdem sie Julia Bescheid gegeben hatte, bestellte er zwei Pizzen.

„Du bestellst Pizza auf dein Hotelzimmer?", fragte sie belustigt, weil dieses Hotel zu stilvoll war, um an Pizza denken zu lassen.

„Ich kann dich doch nicht verhungern lassen."

„Ich bin sicher, dass Julia mir etwas vom Abendessen in den Kühlschrank stellt."

„Vielleicht, aber ich will nicht, dass du launisch wirst."

Wie sich herausstellte, fand der Pizzalieferant die Türnummer nicht und rief an. Jason seufzte angestrengt, griff nach seiner Brieftasche und bedeutete ihr, dass er gleich zurück war. Sobald er die Türe hinter sich geschlossen hatte, war es plötzlich so unheimlich still und kalt in dem Raum. Unfassbar, wie leicht dieser Mensch eine angenehme Atmosphäre schaffen konnte.

Draußen war es bereits stockdunkel und es hatte wieder zu schneien begonnen. Ihr Blick fiel auf den riesigen Fernseher der an der Wand gegenüber des Bettes hing. Er war sogar noch größer, als der in Adams Haus und sie konnte nicht widerstehen, ihn für einen Augenblick einzuschalten und die Qualität der Bilder zu bewundern.

Wie hypnotisiert ging sie ein paar Kanäle durch und blieb am Sportkanal hängen und ihre Augen klebten an den zwei Personen, die übers Eis glitten. Aufregung und Sehnsucht packten sie und sie war versucht, den Fernseher wieder abzuschalten. Aber es war wie eine Droge. Nur das kleinste Bisschen genügte und hielt ihren Finger davon ab, den Kanal zu wechseln.

Sie kannte die beiden Eisläufer nicht, aber sie liefen kontrolliert, elegant und absolut atemberaubend.

Die Türe ging wieder auf und sie wechselte erschrocken den Kanal und sah dabei zu, wie Jason die zwei Pizzakartons inklusive Getränke auf einer Hand hereintrug und die Türe hinter sich wieder schloss.

„Roomservice", sagte er. Dann fiel sein Blick auf den Fernseher und er grinste. „Eine Kochshow. Du hattest wirklich Hunger, oder?"

Sie drehte sich wieder zum Bildschirm und begriff, dass der Sender nach dem Sportsender offenbar der Kochkanal war. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie wollte weder zugeben, dass sie die Qualität eines Hotelzimmerfernsehers beeindruckte, noch wollte sie gestehen, dass sie sich für einen kurzen Augenblick im Eiskunstlauf verloren hatte.

„Mir war langweilig, du hast mich hier alleine gelassen", sagte sie gespielt vorwurfsvoll. Sie warf noch einen Blick auf den Bildschirm. „Und Kohlsprossen sind ein sehr missverstandenes Gemüse."

Er lachte, als er die Kartons auf dem Bett abstellte und die Deckel aufklappte. „Zurecht. Kohlsprossen sind widerlich. Sie sind die Außenseiter unter den Gemüsesorten."

„Stimmt doch gar nicht", hielt sie dagegen, setzte sich auf die rechte Seite des Bettes und zog einen der Pizzakartons zu sich. „Du musst mal versuchen, sie zu halbieren, in eine Mischung aus Olivenöl, Knoblauch, Rosmarin, Thymian und Paprikapulver einzulegen und dann in den Ofen zu schieben." Er reichte ihr eine Flasche Cola und sah immer noch belustigt aus.

„Du kennst dich wohl mit Kohlsprossen aus."

„Machst du dich über mich lustig?" Sie kniff die Augen zusammen.

„Tut mir leid, aber meiner Meinung nach haben Kohlsprossen keinerlei Existenzberechtigung."

„Deine Meinung auch nicht", schoss sie zurück und er legte beide Hände auf seine Brust, grinste aber dabei.

