29
Er war zu Hause, als es passierte.
Er hatte gerade die Auflaufform aus dem Ofen geholt, weil Katy gleich von John von der Schule abgeholt und hergebracht werden würde, als er es über sich poltern hörte und erstarrte.
Wie eingefroren blickte er an die Decke. Über der Küche war das Zimmer seiner Mom. Etwas im Zimmer seiner Mom hatte so laut gepoltert, dass er es durch die Wände hindurch hatte hören können. Sein Herz blieb stehen und obwohl er unmöglich wissen konnte, was passiert war, wusste er es. Zumindest würde er das ein paar Tage später glauben.
„Mom?", fragte er, aber es war nur ein Krächzen und sie hätte es niemals hören können. „Mom?!", rief er diesmal durchs Haus, aber es kam keine Reaktion und es war, als befände sich kein einziger Gedanke mehr in seinem Kopf, als wäre er ein leerer, hohler Raum.
Würde er jetzt auf das Zimmer sein Mom gehen, war er sich jedoch sicher, dass er nicht als dieselbe Person wieder herauskommen würde.
Das Geräusch, das folgte, riss ihn aus seiner Schreckstarre. Etwas schlug wiederholt schnell und kräftig gegen den Boden im Zimmer seiner Mom und er stürzte die Treppen nach oben, hatte mit seinem Handy bereits die Notrufnummer gewählt und kam in ihrer Türe schlitternd zum Stehen.
Seine Mom lag auf dem Teppich neben dem Bett und hämmerte panisch mit der Faust gegen den Boden. Sie atmete rau und rasselnd und schnell und viel zu tief ein und obwohl kein Wort über ihre Lippen kam, wusste er, dass sie nicht richtig atmen konnte. Falls sie überhaupt atmen konnte und nicht nur luftleere Geräusche von sich gab.
Das einzige, was er unaufhörlich dachte, als er sich neben sie kniete, war, dass sie sterben würde. Dass sie vor seinen Augen ersticken und er gleich mit der Leiche seiner Mom alleine in diesem Zimmer auf dem Boden sitzen würde.
Zwar hatte er vor ein paar Jahren einen Erste-Hilfe-Kurs für seine Führerscheinprüfung machen müssen, aber das war eben schon ein paar Jahre her und gerade jetzt konnte er sich an absolut nichts erinnern. Er war froh, dass er die Nummer des Notrufes richtig in sein Handy getippt hatte und das waren nur drei Zahlen.
Ihre Lippen färbten sich blau. Er war sich sicher, dass es keine gute Idee war, sie einfach so flach auf dem Rücken liegen zu lassen. Er musste sie aufsetzen, irgendwie. Das Handy zwischen Wange und Schulter eingeklemmt, griff er mit der einen Hand nach ihrem Arm und schob die andere unter ihren Rücken, sodass er sie aufsetzen und gegen die Bettkante lehnen konnte.
Er ließ seine Finger über ihre fahle Haut gleiten. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn, sie zitterte und in ihren Augen spiegelte sich Todesangst, als sie fester nach seinem Arm griff.
War es das, was Katy erlebt hatte, als sie alleine mit Mom zu Hause gewesen war? Als er sich auf einer Party amüsiert hatte? Hatte sie gesehen, wie ihre Mom fast erstickt war?
„Alles okay", presste er hervor und bemerkte den dicken Kloß erst jetzt, der in seinem Hals saß. Es war die pure Angst. Ein solches Gefühl hatte er noch nie verspürt. Hitzewellen durchfluteten seinen Körper, aber seine Hände waren eiskalt. „Ich hab schon die 911 gerufen." Theoretisch.
Nie hätte er gedacht, dass Notrufstellen so lange brauchten, um einen Anruf entgegen zu nehmen. Oder vielleicht kam ihm das Warten auch einfach nur unheimlich lange vor.
„Notrufzentrale, brauchen Sie Hilfe?"
