25
Es war lange her, seit er seinen Gramps besucht hatte. Dieses Wochenende flog er zufällig beruflich nach Alaska, hatte aber keine Zeit, seine Familie zu besuchen, weshalb er ihnen erst gar nicht Bescheid gegeben hatte, dass er in der Nähe war. Stattdessen wollte er seinen Gramps besuchen.
Er besuchte ihn nicht gerne. Nicht, weil er ihn nicht mochte, sondern, weil ihn zu besuchen bedeutete, sich mit etwas auseinander zu setzen, mit dem er sich nicht auseinandersetzen wollte.
Die Diagnose war erst vor fünf Jahren gestellt worden -die Ärzte waren überrascht gewesen, denn sein Gramps war einundsiebzig gewesen und in diesem Alter brach die Krankheit nur sehr selten aus.
Es war ein Schock gewesen. Das war es immer noch.
Er hatte das Gefühl gehabt, dass sein Leben, seine Welt, aus den Angeln gehoben worden war und er hatte lange Zeit verdrängt und verleugnet, was für ein Schicksal seinem Großvater bevorstand. Er war seinem Gramps lange Zeit absichtlich aus dem Weg gegangen, weil es sich nicht damit hatte auseinandersetzen wollen oder können. Er wusste, dass dieses Verhalten falsch gewesen und immer noch falsch war, aber er konnte nicht gegen dieses riesige, unheimliche, dunkle Monster ankämpfen, das da vor ihm stand und ihn durch seine blitzenden Augen bedrohlich musterte. Es war leichter, sich vor diesem Monster zu verstecken, auch wenn es feige war.
Sein Dad und Kody hatten sofort von sich aus einen Gentest gemacht, und Mom hatte darauf bestanden, dass Mia auch einen lassen machen sollte. Da Mia minderjährig gewesen war, hatte sie das verlangen können, aber er war einundzwanzig gewesen und hatte sich eigenständig gegen einen Gentest entschieden. Nächtelang hatte seine Mutter ihn unter Tränen angefleht, den Test zu machen, aber er hatte sich geweigert.
Er wollte es nicht wissen.
Der zweite Schock nach der Diagnose seines Gramps' war gewesen, dass sein Dad erkranken würde. Noch war sein Dad fit, es hatten sich keine Symptome bemerkbar gemacht, aber es war nur eine Frage der Zeit. Wenn sein Dad Glück hatte, würde die Krankheit auch erst so spät ausbrechen, wie bei Gramps. Wenn sein Dad Glück hatte, durfte er vorher sterben.
Die meiste Zeit versuchte er, nicht daran zu denken. Es war nicht (oder noch nicht) präsent genug, um sich konstant daran erinnert zu fühlen. Nicht so präsent, wie Dana es beispielsweise war. Erst gestern war sie wieder unangekündigt vor seiner Türe aufgekreuzt, hatte sich selbst eingeladen, mit Basco gekuschelt, seine Lieblingspizza bestellt und auf seiner Couch Grey's Anatomy geschaut, während er seine ganzen Informationen für den Flug am nächsten Tag durchgegangen war.
Als sein Gramps diagnostiziert worden war, war Dana für ihn da gewesen. Das war zwar nicht der Grund, warum er sie immer noch in seine Wohnung ließ, aber er redete sich gerne ein, dass es dazu beitrug.
Kody und Mia waren nicht Genträger dieser Krankheit, aber auch die beiden hatten versucht, ihn zu einem Gentest zu bewegen. Er war sich nur nicht sicher, inwiefern ihm ein Ergebnis helfen sollte. Ändern konnte er es nicht und er fand, dass er sein Leben bereits genauso lebte, wie er es leben wollte. Er brauchte keine erleuchtende, furchterregende Diagnose, die ihn auf den richtigen Pfad leiten würde.
Würde er daran erkranken, würde er es. Wenn nicht, dann eben nicht. Aber zu wissen, dass er erkranken würde, hätte ihm mehr Schaden zugefügt, als in Ungewissheit zu leben. So konnte er sich wenigstens einreden, dass es auch ihn nicht getroffen hatte. Dass er und seine Geschwister Glück gehabt hatten.
