23
Als sie Clayton kennengelernt hatte, war sie erst vierzehn gewesen.
Sie hatte sich so leer gefühlt, als würde sie jemanden vermissen, ohne zu wissen, wen. Sie war an einem Punkt angelangt, an dem sie nicht mehr gewusst hatte, was sie mit sich anfangen sollte. Mit sich und ihrer Schwester und besonders mit Mom. Izzy, die schon mit elf Jahren jeden Abend das Haus verlassen hatte und mit verrauchten Klamotten und oft auch Alkoholfahne zurückgekommen war.
Und Mom. Mom, die zu der Zeit ihren Job als Tellerwäscherin in einem Restaurant verloren hatte, weil sie es in ihrer Manie lustig gefunden hatte, alle Teller und Gläser in der Küche auf den Boden zu werfen und dann auf den Tischen der Gäste zu tanzen und These Boots Are Made for Walking gebrüllt hatte, nachdem einer ihrer losen Beziehungen wieder in die Brüche gegangen war und sie ihre Medikamente verweigert hatte. Sie war nach Hause gekommen und hatte die Mädchen geschnappt, war mit ihnen ins Auto gestiegen und an den See gefahren.
Sie war bereits alt genug gewesen, um zu wissen, dass das Verhalten ihrer Mom einer unberechenbaren Krankheit zuzuschreiben gewesen war. Also hatte es ihr Angst gemacht, als ihre Mom im seichten Wasser getanzt und geschrien und gelacht hatte. Sie und Izzy hatten auf einer Decke gesessen mit ihren Mützen und ihren Schals und ihren dicken Winterjacken. Es war Anfang Februar gewesen.
Irgendwann war ihre Mom wieder gekommen, hatte sich völlig durchnässt und blass und mit blauen Lippen zu den Mädchen gebeugt und Izzy hatte sich näher an ihre große Schwester gedrückt, aber Mom hatte sie gepackt und gelacht und ihr gesagt, dass es wunderbar war, etwas Verrücktes zu tun, und dass sie ins Wasser kommen sollte, weil die Kälte sie lebendiger machte.
Es war zwar nur Wasser gewesen, aber Izzy hatte so sehr geschrien, dass sie sich noch genau an den Klang erinnern konnte, an die Tränen, an die Angst in den Augen ihrer Schwester, an ihre eigene Angst, weil ein Teil von ihr geglaubt hatte, dass Mom Izzy gleich ertränken würde.
Das hatte Mom nicht getan, sie hatte Izzy lediglich samt ihrer Kleidung ins eiskalte Wasser geworfen und war dann noch eine Stunde mit den beiden am See geblieben. Es hatte zu schneien begonnen und Izzy hatte Rotz und Wasser geheult, obwohl sie ihrer kleinen Schwester schon die triefende Jacke und den Pullover ausgezogen und ihr ihre Jacke gegeben hatte. Sie hatte selbst gefroren, aber sie hatte solche Angst gehabt, dass ihre Schwester krank werden würde, dass sie kaum gemerkt hatte, wie kalt ihr selbst gewesen war. Sie hatte Izzy auch ihren Schal und ihre Mütze übergestreift, ihr angeordnet, dass sie ins Auto auf die Rückbank steigen und sich Schuhe und Hose ausziehen und sich in die Decke, die im Kofferraum gelegen hatte, einwickeln sollte.
Izzy war trotz ihrer Bemühungen krank geworden und nach diesem Ausbruch von Euphorie ihrer Mom, hatte sie gewusst, was als nächstes passieren würde. Auf jedes Hoch folgte ein Tief. Es war unausweichlich.
Und sie hatte Recht behalten.
Zwei Wochen lang hatte ihre Mom sich nicht mehr blicken lassen. Mom war erst nur in ihrem Zimmer gewesen, ohne sich zu bewegen und hatte eine Weinflasche nach der anderen geleert.
Sie hatte sich angewöhnt, von übrigem Geld Bettunterlagen zu kaufen, denn es passierte oft, dass ihre Mutter in den depressiven, betrunkenen Phasen ins Bett machte, ohne es zu bemerken und sich einen Dreck darum scherte; nicht einmal duschen ging oder die Laken wechselte. Darum hatte sie sich kümmern müssen.
Sie hatte den scharfen, beißenden Geruch noch immer in der Nase, wenn sie an diese Zeit zurückdachte.
Und dann war ihre Mom plötzlich verschwunden. Sie hatte schon geglaubt, sie hätte sich irgendwo von den Dächern gestürzt oder wäre so tief in den See gewatet, dass sie ertrunken war. Das Geld war ihr ausgegangen und sie hatte jeden Cent zusammengekratzt, um für sich und Izzy etwas zu Essen zu kaufen. Sie hatte ihre kleine Schwester weiterhin in die Schule gebracht und dafür gesorgt, dass sie ihre Hausaufgaben erledigte.
In der Schule hatten die beiden manchmal zu klauen begonnen. Das Taschengeld ihrer Freunde aus Jackentaschen, Rucksäcken und Federmäppchen entwendet. Es war nie viel gewesen, aber genug, um nicht zu verhungern und genug, um ihren Freunden kaum noch in die Augen schauen zu können.
Eines Tages war sie so verzweifelt gewesen, dass sie ihre Freundin, Maisie, gefragt hatte, ob sie und Izzy zum Abendessen bei ihrer Familie bleiben könnten. Sie hatte behauptet, dass ihre Mom bis spät in die Nacht arbeiten musste, aber die Wahrheit war, dass sie längst davon ausgegangen war, dass ihre Mom tot war. Jede Nacht hatte sie sich mit ihrer Schwester eng umschlungen voller Angst und ohne Perspektiven in den Schlaf geweint.
Maisie hatte ihre Mutter gefragt und es war kein Problem gewesen.
So hatte sie Clayton kennengelernt. Er war Maisies Cousin und in dieser Woche auf Besuch bei seiner Tante -Maisies Mutter.
Er war schon sechzehn gewesen und hatte sie sofort ins Auge gefasst. Obwohl sie ziemlich dünn gewesen war und man ihr die Sorgen angesehen haben musste, hatte er sich den ganzen Abend lang mit ihr unterhalten. Er war unheimlich nett zu ihr gewesen, hatte ihr immer zu trinken nachgeschenkt und sich mit ihr über ihren Lieblingsfilm und Eiskunstlauf unterhalten. Dass sie sportlich war, schien ihm gefallen zu haben.
Es hatte ihr gefallen, jemandem so sehr zu gefallen.
Wenn sie jetzt an ihn zurück dachte, wusste sie nicht, was sie an ihm gefunden hatte. Es musste seine aufmerksame Persönlichkeit gewesen sein, denn äußerlich war er nicht ihr Typ gewesen. Zumindest wäre er es heute nicht mehr, vielleicht war er es damals. Er war ziemlich groß und dünn gewesen, hatte auf den Unteramen viele Tattoos gehabt, dunkle Ringe unter den Augen, Pickel am Kinn, eine kantige Nase und fast schwarze, gekringelte Locken, die ihm in die Stirn gefallen waren.
Sie hatte schlicht die Aufmerksamkeit genossen. Die Aufmerksamkeit, die ihr von ihrer Mom gefehlt hatte, auch, wenn die Aufmerksamkeit, die er ihr geschenkt hatte, nicht immer gut gewesen war. Aber das musste es gewesen sein. Sie hatte einen Rettungsanker in ihm gesehen, denn er hatte sich offensichtlich für sie interessiert. Endlich hatte sich jemand für sie interessiert.
Er hatte eine knappe Stunde von Maisie entfernt gewohnt und hatte sie gefragt, ob sie etwas mit ihm unternehmen wollte, solange er bei seiner Cousine zu Besuch war.
Sie hatte zugesagt und am nächsten Tag waren die beiden ins Kino gegangen. Sie hatte sich von ihm nach Hause bringen lassen. Zumindest bis vor die Türe, er hatte nicht herein gedurft. Für die Wohnung hatte sie sich zu sehr geschämt.
Damals hatte sie noch kein Handy gehabt, das hätte sich ihre Mom nicht leisten können, deshalb hatte sie ihn besuchen müssen, wenn sie ihn vermisst hatte. Mit dem Bus hatte sie leicht zu ihm fahren können und sie hatten einander oft gesehen. So oft, dass es auch ihrer Freundin aufgefallen war. Maisie hatte einmal gesagt, dass sie sich vor ihm in Acht nehmen sollte, weil ihre Mom gesagt hatte, dass seine Mom gesagt hatte, dass ein Mädchen, mit dem er ausgegangen war, gesagt hatte, dass er sie nicht gut behandelt hatte.
Sie hatte diese Sorgen abgetan, sie war kein Baby mehr gewesen und Clayton hatte sie auf Händen getragen. Ex-Freundinnen redeten schließlich immer nur Blödsinn. Sie hatte es genossen, jemanden an ihrer Seite zu haben, der sie so sehr liebte und unterstützte und immer mit einem Lächeln in der Stimme sprach. Dieses süße, verschmitzte Schmunzeln, das ihm Grübchen in sein blasses Gesicht gezaubert und ihr Herz so mit Liebe erfüllt hatte, dass sie an manchen Tagen gefürchtet hatte, dass es zerbersten könnte.