Ob er Hilfe brauchte? Er wusste nicht, ob er lachen oder ins Telefon brüllen sollte, ob die Telefonistin eigentlich dachte, dass er anrief, um eine Pizza zu bestellen und das Kinoprogramm in Erfahrung zu bringen.
Er schaffte es, nichts davon zu tun, nannte seine Adresse und erklärte der mechanisch klingenden Frau am anderen Ende der Leitung, dass seine Mom nicht atmen konnte, schon ganz blass und blau war, Krebs im Endstadium hatte und sie gefälligst einen Krankenwagen herschicken sollte. Den letzten Satz hatte er vielleicht etwas lauter ausgesprochen als nötig.
Die Telefonistin sagte, dass schon ein Rettungswagen unterwegs war und er sich beruhigen und in der Leitung bleiben sollte, aber er legte auf. Er musste seinen Dad anrufen. Alleine schaffte er das nicht, er wusste kaum, wie er seine Mom beruhigen sollte. Außerdem war John mit Katy im Schlepptau auf dem Weg hierher.
Ihre kalten Finger schlossen sich um seinen Unterarm und sie schnappte immer noch in tiefen, langen, rasselnden Atemzügen nach Luft, während er die Nummer seines Dads wählte.
Seit seine Mom krank war, waren Dad und John immer erreichbar, egal wo sie waren und egal, was sie gerade taten.
„Ethan!" Sein Dad klang erfreut, dass er ihn anrief. Das machte es nur noch schlimmer, als er ihm erklärte, warum er anrief. Er wollte vor seiner Mom jetzt nicht die Nerven verlieren, denn sie brauchte ihn, aber er konnte keinen klaren Gedanken fassen und sein Dad war wie immer die Ruhe in Person.
„Stell mich auf Lautsprecher", sagte sein Dad und er tat genau das, bevor er sein Telefon auf den Nachttisch legte. „Mach das Fenster für deine Mutter einen Spalt weit auf, aber nicht so weit, dass es zieht." Er sprang auf und tat, was sein Dad sagte. Es war so viel leichter, dem zu folgen, was sein Dad ihm auftrug, denn seine Gedanken und Instinkte schrien ihn an, wegzulaufen, sich irgendwo zu einer Kugel zusammen zurollen und zu weinen, bis er aus diesem Alptraum aufwachen würde.
Sein Dad begann, mit derselben ruhigen Stimme auf seine Mom einzureden, mit der auch ihn immer beruhigte. Etwas hatte sein Dad einfach an sich, das die Leute innerhalb von Sekunden ruhig wie Sommerregen werden ließ.
Sein Dad atmete sogar mit seiner Mom, während nicht nur Luft, sondern auch quälende, schmerzerfüllte Laute aus ihrem Rachen drangen.
So muss es klingen, zu sterben, dachte er.
Warum war er nur so nutzlos? Seine Mom hatte Schmerzen, sie konnte nicht atmen und er konnte ihr nicht helfen.
„Wo seid ihr?", fragte sein Dad nach ein paar Minuten (oder waren es nur Sekunden gewesen?).
„Zu Hause, wo sonst?", fragte er irritiert.
„Seid ihr im Schlafzimmer?"
„Ja, wieso?"
„Setz deine Mutter aufs Bett. Sie muss sich nach vorne lehnen, dann kann sie leichter atmen."
Seine Beine fühlten sich an wie Pudding und seine Arme kribbelten, als wären sie eingeschlafen. Er glaubte nicht, dass er seiner Mom jetzt aufs Bett helfen konnte.
„Dad..." Mehr brachte er nicht hervor.
Seine Mom würde sterben. Er war sich sicher, dass sie gleich hier und jetzt sterben würde. Dass er alleine mit ihr zu Hause sein und sie ersticken würde.
Sie atmete zwar noch, aber ihre Augen waren geschlossen und wenn sie sie öffnete, waren sie ganz unfokussiert, als würde sie das Zimmer kaum noch wahrnehmen. Als würde sie etwas sehen, das nur diejenigen sehen konnten, die...