Es war schrecklich genug, die Krankheit bei seinem Gramps fortschreiten zu sehen und zu wissen, dass es seinem Dad in ein paar Jahren genauso ergehen würde. Beängstigend war kein Wort für das Gefühl, das ihn überschwemmte, wenn er seinem Großvater dabei zusehen musste, wie er kaum noch laufen, nicht selbst Essen konnte, weil seine unwillkürlich zuckenden Muskeln es nicht zulassen wollten. Dass sein einst so schlaues Gehirn zwar an einigen Tagen noch in Takt war, aber sein Mund kaum noch Sätze herausbrachte, die verständlich waren.
Dass sein Gramps an manchen Tagen bestimmt nicht mehr wusste, wer er überhaupt war.
An diesem Tag wusste Gramps es, denn er versuchte, ihn anzulächeln, als er sich zu ihm auf sein Zimmer setzte.
„Hey, Gramps." Er griff nach seinen faltigen, zitternden Händen und hielt sie. Er hielt sie den ganzen Besuch über, während er von seinen Flügen erzählte und von seiner Wohnung in New York und Dana und wie sie ihn einfach nicht in Ruhe ließ und davon, dass er extra von Basco ein paar Fotos geschossen hatte, die er ihm zeigen wollte, aber er wollte die Hände seines Großvaters nicht loslassen und es versetzte ihm einen Stich ins Herz, als er bemerkte, dass sein Großvater zwar lächelte, aber Tränen in seinen dunklen Augen standen, als er ihm etwas zu sagen versuchte, aber nur undeutliche Laute herauskamen und er seinen Gramps nicht verstehen konnte.
Ihn überkamen Schuldgefühle.
Er wusste, dass er nicht oft herkam und es traf ihn jedes Mal, wenn er sich dagegen entschied und sich selbst gegenüber behauptete, dass er keine Zeit hatte. Er wusste, dass sein Dad oft hier war, Kody und Mia Gramps oft besuchten und seine Mom auch. Aber er schaffte es die meiste Zeit über einfach nicht.
Er und sein Großvater hatten früher eine innigere Beziehung gehabt, als er sie je mit seinen Eltern gehabt hatte. Natürlich liebte er seine Eltern und hätte sie jederzeit um Rat gefragt, aber bei seinem Gramps hatte er sich immer geborgener und verstandener gefühlt.
Als er sechzehn gewesen war, war sein Großvater mit ihm noch einen Marathon gelaufen. Es war eine Wohltätigkeitsveranstaltung gewesen.
„Ich bin zwar alt, aber nicht so alt", hatte Gramps geschimpft, als er lachend gemeint hatte, dass sein Gramps keine Meile bei dem Lauf durchhalten würde. Aber sein Gramps hatte schon immer einen Sturschädel gehabt, der massiver als Granit war.
Er hatte Angst gehabt, dass sein Gramps auf halber Strecke kollabieren würde, aber er hatte auch nicht gewusst, dass sein Gramps immer noch regelmäßig joggen gegangen war. Mindestens vier Mal pro Woche.
Gramps hatte ihn beim Marathon auf den letzten fünfzig Metern abgehängt und seinem jugendlichen Ego einen ordentlichen Dämpfer verpasst.
In der Ziellinie hatte sein Gramps ihn lachend aufgefangen und auf den Rücken geklopft. „Du fliegst zwar, wie eine Küstenschwalbe, aber du läufst wie eine Schnecke."
Gramps hatte ihn immer gerne mit einer Küstenschwalbe verglichen, mit den besten Langstreckenfliegern der Welt, weil er schon als Kind davon geredet hatte, eines Tages auch ein richtiger Pilot zu werden und ganz viele Menschen durch die Welt fliegen zu können.
Nach diesem Marathon hatte er auch angefangen, regelmäßig zu trainieren, weil er es sich zum Ziel gemacht hatte, seinen Gramps beim nächsten Wettlauf zu schlagen.
Es war nur nicht mehr dazu gekommen.
Nachdem seine Grandma gestorben war, war Gramps nicht mehr derselbe gewesen. Seine Großeltern waren über vierzig Jahre verheiratet gewesen. Er hatte immer das Gefühl gehabt, dass die Seele seines Gramps an dem Tag, an dem seine Grandma verstorben war, mit ihr in den Himmel gegangen war, auch, wenn er nicht wirklich an Seelen glaubte. Es musste eine unvorstellbare Qual sein, einen Menschen, den man so sehr liebte und mit dem man sein Leben verbracht hatte, gehen zu lassen. An vielen Tagen glaubte er, dass sein Gramps nach diesem Verlust selbst gar nicht mehr hatte leben wollen.