Außerdem war es eine nette Abwechslung gewesen, sich von jemandem verwöhnen zu lassen, anstatt sich immer selbst um alles kümmern zu müssen. Das Apartment, Izzy, ihre Mom, die inzwischen wieder nach Hause gekommen war und einen Stapel Geldscheine auf den Küchentisch gepfeffert hatte.
Woher ihre Mom das Geld hatte, hatte sie nicht hinterfragt. Offenbar hatte ihre Mom auf ihrer kleinen Streunertour eine manische Episode ereilt und ihr weisgemacht, dass es eine fantastische Idee wäre, mit fremden Männern für Geld zu schlafen, oder für sie zu tanzen, oder ihr Auto zu waschen oder sonst etwas.
Ihre Mom hatte ein langes Gespräch mit ihren Töchtern geführt, und versprochen, ihre Medikamente ab jetzt wieder regelmäßig zu nehmen. Sie hatte dabei sogar mit ihnen auf der Couch gesessen und ihre Hände gehalten. Sie hatte sich einen Job suchen wollen, um ihren Töchtern die bestmögliche Zukunft sichern zu können.
Sie hatte ihr geglaubt.
Sie hatte ihr jedes Mal geglaubt.
Sie hatte ihrer Mom einfach glauben müssen.
Clayton und sie hatten bald so etwas wie eine ernsthafte Beziehung geführt. Das hieß, dass er von ihr gewollt hatte, dass sie nicht mit anderen Jungs schlief, obwohl sie noch Jungfrau gewesen war und ihn ohnehin nie betrogen hätte. Niemals wäre sie ihm in den Rücken gefallen. Sie hatte es genossen, dass er sie „Prinzessin" genannt hatte und „Sein ein und alles" und „Das schönste Mädchen auf der Welt".
Damals hatte ihre Narbe sie ja auch noch nicht gekennzeichnet.
Weder Mom noch Izzy hatten von ihm gewusst. Er war ihr kleines Geheimnis gewesen und das hatte sie geliebt. Sie hatten lange Spaziergänge im Wald unternommen, er hatte sie von ihrem Eislauftraining abgeholt, sie waren an Weihnachten auf den Weihnachtsmärkten unterwegs gewesen und hatten alkoholfreien Punsch getrunken und sie war so verliebt in ihn gewesen, dass sie erst kaum bemerkt hatte, dass es ihm immer schlechter zu gehen schien.
Seine Laune war plötzlich an manchen Tagen nicht mehr so aufgeregt und glücklich und liebevoll, sondern still und zurückhaltend gewesen. Bald mürrisch. Launisch. Wütend.
Wenn ihm etwas nicht gepasst hatte, war er laut geworden, aber sie hatte ihm das immer schnell verziehen, denn sie hatte gewusst, dass er eigentlich ganz anders war. Dass er nett und liebevoll war und sie etwas falsch gemacht haben musste, wenn er plötzlich laut wurde. Er hatte sie dann immer zu grob am Arm gepackt oder geschüttelt oder mit seiner großen Hand ihre dünne Kehle umschlossen, sie gegen die Wand gedrückt und ihr bedrohliche Dinge zugezischt.
Einmal hatte sie zum Beispiel einen Rock angezogen, der viel zu kurz gewesen war. Clayton hatte sich nur Sorgen gemacht, was andere Jungs von ihr denken oder ihr deshalb gar antun könnten.
Ein anderes Mal hatte sie sich nach der Schule mit Maisie getroffen und nicht gewusst, dass er sie hatte abholen wollen -es war eine Überraschung gewesen. Sie hätte ihm Bescheid geben müssen, dass sie sich mit Maisie getroffen hatte, dann hätte er sich den weiten Weg und das unnötige Warten erspart und sie sich die Blutergüsse am Hals.
Und einmal hatte er gefunden, dass sie sich nicht genug über den Blumenstrauß und die Tafel Schokolade gefreut hatte, obwohl sie sich gefreut hatte, aber vielleicht hatte sie es einfach nicht genug gezeigt. Bestimmt hatte sie es nicht genug gezeigt, sonst wäre er nicht so verletzt gewesen und so wütend geworden, dass er die Blumen in den Mülleimer gestopft und geschrien hatte, dass sie sich ihre beschissenen Blumen beim nächsten Mal selbst holen könne.
Eigentlich war es immer ihre Schuld gewesen und sie hatte immer alles getan, um es wieder gut zu machen, und den netten, fürsorglichen Jungen zurück zu bekommen, in den sie sich verliebt hatte. Er hatte sich dann auch immer entschuldigt, wenn er ihr wehgetan hatte, hatte ihre blauen Flecken und Druckstellen gestreichelt und geküsst und ihr gesagt, dass er nur wütend geworden war, weil er sie so sehr liebte und nicht wollte, dass irgendetwas ihr Liebesglück störte und sie beim nächsten Mal einfach ein bisschen umsichtiger sein sollte.
Und das war okay, oder? Schließlich war eines der wenigen Dinge, die ihr von Adam im Gedächtnis geblieben war, dass sie einmal als Kind fast vor ein Auto gelaufen wäre, weil sie trotz seiner Stopprufe über eine rote Ampel gelaufen war. Er war so wütend gewesen und hatte geschimpft und sie hatte geweint. Später an dem Tag war er auf ihr Zimmer gekommen und hatte gesagt: „Weißt du, warum ich geschriene habe? Warum ich so wütend war? Weil ich dich sehr, sehr lieb habe und heute unfassbar große Angst um dich hatte."
Clayton war immer auf eine andere Art wütend gewesen als Adam an dem Tag, aber er hatte sie ja auch auf eine andere Art geliebt. Manchmal hatte er ihr Angst gemacht. Sie hatte seine Wut immer wie einen brodelnden Vulkan unter seiner liebevollen Oberfläche spüren können, auch, wenn sie sich das nicht immer hatte eingestehen wollen.
Mit wütenden Menschen kam sie jedoch gut klar. Ihre Mom war oft wütend.
Er hatte schon früh mit ihr schlafen wollen, aber sie hatte ihn immer abgewiesen, weil sie noch nicht bereit gewesen war. Und in den Zeitschriften, die sie immer zusammen mit Maisie gelesen hatte, hatte gestanden, dass Jungs auf den Sex warten würden, wenn sie das Mädchen liebten.
Also hatte sie ihm eines Nachmittags gesagt, als seine Küsse an ihren Bauch gewandert waren: „Wenn du mich liebst, dann kannst du warten."
Er war wütend geworden, hatte sie zur Seite geschubst, sodass sie fast vom Bett gefallen wäre und hatte geknurrt: „Ja, und wenn du mich lieben würdest, dann würdest du es endlich für mich tun!"
Er hatte beim Hinausgehen die Türe zugeschlagen und seine Worte waren ihr nicht aus dem Kopf gegangen. Was er gesagt hatte, hatte Sinn ergeben, aber davon hatte in den Magazinen nie etwas gestanden und sie hatte begonnen, sich schuldig und dämlich zu fühlen, auf ein bescheuertes Magazin zu hören. Auf eine Autorin oder einen Autor, der nichts über ihre Beziehung zu Clayton wusste und bestimmt nur für die Allgemeinheit geschrieben hatte.
Und als sie am nächsten Tag Maisie gefragt hatte, wie ernst sie diese Magazine nahm, hatte ihre Freundin nur gelacht und gesagt, dass sie nicht alles so ernst nehmen durfte, was darin geschrieben stand. Gleich nach der Schule war sie zu Clayton gefahren, hatte sich bei ihm für ihr egoistisches Verhalten entschuldigt und er hatte sie in sein Schlafzimmer gezerrt und mit ihr geschlafen.
Er war nicht vorsichtig gewesen, nicht sanft, nicht langsam oder einfühlsam und hatte sie während des ganzen Aktes kein einziges Mal geküsst und sie hatte sich die Tränen verbeißen müssen. Sie hatte noch drei Tage danach geblutet und es war wohl das Schmerzhafteste, gewesen, das sie jemals beim Sex erlebt hatte und vor dem nächsten Mal hatte sie solche Panik gehabt, dass sie zu weinen begonnen und er sie angeschrien hatte, dass sie sich wie ein Baby anstellte.
Aber er war nicht immer so gewesen. Es war ähnlich wie mit ihrer Mom gewesen. Es hatte sehr schlimme Tage, aber ausgleichend dazu auch unfassbar gute Tage gegeben.
Vermutlich hatte sie sich deshalb bei ihm so wohl gefühlt. Sein Verhalten war ihr nicht unbekannt gewesen. Es war ihre Wohlfühlzone gewesen. Etwas, mit dem sie umzugehen gelernt hatte. Sie hatte ihn einschätzen können, besser als jeden anderen Menschen, außer vielleicht ihre Mom und Izzy.
Er hatte nur ihr sein strahlendstes Lächeln geschenkt, hatte ihr immer die Türe aufgehalten (wenn sie ihn nicht gerade verärgert hatte), war mit ihr quer durch Alaska gefahren, war mit ihr sogar ein paar Mal eislaufen gewesen, hatte ihr das Kino gezahlt und hin und wieder das Essen und er hatte ihr sein altes Handy mit der zerkratzten Rückseite und der kaputten Kamera geschenkt, als er ein Neues bekommen hatte. Wenn sie bei ihm zu Hause auf der Couch gelegen und eine Serie oder einen Film gesehen hatten, hatte er seine Arme um sie geschlungen, glücklich geseufzt und ihr gesagt, wie sehr er sie liebte, wie viel Glück er doch mit ihr hatte und dass er sie niemals gehen lassen würde. Er hatte so gut gerochen, dass sie sich am liebsten in ihm vergraben hätte und er hatte gelacht, wenn sie ihn ganz fest gedrückt und sich neben ihm eingerollt hatte.
