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Ganze zehn Minuten war sie an diesem Tag zu spät in den Unterricht gekommen. Sie war erst einmal hier gewesen, als sie und ihre Schwester sich angemeldet hatten, und kannte sich auf dem Schulgelände kaum aus. Allerdings hatte sich ihre Englischlehrerin als sehr verständnisvoll und freundlich erwiesen. In der zweiten Stunde hatte sie Französisch gehabt, dann Kunst und schließlich Mathe. Sie mochte ihren neuen Mathelehrer, er war unheimlich attraktiv und viel jünger, als ihre ehemalige Mathelehrerin.
In der Mittagspause war sie von einem recht gutaussehenden, aber viel zu aufdringlichen Kerl in Footballjacke angesprochen worden, als sie sich einen Kaffee in den kleinen Bistro gegenüber des Schulcampus geholt hatte. Sie hatte nicht wirklich reagiert, lediglich gelächelt, ihren Kaffee genommen und sich aus dem Staub gemacht.
Alles in allem fand sie die Leute in ihrem Jahrgang recht freundlich. Das Mädchen, das in Französisch neben ihr gesessen hatte, hatte ihre langen Haare bewundert, nur konnte sie sich nicht an den Namen der Brünetten erinnern. Ein anderes Mädchen hatte sich einen Stift von ihr ausgeborgt und die beiden waren sofort ins Gespräch gekommen, nur wusste sie auch ihren Namen nicht mehr.
Jetzt stand sie in der Bibliothek vor vielen Regalen und suchte nach einem Französischbuch, um ihr Vokabular aufzubessern. Gerne wäre sie lieber in eine Buchhandlung gegangen, um sich ein neues Buch mit schönem Einband, der nicht von Rissen und Knicken übersäht und dessen Seiten nicht abgegriffen waren, geholt, aber dafür reichte ihr Geld nicht.
Sie fand in der richtigen Abteilung einige Französischbücher, zog sie heraus, blätterte sie durch und schob sie wieder in die Regale zurück. Keines sprach sie so recht an, denn die meisten waren staubtrockene Literatur und keine spannenden Romane, die sie motiviert hätten, bis zum Ende der Geschichte dranzubleiben. Am Ende des letzten Schuljahres hatte sie überlegt, einen anderen Sprachkurs als Französisch zu belegen. Altgriechisch oder Spanisch oder Latein. Aber Latein hatte sie zwei Jahre lang gehabt und absolut gehasst. Sie war die beste aus ihrer Klasse gewesen, aber es hatte ihr einiges an Anstrengung abverlangt, dieses Fach durchzustehen, ohne auch nur ein einziges Mal etwas Schlechteres als eine zwei zu bekommen. Es war keine lebende Sprache, Bücher in Latein zu finden oder in Gesprächen davon Gebrauch zu machen, war also eher unwahrscheinlich. Aber es hatte ihr geholfen, besser in anderen romanischen Sprachen wie Rumänisch und Französisch zu werden. Gut, Altgriechisch war auch keine lebende Sprache mehr, aber irgendetwas reizte sie an dem Schriftsystem.
Doch dann war der Beginn des Schuljahres näher gerückt und es war klar geworden, dass sie nicht an ihrer alten Schule bleiben würde. Die Umstellungen, die in ihrem Leben stattfinden würden, würden auch ohne neue Sprache schwierig genug zu bewältigen werden. Sie wollte also lieber erst den Notendurchschnitt halten und verbessern, den sie hatte. Vielleicht würde sie nächstes Jahr noch mit einer anderen Sprache beginnen.
Der Kaffeebecher in ihrer Hand wurde von Schluck zu Schluck leichter, bis sie ihn schon fast ausgetrunken hatte. Sie warf einen Blick auf ihr Handy. In wenigen Minuten würde es zur nächsten Stunde läuten und ihre Schwester hatte sie noch immer nicht wie versprochen angerufen.