Sein Gramps musste sehr einsam gewesen sein in der kleinen Wohnung, die ohne seine Grandma plötzlich so kalt und leer gewesen war. Er hasste sich dafür, dass er seinen Gramps nicht öfter besucht hatte und es immer noch nicht tat. Gramps hatte eigentlich alle Liebe und Wärme dieser Welt verdient.
Gramps war auch der einzige Grund, warum er sich seine große Wohnung in New York leisten konnte. Sein Gramps hatte die Anzahlung übernommen und ihm einen riesigen Vorschuss seines künftigen Erbes überwiesen, damit er die monatlichen Mieten sorglos bezahlen konnte, bis er auf seiner Gehaltsstufe höher geklettert war. Er hatte Gramps seine Wohnung immer zeigen wollen, wenn sie fertig eingerichtet war, aber die Krankheit war bereits zu weit fortgeschritten, als dass er Gramps in ein Flugzeug hätte verfrachten und nach New York hätte fliegen können.
Er hasste den unaufhaltsamen Verlauf dieser Krankheit, hasste es, dass die Ärzte nichts tun konnten, hasste es, dass es mit jedem Tag schlimmer wurde und er hasste es, dass seinem Dad dasselbe Schicksal bevorstand.
An manchen Tagen hoffte er, sein Dad würde sterben, bevor ihn dieses grausame Schicksal ereilte. Er hoffte, dass er selbst sterben würde, bevor ihn diese Krankheit heimsuchte und vielleicht sogar davon abhalten würde, zu fliegen.
Wie oft war er nun schon kurz davor gewesen, diesen bescheuerten Gentest zu machen und es doch herauszufinden? Aber er wollte es einfach nicht wissen. Er wollte nicht wissen, wie er eines Tages enden würde. Alle Menschen wünschten sich ein langes Leben, aber die wenigsten bedachten dabei, wie viel Leid ein langes Leben mit einer grausamen Krankheit bringen konnte.
Er wünschte, er hätte Gramps den Abschied erleichtern können. Alles was er tun konnte, war, zu versprechen, dass er an Weihnachten wieder kommen würde. Gramps verstand bestimmt, dass er viel arbeitete und zu oft unterwegs war, um regelmäßig vorbeizuschauen, aber sich das einzureden, machte seine Schulgefühle nicht weniger erdrückend.
An diesem Tag fiel es ihm schwerer als jemals zuvor, seinen Gramps im Pflegeheim zurück zu lassen.
*
Es war Anfang November, als er mit Kody zufällig am selben Tag in Moskau gelandet war. Als er nach der Landung seinen Bruder im Personalbereich gesehen hatte, hatte er geglaubt, zu träumen. Ein Sechser im Lotto wäre wahrscheinlicher gewesen, als seinem großen Bruder jemals bei der Arbeit über den Weg zu laufen.
Sie waren nicht im selben Hotel untergebracht, aber sie entschieden, an diesem Abend zusammen essen zu gehen, ohne ihre Crewmitglieder. Es war lange her, dass sie sich gesehen und wirklich unterhalten hatten und Kody war auf dem neuesten Stand, was zu Hause anbelangte.
„Übrigens hat Mia jetzt einen Freund", meinte Kody mitten in seinen Erzählungen, hob die Augenbrauen und betonte das Wort Freund so eigenartig, dass er lachen musste. „Ich finde es unfair, dass sie mit einem Typen händchenhaltend durch unser Haus flaniert, während ich Single bin."
Mal wieder, hätte er am liebsten gekontert, aber er ließ es sein. Egal, was Kody auch behauptete, vermutlich hatte er langsam die Nase voll von Beziehungen, die nicht länger als sechs Monate hielten. Seine letzte Freundin, Fiona, hatte er vor einer Woche verlassen. Den Grund dafür hatte Kody ihm noch nicht verraten, aber der Abend war noch jung und der erste Wodkashot vor dem Essen war aufs Haus gegangen. Kody liebte Russland.
„Und wer ist Mias Freund?", hakte er nach, weil er bis eben nicht einmal davon gewusst hatte. Es war schon eine Weile her, seit er das letzte Mal mit seiner Mom gesprochen hatte und Mia hätte ihm sowieso kein Wort verraten.