Ihre Beziehung hatte zu kriseln begonnen, als sie mit fünfzehn bei ihm vorbeigeschaut und er es mit einem anderen Mädchen, das älter gewesen war als sie, mitten auf dem Wohnzimmerteppich getrieben hatte. Das Mädchen auf allen Vieren, Clayton hinter ihm, beide vor Lust stöhnend und ächzend. Sie würde dieses Bild niemals vergessen.
Als er bemerkt hatte, dass sie da in der Türe gestanden und völlig schockiert zugesehen hatte, hatte er ein Glas, das auf dem Couchtisch gestanden hatte und noch nicht ganz leer gewesen war, nach ihr geworfen und gebrüllt, dass sie gefälligst verschwinden sollte.
Nach zwei Tagen hatte er sich entschuldigt und sie war bei ihm geblieben. Denn auch mit Lügen und falschen Entschuldigungen hatte sie sich bestens ausgekannt.
*
Halloween hatte sie immer toll gefunden. Schon als Kind. Man konnte sich verkleiden, durfte Horrorfilme schauen und es gab Süßes und wenn es nichts Süßes gab, durfte man Streiche spielen.
Später hatte Halloween zwar die Bedeutung bekommen, sich möglichst nuttig anzuziehen, aber auch das hatte seinen Reiz gehabt. Es war die eine Nacht, in der man so viel Ausschnitt und Haut und Beine zeigen durfte, wie man wollte und so viel Make-up auflegen konnte, wie man wollte und sich so anziehen durfte, wie man es insgeheim gerne täte, es aber niemals wagen würde, weil es vielleicht zu auffällig und aufreizend wäre.
An Halloween konnte man jeder sein, der man gerne sein wollte, ohne verurteilt zu werden.
Das kam ihr nur gelegen und so zwängte sie sich am Halloweenabend mit Mia in Mias Zimmer in ihr Kostüm, das eigentlich kein Kostüm war. Gut, Mia hatte ein Kostüm. Sie wollte ein Geist sein und mit ihrer blassen Haut und den schwarzen Haaren hatte sie ohnehin schon die halbe Miete. In dem Kostümladen, in dem die beiden vor einer Woche mit Abby gewesen waren, hatte Mia ein vielschichtiges, weißes Kleid gefunden, das an manchen Stellen zerrissen war oder etwas gräulich von Jahre altem Staub, der sich auf dem Gewand des hübschen Mia-Geistes abgesetzt hatte, die einsam und alleine in der verlassenen Waldhütte umhergestreift war und ihre verflossene Liebe nicht loslassen konnte.
„Oder so", hatte Mia gelacht, als sie sich das Kleid an den Körper gehalten, sich vor dem Spiegel gedreht und sich eine Geschichte zusammengesponnen hatte. Dann hatte sie sich noch einen Schleier ausgesucht und zu Hause ein paar Löcher hineingerissen.
Das Kleid war an der Taille eng geschnürt und hatte einen tiefen Ausschnitt.
„Was meinst du?", fragte Mia, beugte sich vor dem Spiegel nach vorne und drückte ihre Brüste mit den Oberarmen zusammen. „Push-up oder kein Push-up?"
„Push-up BH's sind wie Chipspackungen!", rief Kody aus dem Wohnzimmer, den seine Eltern herbestellt hatten, um auf Mia aufzupassen (nur für den Fall, dass sie eine Fahrgelegenheit nach Hause brauchte und weil sie absolut nicht zu einem betrunkenen Kerl in den Wagen steigen sollte). „Du machst sie auf und die Hälfte fehlt."
„Nach deiner Meinung hat niemand gefragt! Also, Ruhe auf den billigen Plätzen!", rief Mia zurück und schlug die Türe zu ihrem Zimmer zu. „Also? Was meinst du?"
„Es ist Halloween", antwortete sie nur schulterzuckend und zupfte ihren kurzen Rock zurecht. „Heute darf alles ein bisschen... extremer sein." Sie hatte sich ein bauchfreies graues T-Shirt und hohe Netzstrümpfe angezogen. Dunkle Farben waren besser, so konnte sie mit dem Make-up so bunt und ausgefallen werden, wie sie wollte. Mit dem Turban noch auf dem Kopf beugte sie sich über Mias Schminksammlung und suchte nach einem flüssigen Kajal, um sich auf jede Wange ein kleines Herzchen malen zu können und sich einen scharfen Lidstrich zu ziehen.
„Du musst heute unbedingt deine Locken zeigen!", orderte Mia, während sie ihre langen dunklen Haare mit Parfüm einsprühte und durchkämmte.
Sie verzog das Gesicht. „Ich mag meine Locken nicht."
Mia schob die Unterlippe vor. „Bitte, bitte. Sie sehen so toll aus! Nur heute?"
Sie zog sich das flauschige Tuch vom Kopf und betrachtete ihre nassen Locken, die sich trotzdem schon kräuselten wie hundert kleine Sprungfedern. „Ich weiß nicht..."
Mia trat hinter sie. „Ich hab auswaschbaren Farbspray hier! Wir könnten doch einzelne Strähnen pink färben oder blau! Oder beides. Und deine Locken super voluminös machen und dann-"
„Dann sehe ich aus wie ein Schaf", fiel sie ihr ins Wort. Außerdem glaubte sie kaum, dass ihre Locken nach so vielen Jahren des Glättens überhaupt schön werden konnten. „Nein, danke."
Das war nicht unbedingt der wahre Grund, warum sie ihre Locken nicht mochte, aber er war weitaus angenehmer als die Wahrheit. War es nicht seltsam, dass man immer eine Lüge erfinden konnte, die besser war als die Realität?
Die Wahrheit war nämlich, dass ihre Mom immer dann die Haare ihrer Töchter hatte bürsten wollen, wenn sie wütend gewesen war. Manche Leute putzten ihre Wohnung oder betrieben Sport, wenn sie wütend waren. Ihre Mom wollte Haare bürsten. Aber nicht ihre eigenen.
Und damals hatte es noch nicht die tollen Bürsten gegeben, deren Borsten sich leicht umbiegen ließen, wenn sie auf Knoten stießen und mit denen das Bürsten keine Tortur war. Nein, damals hatte es nur Holz und Plastikbürsten mit dicken, unbiegsamen Borsten gegeben, die gerade bei Locken, wie sie sie hatte und Izzy sie früher gehabt hatte, einfach nur grausam gewesen waren. Besonders, wenn die Haare nicht nass und mit Tonnen an Haarmilch weicher und glitschig gemacht worden waren. Sie erinnerte sich noch genau an die Kopfschmerzen und das Gefühl, wie ihre Mom ihr jede Woche mit dieser unsäglichen Bürste die Haare ausgerissen hatte.
Es wunderte sie manchmal, dass sie überhaupt noch Haare am Kopf gehabt hatte.
Izzy hatte als Kind auch so kleine, stramme Locken gehabt wie sie heute, aber je länger die Haare geworden waren und je älter Izzy geworden war, desto mehr hatten sich ihre Locken in lose Wellen verwandelt. Aber sie erinnerte sich noch gut daran, wie sehr Izzys Haare im Winter immer wegen ihres Schals verfilzt waren. Einmal war es so schlimm gewesen, dass die Knoten gar nicht mehr herausgegangen waren. Mom hatte mit der Bürste an Izzys Haaren gerissen und die Knoten nur weiter in die Spitzen gebürstet, wo sie sich völlig verfilzt hatten. Die Locken hatten die Bürste gar nicht mehr hergeben wollen.
Izzy hatte sich den Kopf gehalten und gebrüllt, bis ihre Mom mit der Schere gekommen war und Izzy die Haare kurzerhand auf schulterlänge abgeschnitten hatte. Nicht einmal sonderlich schön, sondern völlig wirr und Izzy hatte noch mehr geschrien und geweint und gebettelt und hatte noch Stunden weiter geweint mit dem abgeschnittenen, verfilzten Büschel Haare in den Händen. Ihre Mom hatte die Schere in eine Ecke geworfen.
„Bitte sehr, jetzt sind sie nicht mehr verfilzt!", hatte sie gerufen, Izzy fest auf den Hinterkopf geschlagen, war auf ihr Zimmer getrampelt und hatte die Türe zugeknallt.
Sie hatte ihr Bestes gegeben, die verschnittenen Haare ihrer kleinen Schwester so gerade wie möglich zu schneiden, dabei waren sie nur immer kürzer geworden, bis Izzy die Locken nur noch knapp unters Ohr gereicht hatten. Sie hatte ausgesehen, als hätte sie in eine Steckdose gegriffen, so seltsam hatten sich ihre Haare plötzlich gekräuselt.
Die nächsten paar Monate in der Schule waren nicht leicht für Izzy gewesen.
