24
Grün war der Frühling, orange war der Herbst und der Winter war blau. Zumindest dann, wenn sie den Jahreszeiten eine Farbe hätte zuordnen müssen.
Nur der Sommer hatte nie eine Farbe gehabt. Er war nicht pink, oder gelb oder rot. Und jetzt musste sie sich auch keine Gedanken mehr darüber machen, denn diese Jahreszeit war orange.
Irgendwie machte sie der Herbst immer traurig.
Sie mochte Herbst und Winter zwar unheimlich gerne, weil es draußen so kalt und im Haus so schön kuschelig war (zumindest in Julias und Adams Haus; in ihrer Wohnung war immer die Heizung kaputt gewesen), aber irgendwie drückte das Wetter ihre Stimmung noch weiter nach unten. Die grauen Wolken und der Regen und der Schnee nach einem schönen Sommer, in dem sie viel draußen gewesen und mit Justin, Riley und Cassy gesprayt hatte. Die Bäume warfen ihre Blätter ab, um über den Winter hinweg Energie zu sparen. Die Tage wurden immer kürzer und die Nächte so lang, dass sie sie nicht einmal hätte durchschlafen können, wenn sie gewollt hätte. Es war dunkel, wenn sie morgens aufstand, um zur Schule zu gehen und dunkel, wenn sie beim Abendessen saß. Das bisschen Tageslicht, das die Wolkendecke zuließ, verpasste sie wegen der Schule.
Gott, sie hasste die Schule. Sie mochte Mathe und Mr. Teakin ganz gerne, aber die Schule war furchtbar.
Vor einer Woche hatte Julia begonnen, das Haus zu dekorieren. Überall standen kleine Kürbisse und Kerzen herum und der Duft von Zimt hing permanent in der Luft, weil Julia Zimtschnecken und Zimtsterne backte.
Gestern war sie zusammen mit ihrer großen Schwester in dem kleinen Buchcafé gewesen, draußen hatte es wie aus Eimern gegossen und sie hatten eine heiße Schokolade nach der anderen genossen und in Büchern geschmökert, die sie sich ohnehin nicht hatten leisten können. Hannah hatte ab und zu ein Wort gesagt, aber sie hatte die Stille genossen, die Zweisamkeit und die Tatsache, dass ihre Schwester immer noch gerne Zeit mit ihr verbrachte, nach dem, was auf der Halloweenparty passiert war. Ab und zu hatte sie über den Rand ihres Buches einen Blick zu Hannah riskiert, aber sie hatte völlig entspannt gewirkt. Hannah hatte den Abend auch nicht mehr erwähnt, wofür sie ihr dankbar war, denn sie war sich selbst nicht sicher, was sie davon halten sollte.
Nach zwei oder drei Stunden hatten sie das Café verlassen, ohne ein Buch gekauft zu haben.
Hannah hätte sich vielleicht ein oder zwei Bücher leisten können mit dem Taschengeld, das ihre Mutter ihr zugesteckt hatte, als sie das letzte Mal heimlich in der Klinik gewesen war, aber das wäre zu auffällig gewesen. Hannah dachte immer, dass sie die heimlichen Besuche nicht mitbekam und sie gab sich auch nicht die Mühe, Hannah zu erklären, dass sie sehr wohl jedes Mal wusste, wohin sie wirklich ging, wenn sie behauptete, sich mit Mia zu treffen. Manchmal traf Hannah sich wirklich mit Mia. Aber wenn sie das tat, dann verkündete sie das nicht vorher, sie tat es einfach und erklärte erst bei ihrer Rückkehr, wo sie gewesen war und was sie gemacht hatte. Wenn Hannah von den Besuchen bei ihrer Mutter zurückkam, verzog sie sich immer stumm auf ihr Zimmer und kam erst zum Abendessen wieder raus.
Sie verstand das gut. Ihre Mutter konnte einem alle Energie aus dem Leib saugen. Nur in ihrer Nähe zu sein, konnte ermüdend und anstrengend sein, ihre Stimme zu hören war schwer zu ertragen und meist sagte sie etwas, das verletzend oder niederschmetternd oder unfreundlich war. Es war kräfteraubend, deshalb war sie auch noch kein einziges Mal in der psychiatrischen Anstalt gewesen.
Sie glaubte auch nicht, dass ihre Mutter sie sonderlich vermisste, oder sich wünschte, dass sie sie besuchen käme.
Hannah hatte ihr Taschengeld jedenfalls nicht für Bücher ausgegeben. Sie war sich ziemlich sicher, dass Hannah sich irgendetwas Neues zum Anziehen gekauft hatte, vermutlich, um demjenigen zu gefallen, den sie so verzweifelt vor aller Welt geheim zu halten versuchte. Und obwohl sie ihre große Schwester lesen konnte wie ein Tagesmagazin, war sie noch nicht dahinter gekommen, wer dieser mysteriöse Mensch war, für dessen Telefonate sie sich immer auf ihr Zimmer verzog und für dessen Nachrichten sie immer ihr Handy unter dem Esstisch bereithielt.