„Ich bin schon unterwegs", sagte sein Dad sanft und er schnappte selbst nach Luft, um nicht in Tränen auszubrechen. „Ich bin gleich bei euch, aber du musst jetzt tun, was ich dir sage, okay? Ich lege nicht auf. Tu einfach, was ich sage."
Also riss er sich zusammen und versuchte, seine Mom aufs Bett zu heben. Es war viel leichter, als gedacht. Sie war so mager, dass sie vielleicht nur ein paar Kilo mehr wog als Katy.
Sein Dad zählte weiter die Atemzüge. Ganz ruhig, so als ob er sich keine Sorgen machte, und nebenbei versicherte er den beiden immer wieder, dass er gleich da war, aber langsam glaubte er, dass das nur ein Trick war, eine böse Strategie, damit sich die beiden nicht so verloren vorkamen, denn die Arbeitsstelle seines Dads war fast vierzig Minuten von hier entfernt. Aber er versuchte seinem Dad Glauben zu schenken und auch seiner Mom das Gefühl zu geben, dass sie in guten Händen war, auch wenn das kaum stimmte.
Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, bis er die Sirenen des Rettungsfahrzeugs vernehmen konnte, aber seine Mom lebte noch, das war etwas, an das er schon gar nicht mehr geglaubt hatte. Er hatte schon den Leichensack vor sich gesehen.
Kurz legte sein Dad auf, um John Bescheid zu geben, der noch immer nicht hier war, aber nach zwei Minuten rief er wieder an.
Er fuhr mit den Rettungskräften mit, aber alles fühlte sich wie ein seltsamer Traum an, als die Sanitäter seine Mom auf einer Trage über die Treppen trugen, ihr eine Sauerstoffmaske aufsetzten und sie ins Fahrzeug beförderten. Sie hatten einige Fragen an ihn, aber er bemerkte kaum, welche Antworten er gab. Manche Fragen beantwortete auch sein Dad, der nun selbst auf dem Weg ins Krankenhaus war und alles über sein Handy mitanhören konnte.
Er konnte all die bunten Lichter sehen, mit denen die Leute schon ihre Häuser schmückten. Die roten und grünen und blauen und gelben und weißen Punkte in der schwarzen Nacht, die Rentiere, die ihn aus ihren Vorgärten heraus angrinsten, die Schneemänner, die ihm glücklich zuwinkten.
Er hatte einen bitteren Geschmack im Mund, den Geschmack von Angst und Trauer und Wut und Verzweiflung.
So musste es schmecken, zu sterben, dachte er.
John brachte Katy zu sich nach Hause, denn er und Dad wollten nicht, dass sie Mom noch einmal so sehen musste. Im Krankenhaus wurde seine Mom sofort als Notfall eingeliefert und irgendwo hin gebracht, wo er sie nicht begleiten durfte. Sein Dad traf zehn Minuten später ein und schloss ihn erst einmal wortlos in seiner Arme.
„Du hast alles richtig gemacht, Ethan", sagte sein Dad, aber er wusste, dass das absolut nicht stimmte.
Obwohl sein Dad bei ihm war, fühlte er sich so hilflos, wie noch nie in seinem Leben. Es gab nichts, das er tun konnte, um diese ganze Situation besser zu machen. Das war das schrecklichste Gefühl der Welt. Sie warteten auf dem Flur auf ein paar Stühlen und John rief seinen Dad noch einmal an, während er nur herumsitzen und nichts tun konnte, außer abzuwarten, was der Arzt sagen würde. Er merkte kaum, wie unruhig seine Beine wippten, wie tief sich seine Zähne in die Haut an seinem Daumen gruben.
Das Reinigungsmittel, der beißende Geruch von Desinfektionsmittel, Medikamenten und Cremes und irgendwo musste ein Pfleger oder eine Pflegerin Kaffee trinken...