Izzy war damals sieben Jahre alt gewesen. Seitdem hatte sie sich ihre Haare nie wieder geschnitten. Kein einziges Mal. Nicht einmal sie hatte ihr die Spitzen schneiden dürfen. Ihre Locken waren herausgewachsen, hatten wieder eine hübsche Länge bekommen und immer, wenn ihre Mutter wütend und in der Nähe gewesen war, hatte Izzy ihre Haare in einen Dutt gedreht oder die Bürste und die Haarschere auf ihrem Zimmer versteckt.
Sie sagte nur ab und zu, dass sie sich ihre Haare schwarz färben wollte, aber eine Schere würde sie nie wieder in die Nähe ihres Kopfes lassen. Seit acht Jahren ließ Izzy ihre Haare nun wachsen und wachsen, aber sie reichten ihr nur knapp unter die Brust, weil Izzy sich nicht darum kümmerte und ihre Spitzen gerne abbrachen.
Als sie das Glätteisen ihrer Mutter entdeckt hatte, als sie elf Jahre alt gewesen war, hatte sie vor den Bürstversuchen nicht mehr so große Angst gehabt, weil die Borsten fast mühelos durch die glatten Haare gegangen waren. Hier und da hatte es noch ein bisschen geziept, aber das war zu ertragen gewesen.
„Nur heute?", wiederholte Mia mit einem Welpenblick.
„Mist, ich hätte den Lidstrich nachher ziehen sollen", murmelte sie, als sie zu den bunten Liedschattenpaletten linste.
„Locken!", bettelte Mia unbeirrt weiter. „Wenn du mit den Locken auf Masons Party erscheinst, dann bist du der Mittelpunkt der Nacht!" Das klang durchaus verlockend. Es war lange her, dass sie der Mittelpunkt von etwas gewesen war und andere Leute sie beneidet hatten.
Sie schloss die Augen. „Von mir aus." Ihre Mom war schließlich nicht hier, um ihr mit einer Bürste hinterher zu jagen, richtig?
Mia klatschte aufgeregt in die Hände. „Yey!"
Die nächste Stunde waren sie damit beschäftigt, ihre Haare zu stylen (sie trocken zu föhnen, mit Öl zu präparieren, damit sie nicht so struppig aussahen und einzelne Strähnen pink einzufärben), aus Mias Schmucksammlung passende Accessoires herauszupicken und letzten Schliff anzulegen. Mia trug einen blutroten Lippenstift auf und tuschte ihre langen, dichten Wimpern, die sie erst vor drei Tagen wieder hatte auffüllen lassen. Sie selbst sparte nicht mit dem Highlighter auf ihrem Gesicht und als die beiden zufrieden waren und sie sich Mias schwarze Boots ausgeborgt hatte, um ihr freches, aufreizendes Kostüm zu vervollständigen, trabten sie lachend die Treppen hinunter, wobei Mia mit ihrem schweren Kleid Probleme hatte, nicht die Stufen hinunter zu stolpern.
Im Wohnzimmer saß Kody auf der Couch mit seiner neuen Freundin, zumindest war es das, was Mia ihr erzählt hatte.
„Ich glaub, sie heißt Fiona, oder so", hatte sie vor ein paar Stunden gesagt. „Aber er wechselt seine Freundinnen so oft, wie seine Meinung, also bin ich nie ganz sicher, wie sie heißen..."
Sie hatte Kodys Freundin noch nicht gesehen, aber jetzt beugte sie sich zu den Mädchen und lächelte. „Das nenne ich Mal zwei Halloween Kostüme! Ihr seht klasse aus!"
„Um Himmels Willen", murmelte Kody, betrachtete Mias Kleid und schüttelte den Kopf. „Mom und Dad würden dich niemals so rausgehen lassen."
Mia klimperte mit ihren großen Engelswimpern. „Zum Glück sind sie heute Abend nicht hier. Wir müssen jetzt los. Fährst du uns?"
„So weit ist es doch nicht", erwiderte er und wandte seinen Blick wieder dem Fernseher zu, während er einen Arm um vielleicht-Fiona legte.
„Kody."
„Ich hab Mom und Dad versprochen, dass ich dich von der Party abhole, wenn es nötig ist, nicht, dass ich dich hinbringe."
Mia verdrehte angestrengt die Augen. „Du bist ein Idiot." Dann nahm Mia sie am Arm und zog sie aus dem Haus.
„Viel Spaß", rief vielleicht-Fiona ihnen noch nach und bevor die Türe ins Schloss fiel, konnte sie hören, wie sie Kody irgendetwas sagte, das nach einem vorwurfsvollen: „Das war nicht gerade nett", klang.
Die Party fand nicht in Masons Haus statt, wie Mia ihr erklärte. Während sie auf den Bus warteten, erzählte Mia ihr, dass Mason seine Halloweenpartys seit vorletztem Jahr immer auf dem Dach der geschlossenen Psychiatrieanstalt (so beschrieb Mason es zumindest, eigentlich hatte früher ein Frauenarzt seine Praxis in dem Gebäude gehabt, aber verlassene Psychiatrie klang für eine Halloweenparty einfach besser) organisierte. Das Gebäude war komplett leer und hatte nur zwei Stockwerke, die man über die Treppen leicht erreichen konnte. Das Gebäude war eigentlich dafür bekannt, dass sich Minderjährige trafen, um ungestört zu trinken, Sex zu haben, Gras zu rauchen und sich Playboy Magazine ansehen zu können.
„Ist das Gebäude nicht... bewacht oder so?", hakte sie nach, als sie es sich im warmen Bus bequem gemacht hatten.
„Von wem?", lachte Mia. „Der Polizei ist das doch völlig egal. Es ist ein Haus, das keinem mehr gehört und dass Jugendliche dort verbotene Sachen machen, wissen die Erwachsenen ja nicht."
„Müsste das Gebäude nicht abgesperrt sein?"
„War es", nickte Mia. „Bevor die Meute an Jugendlichen die Hintertüre aufgeknackt hat. Ich glaube, Masons kleiner Bruder hat ihm mal von dem Haus erzählt, weil er dort mit seinen Freunden war und seither feiern wir auf dem Dach Halloween."
„Und das fällt keinem auf?"
„Entspann dich doch mal", meinte Mia und zupfte imaginäre Fussel von ihrem Kleid. „Wovor hast du solche Angst?"
Mia verstand es nicht, aber der Gedanke daran, in ein verlassenes Gebäude einzusteigen, um auf dem Dach zu trinken, obwohl sie noch keine einundzwanzig war, würde so ziemlich das Illegalste sein, das sie jemals getan hatte. Sie war sich sicher, dass es zu Einbruch zählte, auch wenn das Haus niemandem gehörte. Es gehörte der Gemeinde, oder nicht? Der Stadt. Und wenn sie erwischt werden würden...
„Nach dem ersten Drink denkst du nicht mehr an die Polizei, versprochen", zwinkerte Mia. „Es ist Halloween. Ein bisschen Nervenkitzel muss sein."
„Aber keine Anzeige."
„Du bist so ein Baby", neckte Mia sie.
Als die Mädchen fünfzehn Minuten später aus dem Bus ausstiegen und Mia sie in der hauskargen Gegend zu dem leeren Gebäude lotste, konnte sie die Musik bereits hören und die Lichter auf dem Dach sehen. Stimmengewirr, Lachen, Johlen. Mia führte sie um das Gebäude herum, das wirklich nicht sonderlich hoch war und sie stiegen durch die Hintertüre ein. Gleich daneben befand sich die Treppe, sodass sie keine Gelegenheit hatte, einen neugierigen Blick in das Innere einer verlassenen Praxis zu werfen, aber nachdem sie meinte, jemanden keuchen und stöhnen zu hören, wollte sie das auch gar nicht mehr.
Mia stieß die Türe am Ende der Treppe auf und auf dem Dach begrüßte sie ein sensationeller Anblick. Es war eine wolkenlose Nacht und von hier oben konnte man so unfassbar viele Sterne sehen. Obwohl das Gebäude nicht hoch war, glaubte sie, die ganze Stadt überblicken zu können. Überall auf dem Dach waren Laternen aufgestellt, Kürbisse mit unheimlichen Fratzen schauten die Mädchen an und es roch zu gleichen Teilen nach Alkohol und Gras. Überall dienten Klappstühle und Kartons als Sitzgelegenheiten, die Musik spielte laut, aber nicht so laut, dass sie die Stimmen der Gäste übertönt hätte und jede Gestalt, die ihnen entgegen kam, war verkleidet. Hexen, Zombies, Vampire, sexy Krankenschwestern und Cheerleaderinnen. Am hinteren Ende des Daches waren zwei lange Klapptische aufgebaut, auf denen sich Snacks und Getränke türmten.
Sie sah sich um und überlegte, ob ihre Schwester schon hier war. Bestimmt war Izzy alleine hergekommen und vermutlich waren die Alkoholbestände auch der einzige Grund, warum sie überhaupt zugesagt hatte. Aber sie hatte keine Lust, ihrer Schwester den ganzen Abend lang hinterher zu rennen, es war ohnehin zwecklos.
Mit einem Schlag betete sie nur, dass das, was sie im Gebäude vernommen hatte, nicht ihre kleine, unschuldige Schwester gewesen war.