„Hao", erklärte Kody und stopfte sich weiter gierig die Teigtaschen in den Mund. Er war längst satt, aber sein Bruder hatte die Pubertät in Sachen Essen nie überwunden. „Sie hätte an schlechtere Kerle geraten können. Aber Mal ehrlich, was soll das mit den Kartentricks? Kapierst du das? Der Kerl rennt überall mit seinem bescheuerten Kartendeck herum."
Er zuckte mit den Schultern. „Bei Mia hat es ja offenbar funktioniert. Vielleicht solltest du dir was von ihm beibringen lassen."
Kody warf ihm einen vernichtenden Blick zu und er beschloss, dass jetzt der perfekte Zeitpunkt war, zu fragen. „Was war mit Fiona?"
Sein Bruder schluckte den Bissen hinunter, trank ein paar Schlucke Wein nach, lehnte sich zurück und zuckte mit den Schultern. „Was soll ich sagen? Anscheinend gibt es auch Frauen, die mich satt haben."
Er riss seine Augen so sehr auf, dass er überrascht war, dass seine Augäpfel nicht auf den Tisch geplumpst und in die Reste der Sauce gefallen waren. „Sekunde, warte. Sie hat dich verlassen? Sowas gibt es?" In Kodys Ohren klangen seine Worte vermutlich missbilligend und so, als würde er sich über ihn lustig machen, aber er meinte jedes Wort ernst. Kody war noch nie von einer Frau verlassen worden. Meistens bemerkte sein großer Bruder schnell genug, wenn die Beziehung auf eine Sackgasse zusteuerte und beendete sie, bevor seine Freundinnen die Chance dazu bekamen.
Dass Fiona diesmal schneller gewesen war als Kody, schockierte ihn mindestens so sehr, wie seinen Bruder auf dem Flughafen ins Moskau gesehen zu haben.
„Sie hat gesagt, dass sie sich im Augenblick nicht vorstellen kann, mich irgendwann zu heiraten."
„Toller Grund", murmelte er kopfschüttelnd. „Hätte ich meine Beziehungen danach gemessen, wäre ich immer noch Jungfrau."
„Wir alle. Aber was soll's?" Kody nahm wieder Gabel und Messer in die Hand und beugte sich zu dem, was er gerne als das einzig Verlässliche bezeichnete. „Und was gibt es bei dir? Lebst du immer noch mit der Irren zusammen?"
Er hatte Dana seit dem Pizza-und-Grey's-Anatomy-Abend nicht mehr gesehen und obwohl er froh darüber war, beunruhigte es ihn gleichzeitig, weil er sich fragte, was sie wohl vorhatte. Ob ihr nächstes unangekündigtes Aufkreuzen in einer Explosion enden würde.
Als er nicht antwortete, musterte Kody ihn. „Oh mein Gott, bitte sag nicht, dass du auch noch eine Neue hast? Lasst mich nicht als einziger Single der Familie stehen!"
„Blödsinn."
„Mhm", machte Kody misstrauisch. „Und warum schaust du mich dann so an?"
„Wie schau ich dich denn an?"
„So schuldbewusst."
„Tu ich gar nicht."
„Soll ich noch einen Wodka bestellen? Nach zwei erzählst du mir sowieso was los ist", lachte Kody.
„Sei nicht kindisch."
„Dann sag mir, was los ist. Sonst erzähl ich es Mom." Sein großer Bruder blinzelte ihn unschuldig an und schürzte sie Lippen. „Das willst du doch nicht, oder?"
Amüsiert gab er nach. „Gut, von mir aus... Was war die jüngste Frau, mit der du je ausgegangen bist, als du über zwanzig warst?"
Kody sah ihn an, als würde er ihm gleich gestehen, dass er eine Bank ausgeraubt hatte.
„Du machst mir Angst", verkündete Kody und bestellte noch ein Glas Wein. Er blieb bei Wasser, denn er musste morgen wieder arbeiten und der Wodkashot war vermutlich schon mehr als genug gewesen. „Also. Wie alt ist... von wem auch immer du sprichst? Hat sie die Vorschule schon abgeschlossen?"
Jetzt war es an ihm, seinem Bruder den Todesblick zuzuwerfen, aber Kody hob nur abwartend die Augenbrauen.
„Also?", fragte sein Bruder.
„Beantworte erst meine Frage, welches Alter in deinen Augen akzeptabel ist", erwiderte er und klang dabei in etwa so zerknirscht wie damals, als er die Lieblingstasse seiner Mom kaputt gemacht hatte.