So muss es riechen, zu sterben, dachte er.
Als Dr. Welsh endlich in seinem weißen Kittel den Flur entlangkam mit Bonnie im Schlepptau, die in diesem Krankenhaus zu wohnen schien, sprang er auf die Beine und sein Dad sagte John, dass der Arzt da war und legte auf.
Er versuchte, an Dr. Welshs oder Bonnies Gesicht die Nachrichten abzuwägen, aber er wurde nur noch nervöser. Normalerweise lächelte Bonnie ihn beruhigend oder aufmunternd an. Diesmal wich sie seinem Blick aus. Und Dr. Welsh hatte einfach ein zu professionelles Gesicht, als dass er mit einem Blick darauf hätte ablesen können, wie es nun weiter gehen sollte.
Dr. Welsh erklärte in ruhigen Tonfall, dass sich wieder Flüssigkeit in der Lunge seiner Mom gebildet hatte und das ihre Atemprobleme verursacht hatte, aber sie im Augenblick stabil war.
Im Augenblick.
„Und... kann sie dann wieder nach Hause?", fragte er, weil er sich nicht sicher war, ob er Dr. Welsh folgen konnte. „Wenn es ihr wieder besser geht, meine ich. So wie letztes Mal, da durfte sie auch nach einem Tag wieder nach Hause." Schließlich wollten sie morgen die ersten Kekse backen. Zwar hatten sie nicht darüber gesprochen, aber er hatte es eben beschlossen. Morgen würden er und Katy Kekse backen und seine Mom würde auf der Couch im Wohnzimmer liegen können und dann würde Katy ihr jeden einzelnen, verzierten Keks präsentieren und kosten lassen und sie würden nicht mehr daran denken müssen, was heute passiert war und was vielleicht bald passieren würde und vielleicht würden sie früher als sonst einen Weihnachtsbaum kaufen und schmücken.
Dr. Welsh sah ihn lange an, blickte auch zu seinem Dad, und Bonnie warf dem Arzt einen kurzen Blick zu. „Nein, Ethan."
Dr. Welsh klang so bedauernd und tief betroffen, dass ihm der Atem stockte und er einen Augenblick selbst dachte, zu ersticken.
Das konnte nicht das Ende sein, so konnte und durfte es nicht enden, es war doch noch nicht einmal Weihnachten! Durfte seine Mom denn nicht einmal ein letztes Weihnachten verbringen? Unter den Lichtern des Weihnachtsbaumes in ihrem Wohnzimmer und mit Katy, deren Augen immer so leuchteten, wenn sie ihre Geschenke auspackte? Mit ihm und Dad und John, warum durfte sie das nicht erleben, nur noch ein letztes Mal? Warum durfte sie nicht aus dem Fenster schauen und noch einmal den Schneefall sehen und die weißen Dächer und den weißen Himmel und auf den Geruch von frischem Schnee, auf den sie sich schon seit Frühlingsbeginn freute?
„Es tut mir wirklich sehr leid." Er hatte immer gedacht, wenn Ärzte schlimme Nachrichten überbrachten, wäre ihr Gesicht so emotionslos und starr wie eine Maske, aber vermutlich schafften das nicht einmal die erfahrensten Ärzte, wenn sie einen Patienten so viele Monate über betreuten und leiden sahen. Dr. Welsh sah niedergeschlagen aus, als er weitersprach und er fühlte die Hand seines Dads auf seiner Schulter.
„Ich glaube nicht, dass deine Mutter die nächsten vierundzwanzig Stunden noch überlebt."
Und so muss es sich anfühlen, zu sterben.
*
Katy wollte ihre Mom unbedingt sehen, aber John war absolut dagegen. Er fand, das Katy zu jung war, um am Sterbebett ihrer Mutter zu sitzen und auf das unvermeidliche zu warten.