Sie glaubte nicht, dass Hannah sich sonderlich oft mit ihm traf, denn sie wusste, wie ihre Schwester aussah, wenn sie ein Date hatte. Und vor allem wusste sie, wie Hannahs Zimmer vor einem Date aussah. Überall lagen Kleidungsstücke herum, Make-up lag auf der Kommode verteilt und erst die Schuhe -Gott, so viele Schuhe! Es waren fast alles die Schuhe ihrer Mutter, denn Hannah und Mom waren genau gleich groß und als Onkel Rob sie rausgeschmissen hatte, hatte Hannah auch die Kleidung ihrer Mom mitgenommen.
Hannah zog oft die Sachen ihrer Mom an, und obwohl sie fand, dass die Kleidung an ihrer Mutter billig und nuttig und viel zu jugendhaft aussah, passte sie besser zu Hannah. Nicht, weil sie fand, dass ihre Schwester nuttig oder billig war (gut, manchmal dachte sie das), sondern weil ihre Schwester besser im Blick hatte, welche Farben zusammen passten, welche Rocklänge okay war und wie tief ihr Ausschnitt sein durfte, damit die Leute nicht permanent hineinstarrten.
„Du brauchst einen begehbaren Kleiderschrank", hatte sie einmal zu Hannah gesagt, als sie gesehen hatte, dass der Schrank aus allen Nähten platzte. Die Sockenschublade war fast übergequollen, die Kleiderhaken waren von Kleidern und Jacken verschluckt worden und die Hosen und Shirts hatten sich auf ihren Stapeln schon so weit nach vorne geneigt, dass sie eines Tages auf Hannahs Kopf landen würden, wenn sie die Schranktüre öffnete.
„Und du eine begehbare Bibliothek in deinem Zimmer", hatte Hannah entgegnet und vermutlich auf die Bücherstapel neben ihrem Bett und auf dem Tisch und in ihrem Kleiderschrank und auf der Fensterbank angespielt. Sie lieh sich oft Bücher aus der Schulbibliothek aus, also brauchte sie nicht wirklich ein Regal, denn eigene Schätze besaß sie höchstens fünfzehn. Aber der Gedanke an eine kleine, begehbare Bibliothek gefiel ihr trotzdem. Würde sie jemals in einer Wohnung mit mehr als drei Zimmern wohnen, würde eines davon mit Bücherregalen so hoch wie die Zimmerdecke gefüllt sein und einer bequemen Couch und einer Leselampe, am besten mit Ausblick aus dem Fenster.
Es war ein grauer Mittwochnachmittag, sie schwänzte die Schule, weil der Gedanke daran, heute auf Rebeca zu treffen und mit diesem verachtenden Blick von ihr angesehen zu werden, so unerträglich gewesen war, dass sie nach dem Frühstück panisch im Badezimmer zusammengebrochen war und den Wasserhahn aufgedreht hatte, um nicht hören zu müssen, wie sie geweint hatte.
An manchen Tagen fühlte sie sich innerlich so hohl, dass es ihr nichts ausmachte, in die Schule zu gehen, aber an Tagen wie diesen, fühlte sie dafür alles auf einmal. Angst, Scham, Wut, Hilflosigkeit, Hass.
Erst gestern hatte auf ihrem Schließfach das Wort Schlampe mit rotem Lippenstift gestanden. Sie hatte es erst in der großen Pause entdeckt und als sie bemerkt hatte, dass alle Schüler auf das Schließfach gedeutet und gemurmelt hatten, war sie umgekehrt und hatte sich auf der Mädchentoilette versteckt, bis es zur nächsten Stunde geklingelt und die Flure sich geleert hatten. Die meisten Schüler hatten schließlich nicht wissen können, dass es sich genau um ihren Spint gehandelt hatte, also hatte sie sich mit feuchten Papiertüchern bewaffnet wieder hinaus gewagt und den Lippenstift von der Schließfachtüre gewischt, während Tränen in ihren Augen gebrannt hatten.
Dass sie zu spät in den Unterricht gekommen war, war ihr egal gewesen.
Und vor einer Woche hatte auf der Tafel im Chemielabor wie auf der Schultoilette gestanden, dass sie mit Lehrern schlief, um ihre schlechten Noten auszubessern. Sie war froh gewesen, zur Abwechslung einmal die erste im Klassenraum gewesen zu sein, so hatte sie die Kreide schnell wegwischen können und war genau zu dem Zeitpunkt fertig geworden, zu dem Felix mit seinen zwei Freunden Noel und Joshua, die sie kurz beäugt, bevor sie sich auf ihre Plätze gesetzt und unbeirrt weitergeredet hatten.
Sie war sich nicht sicher, wie lange sie es noch an dieser Schule aushalten, bevor sie sich die Dächer hinunterstürzen würde. Heute war einer der Tage, an denen sie von ihren Gedanken und Gefühlen übermannt wurde und wenn das geschah und Justin nicht erreichbar war, dann sah sie nur eine Möglichkeit, um nicht völlig durchzudrehen. Sie rannte weg.
Eigentlich rannte sie nicht, sie ging sogar ganz gemütlich die breite, menschenleere Straße entlang -die keine Straße war, sondern nur plattgetretene Erde, weil sie zu einem Feldstück führte- ihren Rucksack umgeschnallt, eine Zigarette zwischen den Lippen und versuchte abermals, Justin zu erreichen.