„Wow, hungrige Hannahs werden wirklich gemein."

Keiner von beiden drehte den Fernseher ab, während sie auf seinem Bett saßen und die Pizza verschlangen. Es gefiel ihr, dass er kein Problem damit hatte, in diesem teuren Hotelzimmer in seinen Straßenklamotten auf dem Bett zu sitzen, Pizza zu essen und Cola zu trinken. Es passte irgendwie zu ihm und sie mochte es, dass es ihm so völlig egal war, dass vielleicht Fettflecken auf der Bettdecke landen würden. Es trug dazu bei, dass sie sich noch viel entspannter fühlte, als sie es sich hätte vorstellen können.

Noch nie hatte sie das Gefühl gehabt, nicht darüber nachdenken zu müssen, was sie tat oder sagte. Deshalb landeten sie auch recht schnell in einer weiteren Diskussion über die Kochshow.

„Tut mir leid, aber wer Spiegeleier auf beiden Seiten brät, ist ein Psychopath", sagte sie und biss von dem letzten Stück Pizza ab.

„Das sehe ich anders", erwiderte er.

„Natürlich tust du das", entgegnete sie und fing sich einen halb belustigten, halb beleidigten Blick von ihm ein. „Wer keine Kohlsprossen mag, hat generell keine Ahnung von guter Küche."

„Ist es so verwerflich, wenn ich nicht möchte, dass das Eigelb von meinem Spiegelei zerfließt, wenn ich es aufschneide?", fragte er.

Sie verzog das Gesicht. „Sag mir nicht, dass du zu den Leuten gehörst, die Eier so lange im Kochtopf lassen, bis das Eigelb so staubtrocken ist, dass es zerbröselt."

Er zog unschuldig die Schultern hoch. „Ich geh eben gerne auf Nummer sicher, was Salmonellen angeht."

„Gut, von mir aus, aber sollte ich dich tatsächlich jemals in New York besuchen, dann gibt es nur Rührei."

„Damit kann ich leben", nickte er und klappte den Deckel seiner leeren Pizzaschachtel zu.

Sie verbrachte den gesamten Abend bei ihm und dem Kochkanal, auf dem eine Folge eines Kochwettbewerbes mit sieben Teilnehmern ausgestrahlt wurde, die zwei Stunden Zeit hatten, um ein vorgegebenes Gericht zu kochen.

Sich mit Jason auf seinem Hotelzimmer Kochsendungen anzusehen war kein Szenario, das sie sich je auch nur im Entferntesten ausgemalt hätte, aber sie hatte schon lange nicht mehr so viel gelacht.

Als die Folge vorbei war und zwei Teilnehmer ausgeschieden waren, sah sie auf die Uhr. Es war fast zehn.

„Hey, ich muss langsam nach Hause", sagte sie, obwohl sich jede Zelle ihres Körpers dagegen sträubte. Sie hätte nichts dagegen gehabt, hier zu bleiben, sogar hier zu übernachten.

„Ja", seufzte er und streckte sich. „Es wird spät." Er schwang sich vom Bett. „Ich geh schon Mal runter und lass dir ein Taxi rufen."

Sie setzte sich so ruckartig auf, dass sie fast vom Bett fiel. „Nein, das... Ich hab kein Geld dabei."

„Musst du nicht, die Fluggesellschaft zahlt das", sagte er und sie sah ihn irritiert an.

„Deine Arbeit zahlt sogar Taxifahrten?"

„Wenn man weiß, wie man es formulieren muss, damit es wie eine Notwendigkeit klingt", grinste er. „Außerdem lasse ich dich nicht mitten in der Nacht nach Hause laufen. Für wen hältst du mich?"

Sie zog sich nur langsam Schuhe und Jacke an, als könne sie so einen Abschied hinauszögern. Das Taxi war schon da, als sie aus dem Aufzug in den Eingangsbereich trat.