„Eine Volljährige", sagte Kody nachdrücklich. „Bitte sag mir nicht, dass ich gleich meinen eigenen Bruder anzeigen muss."
Er verdrehte die Augen. „Es war eine rein hypothetische Frage."
„Und hat deine rein hypothetische Frage auch einen Namen?"
„Wir sind nur befreundet."
„Und wie alt ist Wir sind nur befreundet?"
Er trank einen Schluck und stieß den Atem aus. „Siebzehn."
Kody hob die Augenbrauen, aber seine Reaktion fiel nicht so erschüttert aus, wie er befürchtet hatte. „Siebzehn? Du stehst auf eine Siebzehnjährige?"
„Ich steh nicht auf eine Siebzehnjährige. Wir sind nur befreundet."
„Für wie lange noch? Bis sie achtzehn wird?"
Er rollte mit den Augen, aber obwohl Kodys Bemerkung abwertend gewesen war, fand er, dass sie doch recht klug war. Nie im Leben würde er etwas mit einer Minderjährigen anfangen. Aber in ein paar Monaten -auch, wenn er nicht genau wusste, in wie vielen- würde Hannah achtzehn sein und dann wäre es streng genommen ganz und gar nicht mehr abartig oder in anderen Staaten illegal. Es wäre höchstens ein bisschen unpassend gewesen.
„Okay, wenn du mir schon nicht sagen willst, wer dieses Mädchen ist, dann flehe ich dich an, dass du wartest", sagte Kody, war aber schon wieder entspannt genug, um weiter zu essen.
„Darum musst du mich nicht anflehen, ich bin kein Idiot", murmelte er. „Aber streng genommen, wäre es nicht illegal, sie ist älter als sechzehn."
„Streng genommen wärst du ein Idiot und Arschloch und kriegst massive Probleme mit dem Vater der Kleinen, wenn du dich darauf einlässt. Warte bis sie achtzehn ist."
Warten... worauf warten? Sie wieder zu sehen? Ihr wieder zu schreiben? Mit ihr essen zu gehen? Wo war die moralische Grenze, worauf sollte er warten?
Er hasste sich selbst dafür, dass alles was Hannah ihm schrieb, alles, was sie sagte oder tat ihn wünschen ließ, bei ihr sein zu können. Nach ihrer Hand zu greifen. Sie zu fragen, was letztens losgewesen war, als sie ihn in Dubai angerufen und so verzweifelt geklungen hatte, dass er kurz mit dem Gedanken gespielt hatte, Mia anzurufen, damit sie hinüberfahren und nach Hannah sehen würde.
Aber vielleicht versuchte er nur etwas in ihr zu sehen, was gar nicht da war. Vielleicht kannte er sie nicht gut genug, vielleicht war sie für ihn nur eine weiße Leinwand, auf die er alles projizieren konnte, was er wollte.
Vielleicht wollte er gar nicht Hannah, vielleicht wollte er nur, was er in ihr sehen wollte. Sie erinnerte ihn an jemanden, den er nie gekannt, aber immer hatte haben wollen und das war ja wohl Indiz genug dafür, dass er nicht in Hannah verliebt war, sondern in die Vorstellung auf... auf etwas, das er nicht benennen konnte.
Seine Gedanken wurden selbst für ihn zu verwirrend, also beschloss er, das Thema zu wechseln.
In dieser Nacht konnte er kein Auge zu tun. Das war nicht gänzlich dem stickigen Zimmer zuzuschreiben, in dem es so warm war, dass er sich bereits das T-Shirt ausgezogen hatte. Unter der dicken Decke schwitzte er trotzdem noch und er war schon zwei Mal aufgestanden, um sich noch etwas zu trinken zu holen, aber das war nicht der alleinige Grund für seine Rastlosigkeit.
Seine Schlaflosigkeit lag an den Dingen, die Kody über Hannah gesagt hatte. An den Dingen, die er sich einzureden versuchte.
Sie faszinierte ihn, zog ihn an, obwohl er nicht wusste, was es war. Es war wie damals, als er noch in die Schule gegangen war und ein hübsches Mädchen ihn angesprochen hatte und er den restlichen Tag nur noch an diese Person hatte denken können. Manche Menschen hatten wohl die Gabe, einen innerhalb weniger Augenblicke in ihren Bann zu ziehen.
Er war nicht verliebt in sie. Aber er wusste, dass er es bald sein würde, wenn er nicht aufpasste.