Ohne ihn hätte sie ihren Plan mit dem Dach vielleicht längst in die Tat umgesetzt, aber die Tage, an denen er sie abholte, mit ihr durch die Gegend fuhr, mit ihr sprayte, lachte, tanzte, trank und einfach redete, schienen wie eine Belohnung dafür, dass sie durchhielt. Mit ihm war sie in einer anderen Welt, die Schule und Adam und Hannah und ihre Krankheit und die Schmerzen und ihre Mom rückten in den Hintergrund und sie konnte befreit atmen, zumindest für ein paar Stunden.
Sie brauchte Justin einfach zum Überleben. Auch, wenn ihre Schwester das nicht verstand.
Aber heute ging er nicht an sein Telefon, vielleicht hatte er gestern zu tief in die Flasche geschaut, das würde erklären, warum er ihr mitten in der Nacht geschrieben hatte, dass er sie liebte und wäre er ein König aus dem Mittelalter, würde er all seine Soldaten damit beauftragen, sie zu beschützen und glücklich zu machen.
Sie überlegte, ob sie Ethan anrufen sollte. Ein Teil von ihr wollte es. Sehr sogar, auch, wenn sie sich nicht ganz sicher war, wieso. Aber der andere Teil fand, dass er sie nicht weit genug von der Realität wegbringen konnte. Außerdem würde er sowieso kein Wort mehr mit ihr sprechen, nachdem sie ihn an Halloween so angeschrien hatte.
Als sie an ihrem Ziel angekommen war, teilte sie das kahle Gestrüpp, drückte die Zigarette an einem Stein aus, der ihr fast zur Hüfte reichte, und betrachtete die Bahngleise. Sie lagen mitten im Nirgendwo und sie hatte sie nur durch Zufall entdeckt, nachdem sie mit Justin einmal in der Nähe unter eine kleinen Brücke gesprayt hatte, unter der vor vielen Jahren vielleicht einmal so etwas wie ein Fluss geströmt hatte, heute war es eher ein mickriges Rinnsal. Umliegend standen keine Häuser und auch der nächste Bahnhof musste kilometerweit entfernt sein, denn die Gleise schienen am Horizont zu beiden Seiten zusammen zu laufen und sie ließ ihren Rucksack auf den Boden fallen.
Es sah wunderschön aus. Die Gleise führten durch eine pure weite gelbe Grasfläche, die sie gerne als Feld betitelt hätte, aber sie fand, dass Felder mit Getreide oder Gemüse bepflanzt wurden, also nannte sie es eine sehr weite, herbstliche Wiese. Sie atmete den herbstlichen Geruch ein und trat zwischen die Gleise. In der Stadt auf Bahnsteigen kamen ihr Bahngleise immer so winzig vor, aber in Wahrheit waren sie monströs und ließen auch auf ein monströses Ungetüm schließen, das an ihnen entlangrauschte.
Sie legte sich auf den Rücken zwischen die dicken, leicht rostigen Metallschienen. Sie waren hoch und alt, ein Zug müsste problemlos über sie hinwegfahren können.
Vielleicht.
Wenn sie Pech hatte, würde sie einen Arm verlieren oder ein Bein oder sie würde einfach von dem Zug mitgeschleift werden, bis sie tot war.
Aufregung und Adrenalin durchströmte ihren Körper.
Ihr Kopf lag unangenehm auf einer der harten Holzplatten und sie zog ihre Kapuze über den Kopf, damit sie zumindest ein bisschen weicher liegen konnte. Die Hände über dem Bauch verschränkt und den Blick zufrieden in den grauen Himmel gerichtet, wartete sie. Es hatte fast zwei Stunden gedauert, bis sie wieder hier her gefunden hatte und die Kälte der Gleise kroch durch ihre Jacke hindurch und stach sich in ihre Haut. Sie hatte keine Ahnung, ob und wann ein Zug hier durchfahren würde, aber sie wollte warten und es herausfinden.
Sie schloss die Augen. Sollte sie hier sterben, so war sie nicht sicher, ob sie das sonderlich stören würde. Es wäre nicht das gewesen, was sie sich unter ihrem Tod vorgestellt hatte, aber was im Leben lief schon nach Plan?
Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie zwischen den Gleisen lag und wartete und vielleicht war sie sogar kurz eingenickt, doch irgendwann konnte sie das Kreischen der Räder auf den Schienen wahrnehmen und die beängstigende Vibration unter sich. Sie legte die Hände auf die Schienen, und fühlte sich elektrisiert. Sie platzierte ihre Arme ausgestreckt und gerade neben sich und öffnete die Augen wieder. Sie wollte den Zug sehen, wollte sehen, wie etwas so Großes und Gewaltiges über ihr hinwegziehen würde.
Und dann passierte es. Ein kräftiger Luftsog, ein unglaublich Lautes Rattern und Quietschen und Rauschen und der rasende Zug aus Stahl und Rost.
Hätte sie geschrien, hätte das Monster diesen Laut mühelos verschluckt.
Ihr blieb die Luft im Rachen stecken. Nur Zentimeter von ihrer Nasenspitze entfernt rauschte das Ungetüm über ihr hinweg. Sie drückte sich gen Boden und konnte nicht atmen, während ihre Gedanken rasten. Was machte sie hier bloß? Es war unglaublich! Zum Glück war sie so wahnsinnig und durfte dieses Gefühl erleben! Aber warum kam es überhaupt soweit mit ihr? Hatte sie denn den Verstand verloren, sich unter einen Zug zu legen? Sie musste es zeichnen, musste es sprayen, musste dieses Gefühl festhalten und mit der ganzen Welt teilen.