Erst hatte er gefunden, dass John Katy einen letzten Augenblick mit ihrer Mutter wegnahm, aber als er ihr Zimmer betreten hatte, hatte er es besser gewusst. Seine Mom war nicht einmal mehr ansprechbar. Sie lag auf dem Rücken in diesem stinkenden, weißen Bett und immer noch hatte sie die Sauerstoffmaske über Mund und Nase gezogen, die bei jedem Atemzug beschlug.
Er hatte geglaubt, dass sie zumindest wach war. Niemand -kein Arzt der Welt- hätte ihn auf das Bild vorbereiten können, das ihn erschlug, als er ihr Zimmer betreten hatte. Als er sie gesehen und begriffen hatte, dass sie sterben würde. Dass sie vermutlich nicht einmal mehr aufwachen würde, um ein letztes Mal ihre Kinder sehen zu können.
Er irrte sich. Seine Mom wachte auf. Oft. Allerdings wünschte er sich, sie müsste das nicht. Jedes Mal, wenn sie aufwachte, hatte sie die Augen weitaufgerissen, begann, sich in ihrem Bett gegen die Decke und die Schläuche zu wehren, wollte sich ihre Maske vom Gesicht ziehen und versuchte, etwas zu sagen, aber er erkannte seine Mom nicht wieder. Die Frau, die in diesem Bett lag, war nicht mehr seine Mutter.
Es waren nur noch ihre Überreste, das, was von ihrem Körper noch übrig war und ihr Gehirn, das natürlicherweise seinen letzten Rest an Überlebensenergie zusammenkratzen wollte, um nicht sterben zu müssen. Er glaubte auch nicht, dass sie ihn noch erkannte oder überhaupt wahrnahm, dass er und sein Dad da waren.
Er fragte sich, ob sie Schmerzen hatte. Bonnie, die regelmäßig vorbei schaute, meinte, dass sie ihr genug Morphium gaben, dass sie keine Schmerzen spürte. Es war das erste Mal, dass sie so etwas sagte. Normalerweise sagte Bonnie immer, dass Morphium dem Körper seiner Mutter ab einer gewissen Dosis schadete, aber jetzt war das wohl auch schon egal. Es ging einzig und alleine darum, dass seine Mom nicht leiden musste.
Aber er war sich sicher, dass sie litt. Jedes Mal, wenn sie ihre Augen öffnete, sah sie aus, wie ein kleines Kind, das Angst vor dem Tod hatte, das sich am Leben festklammern wollte. Und jedes Mal, wenn sie so um sich schlug, griffen er oder sein Dad nach ihrer Hand, damit sie sich die Sauerstoffmaske nicht vom Gesicht reißen konnte. Nach einer Minute beruhigte sie sich meist und fiel wieder in Ohnmacht.
Nein, er war froh, dass Katy das nicht mitansehen musste. Wenn er die Wahl gehabt hätte, dann wäre er auch lieber nach Hause gegangen und hätte sich in seinem Bett versteckt und sich vorgestellt, dass seine Mom in Frieden gehen konnte.
Bonnie brachte den beiden weiche Kissen für die harten Plastikstühle und gab ihm eine Decke, weil ihm seit Stunden einfach nicht warm werden wollte und er auch noch völlig übermüdet war und immer noch unter Schock stand. Sein Dad kippte einen Kaffee nach dem anderen hinunter und war sogar einmal nach draußen gegangen, um zu rauchen. Er hatte seinen Dad seit neun Jahren nicht mehr mit einer Zigarette gesehen.
„Sie können so lange bleiben, wie Sie wollen", sagte Bonnie leise zu seinem Vater, als es langsam spät wurde und die Putzfrauen auf dem Flur die Böden zu wischen begannen.
Sie redeten nicht. Sein Dad saß auf der einen Seite des Bettes und er mit dröhnenden Kopfschmerzen auf der anderen, in seine Decke eingewickelt und hielt die kalte, blasse Hand mit der faltigen, losen Haut seiner Mutter, während er versuchte zu verstehen, dass das alles wirklich passierte.