„Schreib mir, wenn du angekommen bist", bat er und sie nickte.

„Werde ich... Guten Flug nach Hause? Schätze ich..."

Er lächelte angestrengt. „Klingt es abgedroschen, wenn ich sage, dass heute der erste Tag seit langem war, an dem ich mir gewünscht habe, ich müsste nicht morgen wieder in ein Flugzeug steigen?"

Es fiel ihr schwer, ihr galoppierendes Herz zu ignorieren und ihr breites Grinsen zu unterdrücken.

„Nein, das ist so ziemlich das schönste Kompliment, das mir seit langem jemand gemacht hat", lächelte sie. „Ich bin sogar versucht, dir deine Gemeinheiten gegenüber Kohlsprossen zu verzeihen."

Er lachte, dann öffnete er ihr die Autotür und sie rutschte auf die Rückbank. Sie war sich sicher, dass er noch etwas sagen wollte, so unschlüssig, wie er sie ansah, aber schließlich beließ er es bei einem Lächeln.

„Gute Nacht."

„Gute Nacht." Es war ein seltsames Gefühl, von ihm wegzufahren. Sie fühlte sich leer. So, als hätte sie ein Stückchen von sich selbst in diesem Hotelzimmer vergessen.

Sie fragte sich, ob sie zum Abschied noch etwas hätte sagen sollen. Es war nicht leicht, in seiner Gegenwart die richtigen Worte zu finden. Sie wollte nicht zu aufdringlich sein, aber es fiel ihr schwer, sich und ihre Gedanken und Gefühle zu bremsen.

Als sie nach Hause kam, war es fast elf. Auf dem Küchentisch lag ein kleiner Zettel, auf dem in Julias Handschrift stand, dass ihr Abendessen im Kühlschrank wartete. Sie war Julias Bemühungen noch immer nicht gewöhnt und es war ihr beinahe unangenehm, dass Julia sich so sehr um sie kümmerte, besonders, weil sie keinen Hunger mehr hatte.

So leise wie möglich schlich sie auf ihr Zimmer. Unmöglich würde sie heute Nacht schlafen können. Sie wünschte, Jason wäre noch bei ihr, dass sie sich zusammen mit ihm in ihrem Bett einkuscheln könnte, aber selbst dann hätte sie nicht geschlafen.

Sie zog ihr Handy hervor und schrieb ihm, dass sie gut zu Hause angekommen war und den Tag unfassbar genossen hatte, bevor sie sich bettfertig machte. Als sie ihre Mathesachen wegräumen wollte, fiel ihr auf, dass ihre Übungsblätter nicht mehr leer waren und sah genauer hin. Es war ihr Stift, aber nicht ihre Schrift.

Sie wusste nicht, ob sie sauer auf Izzy sein sollte, oder dankbar und studierte, was ihre kleine Schwester gerechnet hatte. Es schien so logisch und plausibel. Und es schien sogar zu stimmen. Izzy schien selbst ein paar Schwierigkeiten gehabt zu haben, denn ein paar Rechnungen waren durchgestrichen. Wenigstens war Izzy kein übermenschliches Supergenie.

Hatte Izzy das gemacht, um ihr zu helfen, oder um sich über sie lustig zu machen? Oder war es, um ihr etwas zu beweisen?

Völlig egal, ihre gute Laune war wie weggewischt und sie glaubte, dass selbst eine Schlaf-Gut-Nachricht von Jason das nicht wieder in Ordnung bringen konnte.

Bevor sie sich davon abhalten konnte, stürmte sie auf ihr Zimmer und riss Izzys Türe auf. Ohne sich darum zu scheren, ob ihre Schwester dabei vielleicht aufwachen würde, schaltete sie das Licht ein.

Ihr Blick glitt durch das Zimmer ihrer kleinen Schwester und ihr Ärger verdreifachte sich.

Izzy war nicht da.

Was hatte sie auch erwartet?

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