Und dann plötzlich, als wäre nichts geschehen, erfassten ihre Augen nur noch den Himmel. Nur noch das helle grau. Der Zug war verschwunden, der Luftzug auch, das Geräusch war nur noch gedämpft wahrnehmbar und das Blut rauschte in ihren Ohren. Sie wartete, bis sie glaubte, das Vibrieren auf dem Metall nicht mehr spüren zu können.
Jetzt konnte sie auch wieder atmen und der erste Atemzug fühlte sie so fantastisch an, als wäre sie wie neugeboren.
Sie musste laut lachen. Schlug sich die Hände vors Gesicht, lachte, setzte sich auf und drehte sich um, doch der Zug war verschwunden. Hatte sie ihn sich nur eingebildet? War da wirklich ein Zug gewesen?
Und dann begann sie zu weinen, als sie sich aufrappelte, ihre kalten Glieder schüttelte und nach ihrem Rucksack griff, um sich wieder auf den Heimweg zu machen. Sie hatte das Gefühl, alle Emotionen dieser Welt gleichzeitig zu verspüren. Es war elektrisierend und grausam zugleich.
Sich unter einen Zug zu legen war nicht das Verrückteste, das sie je getan hatte, aber dass sie noch lebte fühlte sich gleichermaßen erleichternd und enttäuschend an.
*
Als sie wieder auf dem Weg nach Hause war und eine Zigarette rauchte, musste sie urplötzlich wieder an Danny denken. Ihre Mutter hatte ihn immer Dr. Cothran genannt, aber für sie würde er immer Danny bleiben.
Obwohl sie nur wenige Sekunden an ihn dachte, übermannte sie sofort die Übelkeit und sie musste sich an den Rand der Straße setzen, weil ihr nicht gefiel, wie schwindelig und wackelig sie plötzlich auf den Beinen war. Sie hasste es, dass die bloße Erinnerung an diesen Mann so furchtbare Reaktionen aus ihr herausholen konnte. Es war, als wolle ihr Körper vor etwas flüchten, das gar nicht da war. Das Adrenalin schoss ihr in die Glieder und bereitete sie darauf vor zu rennen.
Wenn sie doch nur vor der Vergangenheit hätte weglaufen können.
Ihre Arme und Beine begannen zu kribbeln und sie wusste, dass sie viel zu schnell atmete. Sie versuchte ruhig einzuatmen, die Luft für drei Sekunden anzuhalten und langsam wieder auszuatmen.
Ironischerweise hatte ihr diese Technik Danny beigebracht.
Sie wünschte, Justin wäre jetzt hier gewesen oder eine Flasche Wodka oder Tequila oder Jim Beam, ganz egal. Hauptsache etwas, das so schnell wirkte, dass sie nicht mehr an Danny denken musste.
Heute war einer der Tage an denen sie zu viel fühlte und zu viel dachte und wieder einmal einfach nur zu viel war, und ihr Gehirn schickte sie zurück durch jede einzelne Erinnerung, die sie an Danny hatte, bis sie sich schluchzend auf den Straßenrand zusammengekauert hatte und betete, dass genau jetzt eine Atombombe hochging, um ihr Leiden zu beenden.
*
Als sie am Abend wieder bei Adam ankam, spürte sie die geladene Atmosphäre schon, als sie sich die Jacke auszog. Sie wusste nicht, warum es so war, aber es war ihr immer schon unheimlich leicht gefallen, die kleinsten Stimmungsänderungen in einem Menschen wahrzunehmen. Dadurch hätte sie bestimmt einen interessanten Charakterzug entwickeln können und vielleicht hätte es ihr diese Eigenschaft leicht gemacht, Freunde zu finden, aber irgendwie hatte sich diese Gabe immer konsequent gegen sie gerichtet.
Als sie ins Wohnzimmer kam, saßen Julia und Adam am Küchentisch, sie hatte eine Tasse Tee vor sich stehen (Julia mochte nämlich keinen Kaffee) und Adam eine Tasse Kaffee (er mochte nämlich keinen Tee) und beide starrten sie an, als sie das Zimmer betrat. Nervös suchte ihr Blick nach Hannah, aber ihre Schwester schien nicht da zu sein. Unwillkürlicher versteiften sich ihre Finger um den Riemen ihres Rucksacks, als sie Adams ernsten Blick auffing. Es war offensichtlich, dass die beiden auf sie gewartet hatten.
Sie war erschöpft. Sie war müde. Die Erinnerungen an Danny hatten sie ausgelaugt und sie glaubte nicht, dass sie die Kraft für das hatte, was auch immer Adam und Julia ihr sagen wollten.
„Setz dich", sagte Adam relativ neutral. Sie konnte weder aus seiner Stimme, noch aus seinem Gesicht herauslesen, ob er wütend war oder nicht, aber sie blieb wo sie war. Niemals würde sie sich an den Tisch setzen, da, wo er sie einfach am Handgelenk hätte packen und ins Gesicht schlagen können, so wie ihre Mutter es getan hatte, wenn sie wütend gewesen war.