Dass seine Mutter starb und er daneben saß und hilflos zusehen musste.
*
Vor zwei Tagen noch, war er an ihrem Zimmer vorbeigelaufen, als sie halbschlafend in ihrem Bett gelegen hatte. Er hatte eine Weile in ihrem Türrahmen gestanden und sie beobachtet, während er versucht hatte, sich eine Welt ohne seine Mom vorzustellen. Ein Weihnachten ohne sie. Einen Geburtstag ohne sie. Nach Hause zu kommen ohne sie.
„Ich werde nicht sehen, wie du glücklich wirst", hatte sie irgendwann gesagt und die Augen aufgeschlagen.
„Was?", hatte er kopfschüttelnd nachgefragt und sie hatte so unendlich traurig und verloren ausgesehen, dass er sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte, um nicht hören zu müssen, was sie sagen wollte.
„Das tut mir am meisten weh." Sie hatte auf die aufgeplatzte, aufgerissene, trockene und teils blutige und krustige Haut an ihren Beinen gedeutet, während Tränen in ihren Augen gestanden hatten. „Mehr als meine Beine, mehr als meine Brust, mehr als... mehr als alles andere. Ich werde nicht sehen, wie du heiratest, Ethan. Ich werde dein erstes Kind nie in den Armen halten. Auch nicht dein zweites oder drittes. Ich werde nicht miterleben, wie Katy ihren High-School-Abschluss macht und aufs College geht." Sie hatte sich eine Träne von der Wange gewischt und aufgelacht. Es hatte so gequält geklungen. „Ich werde nie erfahren, ob der nächste Präsident eine Frau wird. Auch nicht, ob sie diese furchtbare Krankenhausserie endlich absetzten. Ich werde nie die Chinesische Mauer sehen, auch wenn ich das gerne würde, aber ich hoffe, dass du sie dir für mich irgendwann ansiehst. Ich werde nicht erfahren, was du alles erreichen wirst."
Er hatte den Druck auf seiner Brust nicht länger ignorieren können und hatte den Blick von ihr abgewandt, in der Hoffnung, auch die Tränen zurückhalten zu können.
„Ich werde all das verpassen, worauf sich eine Mutter nur freuen kann, auch wenn ihre Kinder schon groß sind. Die ersten Male hören nie auf und ich will..." Sie hatte aufgeschluchzt, sich eine Hand vor den Mund gelegt und ein paar Sekunden gebraucht, um sich wieder zu fangen. „Ich will nur, dass du glücklich bist. Ich will, dass du jemanden hast, der dir durch diese Zeit helfen wird, denn... Ich werde nicht mehr hier sein, um dich in den Arm zu nehmen und trösten zu können. Das ist nicht nur schwer zu ertragen, es ist unmöglich zu ertragen. Dass ich sterbe und du und Katy mit diesem Schmerz ohne mich klarkommen müsst. Dass ich euch beide einfach so zurücklasse. Ich wünschte, ich könnte euch davor beschützen, aber es geht nicht und du musst mir versprechen, dass du glücklich wirst. Dass du in deinem Leben genau das tun wirst, was du möchtest und nur das." Sie hatte sich mit beiden Händen das Gesicht gerieben, um den Schmerz wegzuwischen.
Er hatte sich noch nie in seinem ganzen Leben so verloren gefühlt, wie in diesem Moment. Er hatte wieder den Blick gehoben und seine Mom angesehen.
Traurigkeit und Schmerz und Angst und Stolz und unendlich viel Liebe hatten sich alle auf einmal auf ihrem Gesicht und vor allem in ihren Augen abgezeichnet, die seit Monaten so leblos schienen. „Ich liebe dich so, so sehr, mein Schatz. Und ich bin wahnsinnig stolz auf dich, Ethan."
In diesem Augenblick waren alle Dämme, von denen er nie gedacht hatte, dass sie jemals brechen würden, gebrochen.