„Du hast schöne Beine." Sie drehte sich um. In ihrer Abteilung stand niemand, nur etwas weiter weg saß ein Junge über ein Buch gebeugt und wirkte ziemlich konzentriert. Doch jetzt hob er den Blick. Sie war sich nicht ganz sicher, ob er mit ihr gesprochen hatte, aber mit wem hätte er sonst sprechen sollen?
„Wie bitte?", fragte sie daher.
„Du solltest ins Cheerleaderteam", schmunzelte der Junge. Er hatte braune Haare, helle Haut und trug ein hellblaukariertes Hemd, das an den Ärmeln hochgeschlagen war und unter dem sich seine trainierten Arme abzeichneten. Eine Brille mit schwarzem Rahmen saß ihm auf der Nase und sie fand, dass diese ihm wirklich gut stand. Vermutlich hätte diesem scharfkantigen Gesicht alles gut gestanden.
„Findest du, ja?", lächelte sie und steckte ihr Handy wieder in die Tasche, ohne sich weitere Gedanken über ihre Schwester zu machen.
„Gut, okay, ich habe keine Ahnung, was die Kriterien für das Cheerleaderteam sind", gab er zu. „Aber sie haben alle schöne Beine."
Sie lachte. „Dann... danke. Schätze ich?"
Er setzte sich aufrecht hin. „Ich bin Drew."
„Hannah."
„Hannah", wiederholte er und ein neugieriger Blick spiegelte sich in seinen Augen wieder.
Sie nickte amüsiert. „Hannah. Ist etwas seltsam an meinem Namen?"
Er schüttelte den Kopf. „Nein, gar nicht. Ich hab dich hier nur noch nie gesehen."
„Ach."
„Genauer gesagt deine Beine."
„Bestimmt", lachte sie wieder und strich sich mit der freien Hand die Haare hinters Ohr, während sie mit der anderen den leeren Kaffeebecher umklammert hielt.
Er klappte das Buch, in dem er gelesen hatte, zu und steckte es in seine Tasche auf dem Boden. „Es ist keine sonderlich große Schule", bemerkte er dann, schulterte seine Tasche und ging auf sie zu. „Wir haben kaum zwei Lehrer für ein Fach und... es gibt genau zwei Klassen in jeder Schulstufe. Außer in der Zwölften. Davon gibt es sogar nur eine. Da fallen neue Gesichter schnell auf."
In ihrem Jahrgang waren insgesamt nur einundzwanzig Schüler und Schülerinnen, und sie hatte sich von dem Mädchen, das sich einen Stift geborgt hatte, sagen lassen, dass in der zwölften Schulstufe gar nur elf Schüler waren. Damit war die Schule nichts im Vergleich zu ihrer alten Schule, an der sie von A nach B locker sieben Minuten gebraucht hatte und über zweieinhalbtausend Schüler und Schülerinnen durch die Gänge gelaufen waren. Dort war es leichter gewesen, unsichtbar zu sein, auch wenn das nie ihre Intention gewesen war.
„In welcher Stufe bist du?", fragte er.
„Elfte."
Er verzog das Gesicht und sog scharf die Luft ein. „Viel Spaß."
„Schon durchgestanden?"
„Allerdings. Und sie hat mir so gut gefallen, dass ich sie zwei Mal gemacht habe."
Sie lachte wieder. Nicht, weil er etwas Lustiges sagte, sondern es war die Art, wie er es sagte.
Sie konnte nicht behaupten, dass ihr die Schule jemals Schwierigkeiten bereitet hätte. Die Lehrer hatten sie immer gemocht, alle Hausaufgaben hatte sie pünktlich und ordentlich eingereicht, immer den kompletten Stoff gelernt und war damit mit Abstand Klassenbeste gewesen. Oft sogar Jahrgangsbeste. Ob sie ihren Schnitt an einer anderen Schule mit anderen Lehrern und auch würde halten können, würde sich noch herausstellen, aber sie war zuversichtlich.
In diesem Moment läutete es zur nächsten Stunde.
„Verdammt", fluchte sie. „Jetzt komm ich zu spät zu Chemie."
Drew winkte ab. „Macht nichts. Mr. Brown ist total entspannt, besonders, wenn es um hübsche Mädchen geht."