Wo war Hannah? War sie auf ihrem Zimmer? War sie bei Mia?
Sobald Adam begriff, dass sie sich nicht setzen würde, stand er von seinem Stuhl auf (vermutlich, um mit ihr in etwa auf selber Augenhöhe zu sein) und sie wich instinktiv ihm gegenüber hinter den Tisch, der Punkt im Raum, der es ihm am schwersten gemacht hätte, sie zu erreichen.
Er sah sie lange an und mit pochendem Herzen wartete sie darauf, dass er etwas sagte.
„Wo warst du?", fragte er schließlich und sie war sich unsicher, was sie antworten sollte. Ob sie überhaupt antworten sollte. Ob ihr eine Antwort nicht mehr Ärger einhandeln würde als ihr Schweigen. „Mich hat der Schuldirektor heute angerufen und mir gesagt, dass du schon zehn unentschuldigte Fehltage hast." Adam war wütend. Er war definitiv wütend, aber es lag noch etwas anderes in seiner Stimme. Vielleicht war es Enttäuschung.
Ihre Mutter hatte oft nichts dazu gesagt, wenn sie nicht im Unterricht erschienen war. Es war ihr im Großen und Ganzen egal gewesen und wenn sie einen guten Tag gehabt hatte, hatte sie ihr eine Entschuldigung geschrieben oder in der Schule angerufen und bestätigt, dass ihre Tochter krank war. Ihrer Mutter war immer nur wichtig gewesen, dass Hannah zur Schule ging.
„Kannst du mir das erklären?", fragte Adam. Sie hätte es durchaus erklären können, aber vermutlich hätte er es nicht verstanden. Sie wusste, dass sie sich mächtigen Ärger eingebrockt hatte, aber wie konnten Adam und Julia und das ganze beschissene Schulsystem es wagen, sie an einen Ort zu schicken, an dem sie an zu vielen Tagen einfach nicht sein konnte?
Ob es ihn gestört hätte, wenn er wüsste, wo sie gewesen war? Dass sie sich auf die Gleise eines mächtigen Zuges gelegt und überlebt hatte? Was, wenn sie nicht überlebt hätte? Hätten sie ihre Leiche jemals gefunden?
Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte es nicht erklären. Ihr Blick glitt kurz zu Julia, die sie nicht wütend, sondern eher traurig, besorgt und nachdenklich musterte.
„Das hört sofort auf", sagte Adam nachdrücklich und sie traute sich kaum, ihn anzusehen. „Wenn ich noch einen Anruf kriege, dass du in der Schule gefehlt hast und ich nichts davon weiß, dann hast du ein ernstes Problem mit mir, hast du das verstanden?"
Sie wusste, dass sie sein Haus brauchte. Und sein Essen. Sein beschissenes Geld. Dass sie nur hier wohnen durfte, weil er es vorgeschlagen hatte. Weil das Gericht den Fall schnell hatte erledigen und keiner die Schwestern hatte trennen wollen.
Aber jeden Tag in diese Höllenschule zu gehen, nur um hier wohnen zu blieben? Nein, sie würde notfalls einfach bei Justin unterkommen, wie er es vorgeschlagen hatte.
Sie gab keine Reaktion von sich und hoffte, dass Adam sie einfach schnell auf ihr Zimmer gehen ließ, wo sie sich auf der Klappcouch, die angenehmer war, als ihr Bett zu Hause, unter der Decke vor den Monstern in ihrem Kopf verstecken konnte.
„Geh auf dein Zimmer, wir reden später weiter", sagte Julia sanft und sie war dankbar, für diese Erlösung. „Abendessen gibt es in einer Stunde."
Sie hatte keinen Hunger. Sie hatte zwar heute noch nichts gegessen, aber erst hatte ihr das Adrenalin den Appetit verdorben, dann die Gedanken an Danny und jetzt Adam.
Sie huschte an ihm vorbei die Treppen nach oben.
„Sie war mal ein süßes Baby", hörte sie Adam noch an Julia gewandt brummen. „Aber langsam glaube ich, dass sie wirklich nach ihrer Mutter kommt."
Sie schloss die Türe hinter sich und atmete aus. Seine Worte ärgerten sie mehr, als sie es sollten.
Sie kam nicht nach ihrer Mutter. Ihre Mutter war ein Monster.
Dachte Adam, dass sie ein Monster war? Hielt er so wenig von ihr?
Sie streifte sich die Schuhe ab, pfefferte den Rucksack in eine Ecke und kuschelte sich unter die Decke.
Schlaf war die angenehmste Möglichkeit, ihren Gefühlen und der Welt zu entkommen.
*
Sie hatte Babys noch nie süß gefunden. Sie fand, dass Babys sogar ziemlich hässlich waren. So schrumpelig und klein und nervig, besonders wenn sie im Supermarkt zu brüllen begannen.
Sie fand auch April nicht sonderlich süß. Hannah war von ihrer kleinen Halbschwester hin und weggerissen, aber sie fand nun einmal nichts an Babys. Deshalb war es ein absolutes Horrorszenario gewesen, als sie vor ein paar Tagen ganz alleine mit April zu Hause gewesen war. April war zwar kein Baby mehr, aber sie war klein genug, um als eines durchzugehen, fand sie. Die meiste Zeit wurde sie noch in der Gegend herumgetragen, sie konnte stehen, fiel aber beim Laufen immer wieder auf den Hintern und konnte mitten in der Nacht das ganze Haus zusammenbrüllen, wenn ihr etwas nicht passte.