Mason war der erste, der sie begrüßte. Überschwänglich, gut gelaunt und mit viel Körperkontakt natürlich. Er zog Mia sogar an sich und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen und sie rieb sich angewidert über den Mund, als er sie wieder losließ.
„Igitt, was sollte das?"
„Das ist das Nächstbeste, an das ich nach deinem scharfen Bruder jemals rankommen werde", erklärte Mason schulterzuckend. „Hättest du ihn mitgenommen, hätte ich dich nicht küssen müssen."
„Spar dir die Mühe, er hat eine neue Freundin. Und er ist nicht schwul."
„Bin ich auch nicht", erwiderte Mason schulterzuckend. „Ich spiele nur gerne auf beiden Seiten."
„Wenn du mich nochmal ungefragt küsst, verspreche ich dir, dass du auf keiner mehr spielen wirst", lächelte Mia engelsgleich und er grinste, aber es war klar, dass sie es nicht wirklich ernst meinte. Dann musterte er Mias Kleid.
„Also, wenn Geister so aussehen, dann dürfen sie jederzeit in meinem Haus herumspuken."
Mia lächelte geschmeichelt. „Danke."
Sein Blick glitt zu ihr. „Und was süße Emo-Mädchen angeht, sowieso", zwinkerte er. Sie wollte sich eine Haarsträhne hinters Ohr streichen, hatte aber vergessen, dass das mit ihren Locken nicht so leicht war, denn die Strähne sprang einfach wieder hervor.
„Und was sollst du sein?", fragte Mia und betrachtete Mason. Er trug einen roten Zylinderhut und ein violettes Jaquette über seinem grellgrünen Hemd. Sein Gesicht war mit weißem Make-up zugekleistert, was lustig aussah, denn seine Hände und sein Hals waren immer noch schokobraun. Ein widerlich breites, rotes Grinsen strahlte auf seinem weißbemalten Gesicht und seine Augen waren schwarz umrandet.
„Ich, meine Liebe", begann er, nahm sich den Hut vom Kopf und verneigte sich elegant, bevor er wieder aufsah und grinste, „bin der Joker."
Mia lachte auf. „Der Joker? Die meisten hätten eher Batman gewählt."
„Aber an Halloween geht es doch darum, sich zu verkleiden und jemand anderes zu sein, oder habe ich das falsch verstanden?", hakte er nach, setzte sich den Hut wieder auf und sie und Mia mussten lachen.
„Von mir aus. Der Bösewicht steht dir ohnehin besser." Mia griff nach ihrer Hand. „Komm, holen wir uns was zu trinken. Bis später, Mase!"
Sie war sich ziemlich sicher, dass Hao der wahre Grund war, warum Mia sofort an die zusammengeschobenen Tische mit den Getränken wollte, hinter denen er offenbar den Barmann spielte und sich lachend mit den Partygästen unterhielt, die sich gerade etwas zu trinken holen wollten.
„Wenn du heute Nacht deine Jungfräulichkeit verlierst, muss ich dann deine Hand halten?", raunte sie und Mia warf ihr einen halb beleidigten, halb belustigten Blick zu.
„Meine Beine bleiben geschlossen, keine Angst. Ich mache mir eher um dich Sorgen", meinte Mia und nickte zu einem blonden, breiten Kerl, der mit drei anderen Jungs am Geländer des Daches lehnte. Sie kannte ihn aus der Schule, war sich aber nicht sicher, in welche Klasse er ging oder wie alt er war oder wie er überhaupt hieß. Sie wusste nur, dass er sie auf den Schulfluren manchmal beobachtete, wenn sie an ihrem Spind war, aber sie hatte bislang immer versucht, das zu ignorieren. Und das würde heute Abend nicht anders sein. Etwas hatte er an sich, das ihr nicht gefiel.
„Ich könnte euch bekannt machen."
„Vergiss es. Nicht mein Typ", sagte sie schnell.
„Und wer ist dein Typ?", hakte Mia neckisch nach.
Dein Bruder, hätte sie am liebsten gestanden, aber dann wäre ihre Freundschaft schneller vorbei gewesen, als wenn sie Mia ihren hübschen weißen Schleier geklaut hätte.
Sie zuckte zurückhaltend mit den Schultern, weil Mia sie so erwartungsvoll ansah. „Komm schon, ich bin sicher, ich könnte da was für dich arrangieren", drängelte Mia aufgeregt.
„Ich komm schon klar, danke", wehrte sie ab und deutete mit dem Kopf verhalten zu Hao. Mia verstand den Wink, denn er war gerade alleine, und richtete noch einmal ihren Schleier.
„Willst du was trinken?", fragte Mia, aber sie schüttelte den Kopf. Als sie auf Masons Party letztens zum ersten Mal in ihrem ganzen Leben Alkohol getrunken hatte, war es ihr am nächsten Tag so schlecht gegangen, dass sie die Menschheit in Frage gestellt und sich gewundert hatte, warum so viele Leute ihrem Körper solche Qualen zumuteten.
„Rede mit ihm, ich hol mir später was."
Vor Aufregung schoss Mia das Blut in die Wangen, als sie sich umdrehte und zu dem Tisch mit den Getränken schlenderte.
Hao war wohl als Magier verkleidet. Zumindest waren seine schwarzen Haare mit Gel zurückgekämmt und er trug einen schwarzen Umhang, der auf der Innenseite Blutrot war. Außerdem hatte er wieder sein Kartendeck in der Hand und spielte in jeder freien Sekunde damit herum.
Auch jetzt war das erste, das er tat, Mia einen Kartentrick vorzuführen, den sie vermutlich noch nicht kannte, denn er führte keinen Trick zweimal vor. Selbst von hier aus konnte sie sehen, wie unfassbar Mia in ihn verknallt war, wie sehr sie strahlte und vermutlich wäre Mia am liebsten über den Tisch geklettert und hätte ihn hier und jetzt geküsst.
Mias Gesicht war ein Spiegel ihrer Gefühlswelt, deshalb war es auch unmöglich, dass Hao nicht wusste, dass sie ihn mochte.
Sie fand es beinahe unfair, während sie darüber nachdachte. Mia mochten die Leute, weil sie so durchschaubar war. Weil sie niemandem etwas vormachen konnte und alle Welt immer wusste, wie Mia sich fühlte und was sie dachte.
Sie mochten die Leute, weil sie ihr wahres Gesicht nie zeigte. Weil sie sich schnell anpassen konnte, weil sie wusste, wie sie sich in gewissen Situationen verhalten musste, um sich einzufügen. Weil sie tat, was die Leute von ihr erwarteten.
Sie wandte sich ab und wollte eben nach jemandem Ausschau halten, den sie kannte (vielleicht Abby oder Izzy oder Mason), als der Blondschopf plötzlich vor ihr auftauchte und ihren Blick auffing, sodass sie sich unmöglich unauffällig hätte verdrücken können.
„Hey", lächelte er.
„Hey", erwiderte sie und obwohl die Hälfte der Mädchen auf dieser Party weit mehr Haut zeigten als sie, wünschte sie sich unter seinem Blick, sie hätte das Kostüm eines unscheinbaren Nachtschattengewächses gewählt. Wie auch immer das ausgesehen hätte.
Sie wusste nicht, was es war, aber etwas an ihm ließ alle Alarmglocken in ihrem Kopf läuten. Vermutlich gab es solche Menschen einfach. Also setzte sie ein bedauerndes Lächeln auf und legte den Kopf schräg.
„Ich wollte eben zu meinen Freunden hinüber."
„Ich habe eigentlich gehofft, dass du ein bisschen hier bleibst und wir uns", er brachte seine strahlenden Zähne zum Vorschein, „unterhalten können. In der Schule ergibt sich irgendwie nie die Gelegenheit."
Sie wollte nicht unhöflich sein, aber ihr Kopf spuckte ganz automatisch eine ganze Tonne an Ausreden aus. Doch noch bevor sie etwas sagen konnte, schob er sie sanft aber bestimmt zu dem Tisch mit den Getränken. „Nur fünf Minuten. Ich mache dir auch etwas zu trinken."
Gut. Ein paar Minuten würden sie nicht umbringen, auch wenn ihr Herz vor Unwohlsein beinahe aus ihrer Brust springen und davon laufen wollte.
„Du heißt... Hannah, oder?", fragte er, nahm einen Becher und goss so viel Wodka hinein, dass ihr schon ohne davon zu trinken, schwindelig wurde. Sie nickte lächelnd, als er den Wodka mit Cola aufgoss und warf einen hilfesuchenden Blick zu Mia und Hao, aber die bemerkten sie gar nicht. Sie waren zu sehr in ihr Gespräch vertieft und darin, über den Tisch hinweg Händchen zu halten.
Wunderbar.
„Ja. Ich weiß leider nicht, wie du heißt", gab sie zu, auch, wenn es sie nicht sonderlich interessierte. Er war nicht sonderlich groß, aber bestimmt doppelt so breit wie sie und verbrachte vermutlich halbe Tage im Fitnessstudio. Nein, er war nicht ihr Typ. Cole war ihr Typ gewesen. Clayton war damals ihr Typ gewesen. Offenbar war auch Andrew ihr Typ gewesen und jetzt war es Jason. Alle vier groß, schlank, fit, aber nicht durchtrainiert, braune Haare, dunkle Augen und eine gehörige Portion Charme und Witz.