Sein Handy vibrierte auf dem Nachttisch und er wusste instinktiv, dass sie es war. Einfach, weil sie sich lange nicht mehr gemeldet hatte, es drüben in Alaska etwa Mittag sein musste und sie das sagenhafte Talent hatte, ihm genau dann zu schreiben, wenn es am ungünstigsten war.
Aber das war egal. Bis jetzt hatte er jedes Mal ausnahmslos zurückgeschrieben oder ihre Anrufe entgegen genommen, wenn er Zeit gehabt hatte, egal wie unpassend es gewesen war.
Diesmal wollte er standhaft bleiben, presste die Augen zusammen und drückte sich das Kissen auf den Kopf.
Nicht an Hannah denken.
Nicht an Hannah denken...
Nicht!
Es war zwecklos. Er wusste, dass eine Nachricht von ihr auf seinem Handy prangte und er wusste, dass er nicht würde einschlafen können, bis er sie gelesen hatte.
Er rollte sich auf den Rücken und griff nach dem Handy.
Mathe ist langweilig. Bist du wach? Wo bist du gerade?
Er tippte eine schnelle Antwort, obwohl er wusste, dass er damit nur ein Gespräch befeuerte, das ihn eine weiter Stunde vom Schlafengehen abhalten würde.
Moskau. Ich kann nicht schlafen.
Ihre Antwort kam sofort. Wieso kannst du nicht schlafen?
Er wollte ihr nicht unbedingt auf die Nase binden, dass er an sie dachte und daran, dass er sich wünschte, sie wäre nur ein paar Jährchen älter. Alter war zwar nur eine Zahl, aber in diesem Fall war die Zahl beschissen und sorgte dafür, dass er sich jedes Mal schuldig und unwohl fühlte, wenn er bei ihr war, mit ihr schrieb, oder mit ihr telefonierte, oder sich eingestand, dass er sie unfassbar hübsch fand.
Jetlag. Ist nicht weiter schlimm, antwortete er nach kurzem Zögern.
Nicht, dass du im Flugzeug einschläfst, erwiderte sie und setzte ein paar Lachsmileys dahinter. Fliegst du zurück nach NY? Ich bin sicher, Basco vermisst dich schon.
Sein Mitternachtshirn war sich sicher, dass nicht Basco ihn vermisste, sondern sie. Oder vielleicht bildete er sich das auch nur ein.
Es war im Grunde egal, denn der böse Kapitän in seinem Kopf hatte bereits das Steuer übernommen, bevor er es realisiert hatte.
Ich würde viel lieber nach Alaska fliegen und dich sehen.
Er hatte die Worte getippt und abgesendet, bevor er überhaupt über die Bedeutung dieser Buchstaben in ihrer unheilvollen Aneinanderreihung nachgedacht hatte.
„Oh nein", murmelte er und setzte sich ruckartig auf. „Nein, nein, nein -Fuck!"
Er hätte die Nachricht zurückrufen können, aber er wusste, dass Hannah vor ihrem Handy saß und sie längst gelesen hatte.
Kody hatte recht gehabt. Er war ein Vollidiot. Gab es eine Chance, dass man diese Worte auf rein freundschaftliche Art interpretieren konnte? Nein, unmöglich. Hatte er gerade mit ihr geflirtet? So richtig?
„Fuck", murmelte er noch einmal, starrte auf die Worte, von denen er nicht glauben konnte, dass er sie gerade getippt und abgeschickt hatte.
Es dauerte lange, bis eine Antwort kam. Entweder, weil sie überlegte, seine Nummer zu blockieren, oder, weil sie einen hysterischen Schreikrampf bekommen hatte, oder-
Er hielt den Atem an, als er ihre Antwort las, die im ersten Augenblick so gar keinen Sinn ergab.
Ich will dich auch wiedersehen.
„Scheiße." Mit einem tiefen, angestrengten Seufzer ließ er das Handy auf die Bettdecke und sich zurück ins Kissen fallen. Er brachte sich doch nur selbst in Schwierigkeiten.
Unmöglich konnte er mit Hannah ausgehen, selbst wenn sie Achtzehn war. Was für ein furchtbarer Mensch wäre er gewesen, um bloß auf ihren achtzehnten Geburtstag zu gieren, um mit ihr ausgehen zu können? So etwas hätte er bei anderen Männern verachtet. Außerdem war sie Mias Freundin.
Aber er konnte nicht aufhören, an das wenn doch zu denken...
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