Als April an besagtem Tag also zu schreien begonnen hatte, war sie ziemlich verloren und genervt gewesen. Julia war beim Arzt gewesen, Andrew bei Freunden, Adam noch auf der Arbeit und Hannah bei Mia.
April hatte gebrüllt und gebrüllt und gebrüllt, bis sie in Adams und Julias Zimmer gegangen und sie aus ihrem Gitterbett gehoben hatte. Der Geruch hatte verraten, warum die Kleine so gebrüllt hatte.
Sie hatte kurz überlegt, ob sie sich die Kopfhörer aufsetzen und das Geschrei einfach ignorieren sollte, weil sie über ein paar Matheaufgaben gesessen, als das Geschrei begonnen hatte.
Aber dann hatte sie gedacht, dass es genau das gewesen wäre, was ihre Mutter getan hätte. Wer weiß, vielleicht hatte ihre Mutter es sogar getan. Ihre Kinder in den eigenen Fäkalien sitzen und schreien zu lassen, klang zumindest nach etwas, das sie Gill zutrauen würde.
Sie hatte noch nie ein Baby gewickelt, auch nicht dabei zugesehen, aber so schwer konnte es nicht sein, oder? Schließlich war alles auf dem Wickeltisch bereitgestellt und das Prinzip sollte jedem Menschen klar sein.
Windel ausziehen, Baby sauber machen, frische Windel anziehen.
Es hatte in der Theorie nur einfacher geklungen, als es sich in der Praxis herausgestellt hatte. April hatte wie verrückt gestrampelt und es ihr alles andere als einfach gemacht, sie sauber zu machen. Sie hatte auch keine Ahnung gehabt, was zum Geier es mit dem Babypuder auf sich hatte und hatte ihr einfach eine frische Windel angezogen.
Als ihr aufgefallen war, dass sie April die Windel falsch herum angelegt hatte, hatte sie es noch einmal gemacht. Wenn sie denn schon ein Baby wickelte, dann auch halbwegs richtig.
Eigentlich hatte sie April gleich wieder in ihr Gitterbett legen wollen, aber das Baby hatte viel zu aufgeweckt und glücklich über die trockene Windel gewirkt, sodass sie April mit nach unten ins Wohnzimmer genommen und sie vor ihre Spielsachen gesetzt hatte. Sie hatte ihre Matheunterlagen mitgenommen, sich auf die Couch gesetzt und interessierte, bescheuerte Wow's und Oh's und Ah's von sich gegeben, während April ihr ganzes Arsenal an Spielsachen zur Schau gestellt hatte.
Irgendwann hatte sie April wieder auf dem Schoß sitzen gehabt. Sie hatte immer noch nicht gefunden, dass April ein hübsches Baby war, aber sie hatte plötzlich verstanden, dass Kinder nicht wählerisch waren. Dass sie ihre Liebe jedem gaben, der ihnen sympathisch war. Und es hatte sich gut angefühlt, von einem so reinen Wesen akzeptiert zu werden.
Vielleicht würde sie sich irgendwann einen Hund zulegen.
Sie war ziemlich erschrocken, als sie bemerkt hatte, dass Julia in der Küche gestanden hatte. Noch in Mantel und Tasche und Schuhen. Julia hatte sie und April beobachtet.
Eigentlich hatte sie damit gerechnet, dass Julia ihr April sofort abnehmen und ihr sagen würde, dass sie ihre Tochter nicht anfassen und schon gar nicht wickeln sollte und dass sie alles falsch gemacht hatte, aber Julia hatte sie nur angelächelt und April hatte ihre Arme nach ihrer Mama ausgestreckt.
Ob sie als Baby ihre Arme auch so naiv nach ihrer Mutter ausgestreckt hatte? Hatte sie ihre Arme nach Adam ausgestreckt?
Julia hatte April nur einen Kuss auf den Kopf gedrückt und sie begrüßt, aber nicht von ihrem Schoß genommen.
Julia war ihr noch nie so nahe gewesen. Sie hatte es nicht zugelassen. Körperkontakt zu Fremden fiel ihr manchmal schwer, aber sie hatte ihr schlecht verbieten können, ihre Tochter nicht zu begrüßen, also hatte sie nichts gesagt, als Julia ihr so nahe war, dass sie ihr Parfüm hatte riechen können.
„Hast du schon Hunger?", hatte Julia sie gefragt und sich den Mantel ausgezogen.
Julia hatte ihr April nicht weggenommen. Sie hatte ihr sogar eine Schüssel mit Babybrei gegeben und April hatte mit Begeisterung gegessen und gekleckert und als ihr Essen fertig gewesen war, hatte Julia ihr April abgenommen und sie zu Ende gefüttert und danach gebadet.
Sie mochte Babys noch immer nicht, aber vielleicht fing sie an, April zu mögen.
*
Als sie zehn gewesen war, hatte ihre Mutter sie zu einem Psychiater geschickt, auf Empfehlung ihrer Klassenlehrerin hin, weil sie ein paar unheimliche Bilder gemalt und keine Lust gehabt hatte, sich mit den anderen kreischenden Mädchen oder den grölenden Jungen zu unterhalten. Sie war lieber für sich geblieben, das war schon immer so gewesen.