„Ich liebe dich, Mom", hatte er gewispert, weil seine brennende Kehle nicht zu mehr im Stande gewesen war. Seine Mom hatte die Arme ausgebreitet und er hatte sich neben sie aufs Bett gelegt und zusammen gerollt und geweint und geschluchzt und hatte sich an ihr festgeklammert, wie ein kleiner Junge, hatte ihren Geruch eingesogen, weil er Angst gehabt hatte, ihn zu vergessen.
Und in diesem Moment war ihm bewusst geworden, warum er die letzten Monate über so wütend auf seine Mom gewesen war. Warum ein Teil von ihm sie so sehr gehasst hatte, wenn er sie nur angesehen oder ihre Stimme gehört hatte.
Jetzt hatte er verstanden, dass ihr Tod einfach leichter zu verkraften gewesen wäre, wenn er sie hassen könnte. Denn der Schmerz, den er in diesem Augenblick gespürt hatte, als seine Mom ihre Arme um ihn geschlungen, ihn auf den Kopf geküsst, über seine Haare gestrichen und ihm wieder und wieder zugeflüstert hatte, wie sehr sie ihn liebte und wie stolz sie auf ihn war, war so unbeschreiblich brutal und überwältigend gewesen, dass er sich nicht sicher gewesen war, ob er ihn überleben würde.
*
Er dachte, dass er das Ende des Tunnels ansteuerte.
*
Er war sich nicht sicher, was es war, aber nachdem es sich von dem ersten Schock erholt hatte, wurde er ruhig. Taub. Manch einer hätte ihn vielleicht als apathisch bezeichnet. Er weinte. Aber es waren nur die Tränen, die seine Augen verließen, keine Emotionen.
Irgendwann fand er es sogar lächerlich zu weinen. Seine Mom würde sterben, ein paar Tränen würden daran nichts ändern. Aber dann blickte er zu seinem Dad hinüber, der erschöpft und müde die Hand seiner Mom hielt. Und er musste an Katy denken und der Schmerz überrollte ihn für ein paar Sekunden. Nicht, weil er seine Mom verlieren würde, sondern, weil Katy ihre Mom verlieren würde und Dad seine beste Freundin, eine Frau, mit der er einmal verheiratet gewesen war, weil er sie so sehr geliebt hatte.
Er trauerte nicht um seinen eigenen Verlust. Er sah es kaum noch als seinen eigenen an und fragte sich, ob mit ihm etwas nicht stimmte.
Seine Schläfen pochten und seine Augen brannten und sein Magen war leer und begann zu grummeln, aber er hatte keinen Hunger. Im Gegenteil, wenn er an Essen dachte, wurde ihm schlecht.
Bonnie kam und brachte beiden eine Flasche Wasser, sagte aber nichts, sondern schenkte beiden nur ein trauriges, aufmunterndes Lächeln, das ihn nicht aufmunterte.
Nie hätte er gedacht, dass Sterben so lange dauern konnte. Er fragte sich, was seine Mom mitbekam. Sie sah so leidend und elendig aus, wie sie da lag. So dürr und blass und mit einer Sauerstoffmaske und an den ganzen Elektroden und mit den Zugängen in ihrem Arm und den Medikamenten an den Beuteln. Das hatte sie nicht verdient. Wieso durfte sie nicht zu Hause sterben? Warum hatte sie nicht das letzte Kapitel ihres Buches lesen, ihm und Katy noch einmal einen Gutenachtkuss geben und friedlich einschlafen und einfach nicht mehr aufwachen dürfen?
Warum musste es so hässlich enden?
War das normal? Waren die hübschen, ruhigen Tode aus Filmen und Serien eine Lüge? Würde er auch einmal so enden? Würde es ihm so schwer fallen, auf die andere Seite zu gehen?