Sie hasste es, dass sie so vorhersehbar und durchschaubar war.
„Bash." Er reichte ihr den Becher. „Du gehst in die elfte richtig?"
Sie nickte. „Dann bist du wohl in der zwölften?"
„Muss ich wohl", grinste er. „Mason hat mir gesagt, dass du eine Weile an unserer Schule bleibst."
„Das hat Mason gesagt, ja?"
„Naja, ich habe ihn gefragt."
„Wieso?"
„Weil ich dich süß finde."
Normalerweise hätte ihr seine direkte Art gefallen. Es hätte ihr an Jason gefallen. Hätte Jason ihr gesagt, dass er sie süß fand, hätten die Engelchen gesungen, denn sie konnte seine Meinung über sie durch die ganzen Textnachrichten einfach nicht einschätzen. Es war nicht dasselbe, wie das Treffen im Café, das immer noch die Schmetterlinge in ihrem Bauch wachrüttelte.
„Ich hoffe, das war nicht zu direkt", lächelte er und sie winkte ab.
„Nein, keine Sorge." Das war gelogen, aber in dem Fall kam sie mit ihrer Lüge vermutlich weiter als mit der Wahrheit.
„Wie lange bleibst du an unserer Schule?", fragte Bash und bewegte sich langsam wieder von den Tischen weg. Sie folgte ihm.
„Das... weiß ich tatsächlich noch nicht." Immerhin war das die Wahrheit. Sie hatte immer noch keine Ahnung, wann ihre Mutter aus der Klinik wieder rauskam. Mit etwas Glück, würde sie bis dahin bereits achtzehn sein. Konnte sie das Sorgerecht für Izzy anfechten? Vermutlich nur, wenn sie einen sicheren Job und eine eigene Wohnung hatte. Sie wollte eigentlich nicht darüber nachdenken, aber im Vergleich zu Zuhause, war das Leben bei Adam ein wahres Schlaraffenland, das sie am liebsten nie wieder verlassen würde. Das Verhältnis zwischen Adam und ihr war immer noch mehr als angespannt, aber das konnte auch daran liegen, dass sie einfach noch kein offenes Gespräch über das geführt hatten, was zwischen ihnen stand.
„Ich fände es schade, wenn du in einem Monat wieder verschwindest."
„So schnell passiert das wohl nicht", lächelte sie und fragte sich, warum sie das tat. Sie sendete gerade die absolut falschen Signale, das war ihr bewusst. Aber sie bekam dieses freundliche Lächeln einfach nicht aus ihrem Gesicht.
Bash sah sich um. „Es ist ziemlich laut hier, findest du nicht?"
Laut? Laut war es schon, aber... nicht so laut, dass es erwähnenswert wäre. „Ein... ein bisschen?" Sie war sich nicht sicher, welche Antwort er auf diese schräge Frage erwartete.
Er trat einen Schritt auf sie zu. „Wir könnten nach unten gehen."
„Nach unten?"
Er lächelte. „Ins Haus. Da ist es ruhiger."
Oh nein. Nein, nein, nein. Sie würde auf gar keinen Fall mit Bash nach unten in die Praxis des ehemaligen Frauenarztes gehen, denn sie wusste genau, was da unten passierte. Von Reden waren die Geschehnisse weit entfernt.
„Äh..." Sie lachte nervös und fuhr sich reflexartig durch die Haare, hatte wieder vergessen, dass sie lockig waren und blieb mit den Fingern stecken, sodass sie sie ungeschickt wieder heraus ziehen musste. „Weißt du, ich... ich weiß nicht recht."
„Reden", lächelte Bash. „Ich würde nur gerne ein bisschen mit dir reden. Mehr über dich erfahren." Meine Zunge in deinen Hals stecken, dachte sie.
Sie schluckte, weil sie nicht wusste, wie sie aus der Nummer wieder rauskommen sollte.
Er griff nach ihrer Hand. „Komm mit. Unten sind auch nicht so viele Leute."
Unten waren gar keine Leute, dachte sie panisch, als er sie durch die Menge lotste und überlegte ernsthaft, den ganzen Becher Wodka jetzt sofort hinunterzustürzen.
Vermutlich hätte ein lautes Nein ausgereicht, aber sie wollte keine Szene machen. Sie wollte nicht unfreundlich werden.
„Bash." Sie lachte nervös auf, glaubte aber, dass es verzweifelt klang. „Wirklich, wir... ich finde wir sollten-"
„Da bist du ja!" Plötzlich legte sich ein Arm um ihre Schultern, Bash ließ ihre Hand los und drehte sich um. „Du willst sie doch wohl nicht jetzt schon von meiner Party stehlen, oder?", fragte Mason und sie musste an sich halten, um nicht laut aufzuatmen.
Bash schmunzelte ihn an. „Vielleicht für ein paar Minuten."
„Ich zeige ihr nur kurz das Highlight des Abends, dann bringe ich sie dir zurück", lächelte Mason beschwichtigend, schob sie zurück in die Menge und nahm ihr dabei den Becher aus der Hand und trank einen Schluck. Er verzog das Gesicht und hustete lachend. „Wow! Der Blackout-Drink."
„Danke für die... Rettung", sagte sie.
„Bash ist echt in Ordnung", meinte Mason, nahm aber seinen Arm nicht von ihrer Schulter. „Er wird nur anhänglich und geil wenn er was getrunken hat. Und ziemlich direkt."
„Hab ich gemerkt." Sie lachte nervös und strich sich eine viel zu voluminöse Locke hinters Ohr, die sofort wieder vorsprang. Das mit Bash wäre vielleicht nicht passiert, wenn sie nicht auf ihren Lockenkopf gesetzt hätte.
„Bash ist wirklich okay. Versprochen. Wenn du Nein sagst, akzeptiert er das, aber wenn du willst, dann erzähle ich ihm, dass du dich nicht gut gefühlt hast und nach Hause gegangen bist." Er zwinkerte. „Meine Aufgaben als Gastgeber, Schrägstrich Joker ist es schließlich, meine hübschesten Partygäste aus unangenehmen Situationen zu retten."
„Klingt mehr nach Batman. Mia hatte recht", sagte sie und er seufzte theatralisch.
„Es ist eben schwer, seine wahre Identität zu verbergen." Dann sah er sie verschmitzt von der Seite an. „Also. Willst du nun das Highlight des Abends sehen?"
Sie zog die Augenbrauen hoch. „Das gibt es wirklich? Ich dachte, das wäre nur eine Strategie, um mich vor Bash zu retten."
„Ich würde dich doch niemals mit falschen Versprechungen weglocken. Für wen hältst du mich?"
Sie musste lachen.
Er führte sie zu etwas, das wie ein kleines Zelt aussah und sie bis jetzt noch gar nicht bemerkt hatte. Mason hob eine Seite des Stoffes an, damit sie gebückt unter dem Konstrukt eintreten konnte.
Überall waren Plastikkerzen mit elektronischen Flammen aufgestellt. Und in der Mitte des achteckigen Tipis, saß eine Frau, stark geschminkt und gekleidet in bunten Gewändern vor einem niedrigen Tisch mit rotem Samttischtuch.
Die Frau lächelte sie an und sie drehte sich zu Mason.
„Was soll das?", fragte sie und versuchte, ihre Fassungslosigkeit zu verbergen. Eine Wahrsagerin auf einer Halloweenparty war doch nun wirklich etwas schräg, oder? Nicht unpassend, aber schräg.
„Ich hab sie für die ganze Nacht bezahlt", zwinkerte Mason und sie verdrehte belustigt die Augen. Mit diesen Worten und einem aufgeregten, auffordernden Nicken auf die Frau, verschwand er und sie drehte sich unsicher zu der Dame, die in ihren Dreißigern sein musste und fragte sich, ob es nicht doch besser gewesen wäre, bei Bash zu bleiben.
„Keine Angst", lächelte die Frau und ihr fiel auf, dass die Stimme der Frau zu tief war und ihre Hände etwas zu groß. Und ihr Adamsapfel ein bisschen zu... nun ja, vorhanden. „Setz dich zu mir, wir werden einen Blick in deine Zukunft erhaschen."
Das war vermutlich der absurdeste Teil des Abends, aber sie ließ sich darauf ein und setzte sich vorsichtig auf die bunten Kissen auf dem Boden vor dem Tisch.
„Ich bin die Madam!"
Sie blinzelte unsicher. „Nur... die Madam?"
„Du musst meinen Namen nicht wissen und ich brauche auch deinen nicht zu erfahren. Namen stören nur den reinen Kontakt zu den Energien und der Seele meines Gegenüber. Ich muss dich so sehen, wie du bist, ohne vorher etwas über dich zu wissen. Es könnte das Bild stören."
„Okay", sagte sie, obwohl sie keine Ahnung hatte, wovon die Frau redete.
„Oh, ich spüre..." Die Madam schloss ihre Augen und schien sich zu konzentrieren. „Nein, für dich brauche ich meine Karten gar nicht, du strahlst so viel Energie aus, du bist..." Die Frau streckte beide Hände über den Tisch aus und zögerlich legte sie ihre Hände in die der Madam. „Eine Erstgeborene!"
Die Madam lächelte feierlich und ihr blieb die Spucke im Hals stecken. Gut, das konnte geraten sein, aber es war gut geraten gewesen.