Sie hatte jede einzelne Sitzung gehasst. Die Couch war weich gewesen und es hatte angenehm nach Zitrone gerochen, aber sie hatte Danny nicht unbedingt gemocht. Er hatte einen Vollbart gehabt, seine Hemden hatten immer über den runden Bauch gespannt, sodass Löcher zwischen den Knöpfen entstanden waren und die dicken Gläser an seiner Brille hatten seine Augen lächerlich klein wirken lassen.
Und jedes Mal hatte sie reden müssen.
Es war egal gewesen, was sie ihm erzählt hatte, aber sie hatte etwas erzählen müssen, denn sonst hatte er ihrer Mutter gesagt, dass sie nicht redete und dann hatte ihre Mutter sie zu Hause angeschrien und an den Haaren gezogen und geschlagen, wenn sie einen schlechten Tag gehabt hatte.
Sie hatte reden schon damals nicht gemocht.
„Wenn du da nicht mehr hinwillst, musst du dafür sorgen, dass du Hausverbot bekommst", hatte Justin einmal gesagt, nachdem sie miteinander geschlafen hatten und er einen Arm um ihren nackten Oberkörper gelegt und einen Joint geraucht hatte. Es war nicht ihr erstes Mal mit Justin gewesen, aber eines der ersten Male.
„Wie bekommt man denn bitteschön Hausverbot bei einem Psychiater? Einem Kerl, der mit verrückten Menschen arbeitet."
Justin hatte mit den Schultern gezuckt, ihr den Rauch entgegengeblasen und ihr dann den Joint gereicht. „Dir wird schon was einfallen. Du bist doch nicht auf den Kopf gefallen."
Und dann war ihr eines Tages die erleuchtende Idee gekommen, als sie auf dem Tisch auf dem bunten Stuhl gesessen und für Danny ein Bild hatte zeichnen sollen, das ihre Situation zu Hause beschrieb. Während sie das ganze Blatt schwarz angemalt hatte, hatte sie seine Hand an ihrem Rücken gespürt und wie er sich, scheinbar nebenbei und ohne Hintergedanken an sie gedrückt hatte, um das Bild besser betrachten zu können. Erst da war ihr aufgefallen, dass er ihr gerne über ihre Locken strich, oder sich dicht neben sie setzte, einmal hatte er sogar gefragt, ob sie auf seinem Schoß sitzen wollte. Ob sie sich dabei wohler fühlen würde, als ganz alleine auf der großen Couch.
„Das ist doch verrückt", hatte Justin gemeint, als sie ihm davon erzählt hatte. Er hatte wütend aufgelacht. „So ein Perversling. Ist denn niemand, der mit Kindern arbeitet, normal drauf? Sind das alles Pädophile? So ein elender Wichser!"
Sie hatte gefragt, was ein Pädophiler war und er hatte es ihr erklärt.
„Und kennst du Pädophile?", hatte sie nachgehakt und er hatte den Kopf geschüttelt. Erst ein paar Jahre später hatte er ihr in betrunkenem Zustand von dem einen Kindergartenbetreuer erzählt, der in seiner Gruppe gewesen war.
Aber an diesem Tag hatte Justin ihr gesagt, wie lange man dafür im Knast sitzen konnte, wenn man verurteilt wurde und da hatte sich ein Plan in ihrem Kopf geformt. Ein Plan, den sie als so schlau empfunden hatte, dass sie stolz darauf gewesen war und dem Ereignis entgegengefiebert hatte.
Die nächsten Sitzungen hatte sie Danny immer zur Begrüßung umarmt, hatte gefragt, ob sie auf seinem Schoß sitzen konnte und hatte ihn angelächelt und gemeint, dass es ihr immer besser ging, nachdem sie bei ihm gewesen war. Nach jeder Sitzung hatte sie sich energiegeladen und gut gefühlt und Justin aufgeregt davon erzählt, wie Danny auf ihr Spiel eingestiegen war. Als sie schließlich genug davon hatte, einmal wöchentlich in die Praxis gebracht zu werden, hatte sie Justin gefragt, ob er ihr beibringen konnte, wie man bläst, denn sie hatte es noch nie getan. Er hatte es ihr erklärt und sie hatte es drei Mal ausprobiert, bis sie sich sicher war, dass er auch bei Danny klappen würde.
Sie war nervös gewesen, als sie an diesem Tag in seine Praxis gekommen war und hatte ihn auch nicht zur Begrüßung umarmt, was Danny wegen ihres vorhergehenden doch innigen Körperkontaktes wohl verwundert, vielleicht sogar gestört hatte. Während der Sitzung hatte sie ihren dicken Pullover ausgezogen, weil ihr vor Aufregung ganz warm geworden war.
Bei der Hälfte der Zeit, hatte sie wieder gefragt, ob sie sich auf seinen Schoß setzen durfte und als sie sich auf seinen Beinen niedergelassen und ihre Hand auf seinen Schritt gelegt hatte, hatte sie das erregte Pulsieren deutlich spüren können.
„Was machst du da?", hatte Danny gefragt, aber es hatte nicht entsetzt geklungen. Nicht erschüttert oder angewidert. Eher neckisch. Neugierig.