Als seine Mom wieder um sich zu schlagen begann und sich wieder die Sauerstoffmaske abstreifen wollte, wieder zu husten und zu würgen begann, kam die griesgrämige Schwester zur Türe herein und fragte, ob sie seine Mom am Bett anbinden sollte und sein Dad warf sie raus. Er hatte seinen Dad noch nie wütend erlebt, aber jetzt war er es.
„Den Teufel werden Sie tun! Die Mutter meines Sohnes anbinden zu wollen, während sie versucht, diese Welt zu verlassen. Raus aus diesem Zimmer, bevor ich diese Unverschämtheit Ihrem Vorgesetzten melde!"
Er wickelte sich in die Decke ein und rollte sich auf dem Stuhl zusammen. Er war so müde und sein Kopf war so schwer und fühlte sich so voll und leer gleichzeitig an.
„Möchtest du nach Hause gehen?", fragte sein Dad irgendwann sanft, dabei klang seine Stimme ganz verlegt, doch er schüttelte den Kopf. Er war sich fast sicher, dieses Haus nie wieder betreten zu können. „Du solltest schlafen. Etwas essen", schlug sein Dad vor.
„Ich möchte aber bleiben", krächzte er. Das war natürlich gelogen. Niemand blieb gerne an einem Sterbebett sitzen. Er glaubte, dass jeder, der so etwas durchmachte, sich einfach nur ein Ende wünschte. Ein Ende wäre, so grausam es klang, erleichternd gewesen. Aber trotzdem konnte er seine Mom nicht alleine lassen.
Also blieb er und sah dabei zu, wie sein Dad in kleine Stücke zerbrach, über den kahlen Kopf seiner Mom strich, wieder und wieder, und ihr zuflüsterte, dass es okay war. Dass sie keine Angst haben musste, dass sie alle irgendwie zurechtkommen würden. Dass er auf Katy und Ethan aufpassen würde, versprochen. Dass sie nicht weiter kämpfen musste, wenn es zu schwer war. Dass sie gehen konnte, loslassen sollte, dass sie ihr nicht böse waren, dass er sie liebte und dass sie unfassbar tapfer gekämpft hatte.
Mit jedem Wort, das sein Dad sagte, zerbrach auch er ein klein wenig.
Die Stunden vergingen und er konnte schon gar nicht mehr sitzen. Stehen auch nicht. Aber er hätte es sich nie verziehen, seine Mom im Sterben alleine zu lassen.
Niemand sollte alleine sterben.
Und er wusste, dass sie Angst hatte. Viel war von ihr nicht mehr übrig, aber das was übrig war, war Angst. Sie sollte keine Angst haben.
Gegen sechs Uhr morgens -die Sonne war noch gar nicht aufgegangen- wurde sie wieder unruhig. Aber anders als davor, sie öffnete nicht die Augen, sie versuchte auch nicht, sich die Maske herunterzureißen, nur ihre Atmung wurde flacher und schneller.
Er streifte die Decke ab, setzte sich auf und griff automatisch nach der Hand seiner Mutter. Sein Dad und er tauschten einen Blick aus, der vorrangig Unwohlsein und Angst in sich trug.
Keiner von beiden hatten wissen können, was die Unruhe seiner Mom bedeutete, aber instinktiv wussten sie es doch. Sie wussten, dass es gleich vorbei sein würde.
Er fühlte sich, als würde ihn der Tod von hinten packen und seine Kehle zudrücken.
Sein Dad wurde nervös, sah auf den Flur hinaus, wollte aufstehen und eine Schwester holen, vielleicht um Hilfe rufen, aber er legte seine Hand auf die seines Dads.
„Nicht", flüsterte er erstickt und die Konturen seines Dads verschwommen vor seinen Augen, der Rest des Zimmers auch und er fasste die Hand seiner Mom fester. Sein Dad vergrub den Kopf in den Händen und stieß ein Schluchzen aus. „Lass sie gehen, Dad. Bitte, lass sie einfach gehen", weinte er.
*
Doch er blieb hilflos in dem dunklen Tunnel stehen, unfähig, sich vorwärts zu bewegen.
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