Die Madam öffnete ihre mit schwarzem Eyeliner umrandeten Augen wieder. „Dich umgibt eine Dunkelheit. Schlimme Dinge sind passiert." Wieder schloss die Frau ihre Augen und klang einerseits bedauernd, andererseits konzentriert. „Wo Vertrauen sitzen sollte, hat sich Angst eingenistet. Du bist kein Einzelkind, habe ich recht?"
Sie fand es unheimlich. Wie sonst hätte man es finden sollen, wenn man mit einer fremden Person in einem kleinen Tipi saß, einander an den Händen hielt und der Gegenüber plötzlich Sachen wusste, die er unmöglich wissen konnte? Vermutlich war es nur geraten und gut geschauspielert, aber in diesem Zelt, umhüllt von dem Licht der unechten Kerzen, lief ihr ein Schauer über den Rücken und sie hielt die Luft an.
„Eine Schwester", sagte die Madam langsam. Ihre Stimme hatte einen eigenartigen Tonfall angenommen. „Sie bereitet dir Kummer, aber du trägst mehr Liebe für sie in deinem Herzen als für irgendjemanden sonst."
Sie spürte, wie ihr Unwohl wurde und sich ein Knoten in ihrem Magen bildete.
Dann öffnete die Madam die Augen wieder und ließ ihre Hände los. „Jetzt, da ich einen Blick in deine Vergangenheit werfen durfte, möchte ich mich deiner Zukunft zuwenden."
„Kommen jetzt die Karten ins Spiel?", fragte sie hoffnungsvoll, weil sie neugierig darauf war. Sie glaubte, dass solche Karten Tarot-Karten hießen, aber sie hatte sie noch nie gesehen oder verwendet. Doch die Madam lachte nur.
„Nein, die brauche ich wirklich nicht. Die brauche ich nur, wenn ein Mensch kaum Energien aussendet."
Die Madam streckte die flache Hand aus und hielt sie Zentimeter von ihrer Stirn entfernt, bevor sie wieder die Augen schloss. „Die Energie, die mir deine Zukunft verraten wird, sitzt am höchsten im Körper eines Menschen, weil sie dem Universum am nächsten ist." Theatralisch atmete die Madam ein und aus. „Ich werde dir drei Dinge über deine Zukunft sagen. Drei. Und eine Frage darfst du mir stellen, nach deren Antwort ich suchen werde."
Jetzt wurde sie nervös. Die Madam hatte nicht nur gewusst, was in ihrem Leben passiert war, sondern wollte ihr nun auch noch sagen, was passieren würde. Wollte sie es überhaupt wissen? Sie glaubte kaum noch an ihr Happy End.
„Du wirst nur einmal heiraten", war die erste Prophezeiung der Madam. Die Madam kniff die Augen weiter zusammen und konzentrierte sich. Sie hing an ihren Lippen, gespannt, die zweite Prophezeiung zu hören.
„Du wirst deine Schwester überleben."
„I-Izzy wird vor mir sterben?", brach es schockiert aus ihr heraus. Das konnte nicht stimmen. Immerhin war Izzy zwei Jahre jünger. Abgesehen davon würde sie es gar nicht überleben, ihre Schwester beerdigen zu müssen. Auch nicht in achtzig Jahren.
„Du bekommst das Glück einer zweiten Familie." Was auch immer das heißen mochte.
Die Madam öffnete ihre Augen. „Du darfst mir jetzt eine Frage stellen."
Ihr war kaum noch danach zu Mute, mehr über ihre Zukunft zu erfahren. Trotzdem fragte sie: „Werde ich... werde ich je wieder das Eis betreten?"
Sie war sich nicht sicher, ob die Madam die Frage überhaupt verstand, aber da schloss die Frau auch schon wieder die Augen. „Ja. Wenn auch anders, als du es gerne hättest."
Die Madam hatte unrecht, dachte sie erleichtert. Sie hatte unrecht, weil sie das Eis gar nicht mehr betreten konnte. Nicht mit diesem kaputten Rücken und der kaputten Hüfte, auf keinen Fall. Und Izzy würde auch nicht vor ihr sterben.
Es war Halloween. Mason hatte die Frau bestimmt bezahlt, um ein paar unheimliche Vorhersagen springen zu lassen. Es sollte zur Unterhaltung dienen, weiter nichts.
Die meisten Wahrsager oder Wahrsagerinnen warfen mit Zukunftsvorhersagen um sich, die auf neunzig Prozent der Bevölkerung zutreffen würden und erzählten ihren Kunden Dinge aus deren Vergangenheit oder Gegenwart, die so schwammig waren, dass man sich leicht in ihnen wieder finden konnte, wenn man etwas Fantasie hatte. In Aussagen wie: „Ihnen ist in der Vergangenheit ein tiefes Loch in ihre Seele gerissen worden, aufgrund eines traumatischen Ereignisses", oder, „Bleiben Sie nicht auf ihrem bisweiligen Pfad, er wird ins Unglück führen", konnte man auf jede beliebige Lebenssituation ummünzen, in der man eben gerade steckte.
Aber dass die Madam Dinge über sie gewusst hatte, die sie ohne Masons Hilfe nicht wissen konnte, machte ihr Angst. Sie musste ihn danach fragen, sonst würde sie diese Nacht unmöglich ruhig schlafen können.
„Einen schönen Abend", lächelte sie und nickte der Madam zu. Sie wollte so schnell wie möglich wieder aus diesem Zelt.
„Den wünsche ich auch."
Die Nachtluft war kalt und nicht so feucht wie die im Zelt. Ihr lief sofort die Gänsehaut über die nackten Arme.
„Du hast ihr doch bestimmt ein paar Sachen gesteckt, oder?", fragte sie, als sie Mason wieder vor dem Zelt traf, der vielleicht auf sie gewartet hatte.
„Wie hätte ich?" Grinsend hob er die Hände. „Ich kenne dich doch kaum."
„Die Sache mit dem Erstgeborenen."
„Das hat sie dir gesagt?" Er zog die Augenbrauen zusammen. „Billig. Dafür habe ich nicht gezahlt."
Sie verdrehte die Augen. „Komm schon, gib zu, dass sie das alles von dir wusste."
„Was alles?" Er lachte. „Ich bitte dich, denkst du allen Ernstes, dass ich dieser Frau über jeden meiner Gäste etwas stecke?"
Guter Punkt. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht und es machte sie nervös.
Mason meinte, dass sie endlich etwas zu trinken brauchte, das ihr nicht gleich alle Gehirnzellen zerstörte und zog sie zu den Getränken, wo Hao und Mia immer noch zusammen waren. Nur hatte sie sich mittlerweile hinter die Tische zu ihm gesellt, das machte das Knutschen leichter.
Mason räusperte sich unmissverständlich und die beiden lösten sich voneinander. Mia sah peinlich berührt zu ihr, aber es fiel ihr schwer, das breite Grinsen zu unterdrücken und die Röte schoss ihr ins Gesicht.
„Wollt ihr nicht lieber nach unten gehen?", zog Mason die beiden auf, während er ihr Cola in einen Becher goss, ganz ohne Alkohol. Mia umschlang Haos Arm und zog ihn hinter den Tischen hervor. „Wenn du jemand andern kennst, der Barmann spielt, sehr gerne", trällerte Mia.
„Als hätte er in den letzten zehn Minuten noch großartig den Barmann abgegeben", schnaubte Mason und sie sah Mia dabei zu, wie sie Hao durch die Menge zog, bis hin zum Ausgang.
Sie wusste genau, dass sie sich morgen Früh die ganze lange Geschichte von Mias Entjungferung würde anhören müssen. Ihre Laune sank.
„Vielleicht doch ein bisschen Wodka", murmelte sie und Mason tat ihr den Gefallen.
Den restlichen Abend über verbrachte sie bei Mason oder Abby, die meist an Andrew klebte, sie blieb auch ein Weilchen bei den beiden Pauls und Sofja. Kurz sah sie sogar ihre Schwester, die natürlich nicht verkleidet war, sondern sich nur etwas zu trinken holte und dann wieder irgendwo verschwand.
Irgendwann kamen auch Mia und Hao wieder, aber Mia verriet kein Wort darüber, wo sie gewesen waren oder was sie gemacht hatten, aber sie schien auf Wolke sieben zu schweben.
Sie freute sich für Mia. Irgendwie. Es mischte sich Bitterkeit und Eifersucht darunter, weil sie diesen Rausch des Verliebt seins vermisste, wenn man jemanden zum ersten Mal küsste oder zum ersten Mal mit jemandem geschlafen hatte.
Mia zog sie auf die Tanzfläche und sie war betrunken genug, um mitzumachen. Die Musik war schon vor zwanzig Minuten lauter gedreht worden und die meisten tanzten schon.
Sie hatte seit dem Unfall eigentlich nicht mehr getanzt, weil sie Angst davor gehabt hatte. Eislaufen war wie tanzen. Die wundervollste Form, und sie würde es nie wieder tun können.