„Willst du es nicht?", hatte sie unschuldig gefragt und er hatte nicht geantwortet. Sie war von seinem Schoß auf den Boden gerutscht, hatte sich hingekniet und ihn angesehen. Er hatte sich nicht bewegt, vielleicht aus Angst, etwas falsch zu interpretieren, bis sie ihren Mund weit geöffnet hatte. Da hatte Danny verstanden, sich zur Türe umgedreht, dann wieder zu ihr, dann war er aufgestanden und hatte so leise und vorsichtig wie möglich die Türe abgesperrt, damit die Sprechstundenhilfe nichts mitbekam, war zurück zu ihr gekommen und hatte seinen Gürtel geöffnet.
Er war größer gewesen als Justin, damit hatte sie nicht gerechnet und ein paar Mal hatte sie würgen müssen, sodass ihr die Tränen gekommen waren, aber sie war so aufgeregt gewesen, dass sie es tatsächlich durchgezogen, dass sie nicht aufgehört hatte. Er hatte in ihre Haare gegriffen, sie von oben herab angesehen und ziemlich bald sein Gesicht verzogen, als ob er plötzlich starke Schmerzen gehabt hätte und sie konnte den salzigen Geschmack sogar heute noch auf ihrer Zunge wahrnehmen, wenn dieser Erinnerung sie heimsuchten.
Die Sitzung war beendet gewesen, ihre Mutter hatte sie abgeholt und als sie das nächste Mal in die Praxis gekommen war, war Danny seltsam verhalten und unruhig gewesen, was ihr ein Gefühl der Genugtuung verschaffen hatte.
Irgendwann hatte er es nicht mehr ausgehalten und gefragt, ob sie jemandem davon erzählt hatte.
„Nein", hatte sie unschuldig erwidert und die Arme vor der Brust verschränkt. „Aber das könnte ich. Du weißt sicher, wie viele Schwierigkeiten du dafür bekommen könntest."
Er hatte sie mit einem seltsamen Blick angesehen. Vielleicht war es Beunruhigung gewesen. „Wieso hast du das getan?" Plötzlich hatte sie nicht mehr das Gefühl gehabt, dass er ein kleines Mädchen vor sich sah, sondern vielleicht sogar eine Gleichaltrige. Wieder hatte sie den Triumph in ihren Adern gespürt.
Heute wusste sie, dass er keine Gleichaltrige gesehen hatte. Er hatte etwas anderes gesehen. Etwas viel Schlimmeres.
„Du... Du hast mich dazu gebracht", hatte er ungläubig gestammelt.
„Das macht keinen Unterschied", hatte sie unbeeindruckt erwidert.
Er hatte fassungslos den Kopf geschüttelt. „Du hast ein ernsthaftes Problem."
„Du auch", hatte sie amüsiert gegrinst und die Worte einige Sekunden auf den panischen Danny wirken lassen. Dann hatte sie ihren Blick beiläufig durch den Raum schweifen lassen. „Zumindest, wenn du meiner Mutter nicht sagst, dass ich nicht mehr hier herkommen muss. Dass ich Hausverbot hier habe und gar nicht mehr herkommen darf."
Genau das hatte er ihrer Mutter gesagt, aber dafür hatte er sie an einen Spezialisten überwiesen. Sie hatte keine Ahnung gehabt, wie er darauf gekommen war, dass sie einen Spezialisten brauchte, oder was einen Spezialisten von ihm unterschied, oder was dieser Spezialist mit ihr angefangen hätte. Sie hatte es auch nie herausgefunden, denn ihre Mutter hatte sie nie hingebracht.
Stolz hatte sie Justin davon erzählt.
Der Ekel davor war erst ein paar Jahre später gekommen und wenn sie heute daran dachte, wollte sie nichts mehr, als so viel und so schnell zu trinken, bis sie gar nicht mehr daran dachte oder es ihr zumindest nichts mehr ausmachte. Und wenn Alkohol in der Nähe war, tat sie für gewöhnlich genau das. Vielleicht war das der Grund, warum sie es nicht mehr tat. Nicht bei Justin und auch bei sonst niemandem. Sie hatte es direkt danach noch ein paar Mal getan, da hatte es sie noch nicht gestört, sie war stolz darauf gewesen, wie gut sie es gekonnt hatte, aber irgendwann war ihr schlecht geworden, wenn sie nur daran gedacht hatte, einen Schwanz in den Mund zu nehmen und manchmal fragte sie sich, was zur Hölle sie sich als Kind dabei gedacht hatte. Sie hatte die Konsequenzen nicht abschätzen können, hatte nicht ganz verstanden, was es zu bedeuten gehabt hatte, aber nun, da sie es wusste, da sie sich dem bewusst war, dass sie einem über fünfzigjährigen Pädophilen freiwillig einen geblasen hatte, verabscheute sie sich umso mehr.
Wie sich herausstellte, hatte Danny also doch recht gehabt: Sie hatte ein ernsthaftes Problem gehabt. Ein gewaltiges, riesengroßes, das keiner erkannt, für das sich niemand genug interessiert hatte. Nicht einmal sie selbst.
Und an manchen Tagen glaubte sie, dass es bereits zu spät war, dieses Problem -was auch immer es sein mochte- zu lösen.
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