Sie kniff unsicher die Augen zusammen. „Okay, entweder hast du mich gerade vor einem perversen Pädophilen gewarnt, oder aber mir ein Kompliment gemacht."
Er zog einen Mundwinkel nach oben. Sie konnte die Hitze, die sich auf ihrem Gesicht ausbreitete, nicht ignorieren. Seine Augen waren tiefblau und sahen sie so eingehend an, dass sie seinem Blick nicht konstant standhalten konnte.
Er nickte zum Ausgang der Bibliothek. „Solltest du nicht in den Unterricht?"
„Und was ist mit dir?", gab sie zurück.
„Meine Lehrer sind es gewohnt, dass ich zu spät komme."
„Vielleicht musstest du die Elfte deshalb wiederholen."
„Vielleicht. Aber hätte ich es nicht getan, wäre mir vielleicht dieses hübsche Lächeln entgangen. Und diese absolut tollen Beine."
Fast hätte sie die Augen verdreht, aber sein Grinsen ließ ihr Herz höher schlagen, das konnte sie nicht verleugnen. „Ich geh dann mal in den Unterricht."
Er hob lässig die Hand. „Man sieht sich."
Bei jedem Schritt, den sie aus der Bibliothek machte, glaubte sie, Drews brennenden Blick auf ihrem Rücken zu spüren.
*
Am Abend saß sie in ihrem beinahe leergeräumten Zimmer am Schreibtisch und las in einem alten Französischbuch, das sie zwischen ihren Sachen ausgegraben hatte. Sie hatte es zwar schon einmal gelesen, aber manche der Vokabeln, Sätze oder Redewendungen, die sie damals mit gelbem Marker unterstrichen hatte, hatte sie wieder vergessen. Aber diesmal war sie ein wenig ehrgeiziger und schrieb alles, was sie nicht verstand, feinsäuberlich in ihr Vokabelheft und nahm sich fest vor, diese vor dem Schlafengehen noch einmal durchzugehen.
Immer wieder drifteten ihre Gedanken ab. Zu Drew, der sie so eingehend gemustert hatte, dass ihr allein bei dem Gedanken die Röte ins Gesicht stieg, zu Adam, der sie und Izzy morgen abholen und in ein neues Leben karren würde, zu ihrer Mutter, die in einem weißen, sterilen Zimmer saß und deren letzte Worte: „Du bist mein Schatz, Hannah", gewesen war, bevor sie ihr einen Kuss auf die Stirn gedrückt und eine Schwester ihren Kopf ins Zimmer gesteckt hatte, um ihr zu sagen, dass die Besuchszeit vorbei war. Sie dachte an Onkel Rob, und fragte sich, wie so oft, warum er so desinteressiert an seinen Nichten war. Hatten sie als Kinder mal etwas angestellt, das ihm nicht gepasst hatte? Lag es an Mom? Lag es nur an ihr? Lag es an Izzy? Lag es daran, dass sie seine Wohnung seit siebzehn Jahren besetzten?
Es klopfte am Türrahmen und sie drehte sich auf ihrem Stuhl um.
„Hey." Ihre Schwester stand mit verschränkten Armen da.
„Gehst du wo hin?" Sie betrachtete Izzys Sneaker und die dicke Winterjacke.
„Justin."
Sie unterdrückte ein Stöhnen. Sie war kein Fan von Justin. Auch nicht von Riley oder Cassy. Aber gerade heute fehlte ihr die Kraft, mit Izzy zu streiten, bis eine von ihnen gewinnen oder ein paar Möbel und das Geschirr, das noch in den Schränken stand, weil sie nur ihre eigenen Sachen zu Adam mitnehmen würden, durch die Gegend fliegen würde.
„Es ist spät", sagte sie daher lediglich. „Hast du deine Hausaufgaben gemacht?"
„Nein."
„Izzy..."
„Zwing mich doch." Sie warf sich einen Kaugummi in den Mund und stieß sich von der Türe weg. „Ich frage nicht um Erlaubnis, das Haus verlassen zu dürfen. Ich wollte dir nur Bescheid geben, damit du nicht wieder so austickst, wie letztes Mal."
Mit „letztes Mal" meinte ihre Schwester nicht das buchstäbliche letzte Mal. Izzy ging fast jeden Abend aus; manchmal wachte sie auf, wenn ihre Schwester zurückkam, manchmal nicht; manchmal ging sie am Morgen in Izzys Zimmer und sie war noch nicht wieder zurück. In den Sommerferien hatte sie es ihrer Schwester weitestgehend erlaubt, weil es ohnehin sinnlos war, es ihr zu verbieten. Sie hatte es einmal versucht und Izzy war einfach aus dem Fenster geklettert und an den Blitzableitern nach unten gerutscht -es war nicht weit. Meistens hatte sie ihre Schwester lediglich gebeten, vorsichtig und vor zwei zurück zu sein. Sie hatte sich nie daran gehalten und war schon mehr als einmal von der Polizei vor der Türe abgestellt worden, weil sie irgendwo in der Stadt mit ihren Freunden herumgerannt war und Gebäude besprayt hatte.
Schlimmer war es, seit ihre Mutter nicht mehr hier war, denn sie hatte der Polizei jedes Mal erklären müssen, warum sie vorübergehend alleine wohnten und wo ihre Mutter und ihr Vater waren.
Mit „letztes Mal" spielte Izzy auf das Ereignis vor etwa zwei Monaten an, als sie ganze sieben Tage weggewesen war und sie wahnsinnig vor Sorge die Polizei selbst alarmiert hatte, nachdem Izzy nicht an ihr Handy gegangen war und sie wusste, dass sie und Justin immer auf dem Motorrad unterwegs waren. Izzy war betrunken, high und lachend nach Hause gekommen und während sie sie zusammengestaucht hatte, hatte sie lediglich energetisch darüber geredet, was sie, Justin, Cassy und Riley alles erlebt hatten, wo sie gewesen waren, dass sie sich nur von Bier und Zwiebelringen und Pizza ernährt hatten, in Rileys Pick-up geschlafen und an den See gefahren waren und gesprayt hatten und vor der Polizei davon gelaufen waren und dass sie jetzt ihre Tasche packen würde, weil sie mit Justin nach Kanada fahren wollte. Sie hatte Izzy eine kräftige Ohrfeige verpasst. Es war das erste Mal gewesen, dass sie sie geschlagen hatte und sie hatte es seither nie wieder getan, aber das Verhalten ihrer Schwester an diesem Tag hatte sie erschreckt. Als wäre sie in einem Wahn gefangen gewesen, den sie nicht verstehen konnte.
Ihre Schwester war von dem nervaufreibendem High runtergekommen und hatte zu schreien und weinen begonnen, weil sie ihr Leben versaute und ihr das letzte Bisschen Freiheit nehmen wollte, das sie hatte und dass sie sich zum Teufel scheren sollte -Izzy würde gehen! In Wahrheit war sie in ihrem Zimmer auf dem Bett eingeschlafen und hatte am nächsten Morgen kein Wort mehr darüber verloren. Sie hatte die Polizei verständigt, dass ihre Schwester wieder da war und sie hatten normal weitergelebt. Auch sie hatte diesen Abend nicht mehr zur Sprache gebracht. Teils aus Angst, Izzy könne wirklich abhauen, teils, weil sie nicht wusste, wie sie Izzy unter Kontrolle halten sollte, wenn sie einen ihrer Wutausbrüche hatte oder betrunken und high war und die irrsten Ideen in ihrem Kopf aufkamen.
„Morgen ist Schule", erinnerte sie jetzt, in einem letzten Versuch, ihre Schwester ohne Ausbruch des dritten Weltkrieges dazu zu bringen, ihre Entscheidung zu überdenken.
„Ich weiß." Izzy drehte sich um und verschwand aus ihrem Sichtfeld.
„Mitternacht, spätestens!", rief sie ihr nach, bevor sie hörte, wie die Haustüre zufiel und genau wusste, dass Izzy vor Mittag des nächsten Tages nicht zu Hause sein würde.
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