Aber sie durfte schnell feststellen, dass das tanzen auf der Tanzfläche sie nicht einmal halb so sehr ans Eislaufen erinnerte, wie befürchtet. Abby und Sofja leisteten ihnen schnell Gesellschaft und in Folge dessen auch Hao und Andrew, wovon sie wenig begeistert war, aber der Alkohol ließ ihren Groll auf Andrew geringer werden. Er schenkte ohnehin nur Abby Beachtung, die in ihrem goldfarbenen Kostüm als Cleopatra wirklich umwerfend aussah. Falls sich die beiden noch nicht ins Haus verzogen hatten, dann würden sie es nach dem Tanzen mit Sicherheit tun.
Gerade als sie dachte, ihre Laune hätte nicht weiter sinken können, legten sich zwei Hände an ihre Taille und sie fuhr empört herum, obwohl sie bereits ahnte, wer es war.
Natürlich war es Bash.
Als sie sich wieder umdrehte sah Mia sie auffordernd an. Sie warf ihr vermutlich den tödlichsten Todesblick aller Tosdesblicke zu, denn Mia schien kurz verwirrt zu sein. Wenn sie telepathische Fähigkeiten gehabt hätte, dann hätte sie sich jetzt eingesetzt, um Mia mitzuteilen, dass sie sie irgendwie aus dieser Situation holen sollte. Sie einfach wegziehen sollte, als wolle sie ihr etwas unheimlich Wichtiges sagen. Aber Mia verstand ihre Blicke nicht.
Auf der ganzen Welt gab es vielleicht eine Person, die diesen Blick verstanden hätte und genau diese Person sah sie nirgends.
Einen ganzen Song hielt sie durch, in dem Bash sich gegen ihren Rücken drückte, seine Hände über ihren nackten Bauch, ihre Taille und ihre Hüften gleiten ließ, bevor sie beschloss, dass alle Höflichkeit der Welt es nicht wert waren, sich von jemandem anfassen zu lassen, von dem man gar nicht angefasst werden wollte.
Sie drehte sich um und wollte ihm (so freundlich wie möglich) sagen, dass er seine Hände von ihr nehmen sollte, aber vielleicht hatte er ihren Blick und die Tatsache, dass sie nicht viel früher von ihm gewichen war, missverstanden, denn bevor sie auch nur ein Wort hervor bringen konnte, legte Bash eine Hand an ihren Hinterkopf, zog sie zu sich und küsste sie.
Im ersten Augenblick war sie so überrascht und schockiert, dass sie sich nicht einmal rühren konnte.
Da stand sie also auf dieser Halloweenparty mitten auf einem Dach einer ehemaligen Gynäkologie und ließ sich von einem Jungen küssen, von dem sie sich gar nicht küssen lassen wollte.
So etwas Schräges war ihr noch nie passiert, aber jetzt wusste sie, wie es sich anfühlte, ungewollt geküsst zu werden. Es war widerlich. Sie hatte Bash nicht verabscheut, er war ein netter Kerl gewesen, auf den sie eben einfach nicht gestanden hatte, aber jetzt verabscheute sie ihn und Ekel überzog jeden Zentimeter ihrer Haut, als sie sich schüttelte und von ihm losriss.
Jetzt war ihre Freundlichkeit endgültig dahin und das musste er ihr angesehen haben, denn er ließ sie los und brachte unsicher etwas Abstand zwischen sich und ihr.
Bash wollte etwas sagen, aber bevor es dazu kommen konnte, stieß ihn plötzlich jemand kräftig von ihr. Sie erschrak so sehr, dass sie erst gar nicht begriff, wer es war.
„Lass sie in Ruhe!"
Obwohl Izzy einen guten Kopf kleiner als Bash war, hielt sie das nicht davon ab, ordentlich Abstand zwischen ihn und ihre große Schwester zu bringen.
Sie konnte nicht einmal etwas sagen, so perplex war sie darüber, dass Izzy Bash gerade einfach so weggestoßen hatte. Sie hatte noch nie erlebt, dass Izzy gegenüber irgendjemandem außer ihrer Mom handgreiflich geworden war, aber bei ihre Mom war es oft Selbstverteidigung gewesen.
Ihre kleine Schwester funkelte Bash so wütend an, wie sie nur ihre Mom ansah, wenn der Zorn sie übermannte. So voller Hass und Abscheu. Diesen Blick sah sie nicht oft in den Augen ihrer kleinen Schwester und sie wusste genau, was passieren konnte, wenn Izzy wütend wurde und es machte sie nervös, dass es in aller Öffentlichkeit passierte.
„Izzy", murmelte sie und sah sich unauffällig um. Es überraschte sie nicht, dass sie bereits von den meisten angestarrt wurden. Zwei Cheerleaderinnen zeigten mit dem Finger auf sie. Zum Glück verschluckte die Musik ihre Worte, sie hätte es nicht ertragen, zu wissen, was die Leute im Augenblick zu sagen hatten.
Sie wollte ihrer kleinen Schwester eben sagen, dass sie aufhören sollte, so eine Szene zu machen, als Bash beschwichtigend seine Hand auf Izzys Schulter legte.
„Komm runter, Kleine."
Sie hätte Bash von vornherein sagen können, dass es nie, nie eine gute Idee war, Izzy anzufassen, wenn sie auf hundertachtzig war, aber sie war nicht schnell genug, um dazwischen zu gehen.
„Fass mich nicht an!", brüllte Izzy, schlug seine Hand weg und plötzlich taumelte Bash nach hinten, noch bevor sie begriffen hatte, dass Izzy ihn mit ihrer Faust geschlagen hatte. Erst dachte sie ins Gesicht, aber Bash fasste sich an den Hals und schnappte panisch nach Luft.
„Izzy!", rief sie fassungslos aus. Jetzt wurden sie wirklich von allen angestarrt und die Leute wichen erschrocken vor Izzy zurück. „Spinnst du?!"
Jetzt wurde sie selbst sauer. War es Izzys einziges Lebensziel, sie vor allen Leuten lächerlich zu machen?
„Worauf wartest du?", rief Izzy Bash sauer zu, der immer noch versuchte zu Atem zu kommen, sich auf den Knien den Hals hielt und nicht einmal auf das reagierte, was ihre Schwester zu ihm sagte. „Schlag mich, wenn du dich traust, komm schon!"
„Izzy! Hör auf, Izzy!" Sie packte ihre kleine Schwester an den Schultern, wirbelte sie herum und erschrak.
Für einen Augenblick sah Izzy nicht wie Izzy aus. Den wilden Ausdruck, der auf dem Gesicht ihrer kleinen Schwester lag, hatte sie noch nie gesehen.
Und in diesem Augenblick begriff sie. Sie wusste, was mit ihrer kleinen Schwester los war, aber die Wahrheit war für sie so schrecklich zu ertragen, dass sie es sofort wieder verdrängte.
Monate später würde sie sich sagen, dass sie die Anzeichen hätte erkennen müssen, aber sie hatte ihre Augen vor dem verschlossen, was direkt vor ihr gelegen hatte, weil es so viel leichter gewesen war. So viel weniger schmerzvoll.
Jetzt ließ sie Izzy los, die zu begreifen schien, was sie eben getan hatte und sie wie ein verschrecktes Reh ansah, bevor sie sich losriss und sich hastig durch die erschütterte Menschenmenge drängte.
Sie blieb reglos zurück. Mehrere Sekunden sagte niemand etwas.
„Mann, deine Schwester hat wirklich einen Vollschuss!", rief irgendjemand und ein paar Leute begannen zu lachen.
Aber sie hatte es gesehen. Sie hatte gesehen, was mit ihrer Schwester in diesem Augenblick passiert war.
Und sie beschloss, dass es nicht wahr war.
*
Später in derselben Nacht spähte sie ins Zimmer ihrer Schwester. Sie hatte noch versucht, Izzy auf der Party zu finden, war aber bereits davon ausgegangen, dass ihre Schwester nach Hause gegangen war. Auch, wenn es ihr gleichzeitig absurd erschienen war, denn zu Fuß brauchte man locker eine Stunde, wenn nicht mehr, zu Adam nach Hause.
Julia und Adam schliefen schon, als sie und Andrew sich ins Haus schlichen, etwa zwei Stunden später als abgemacht. Leise huschten sie die Treppen nach oben und sie blieb vor dem Zimmer ihrer kleinen Schwester stehen, drückte den Türgriff nach unten und schob vorsichtig die Türe auf.
„Izzy?", flüsterte sie. Ihre Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit und sie trat einen Schritt ins Zimmer, um das Bett einsehen zu können. Ihre Schwester lag tatsächlich in die Decke eingewickelt auf der Klappcouch und sie atmete erleichtert auf.
Ob Izzy schlief, wusste sie nicht, und so erleichtert sie auch darüber war, dass Izzy nichts passiert war, so verspürte sie doch plötzlich den Drang, sie zu wecken und einen Streit von der Stange zu brechen. Izzy hatte sich heute vor allen Partygästen absolut lächerlich gemacht. Und sie hatte auch sie lächerlich gemacht. Ihre Schwester brauchte sich nicht zu wundern, wenn die Leute sie komisch ansahen, oder nicht mit ihr zu Mittag essen wollten, oder Blödsinn über sie erzählten, wenn sie sich so benahm.
Natürlich hatte sie auch gelesen, was auf der Mädchentoilette der Schule im zweiten Stock geschrieben stand. An diesem Punkt hatte es wohl jeder gelesen. Es wurde auch darüber geredet und sie war überrascht, dass noch kein Lehrer etwas davon mitbekommen hatte oder die Hausmeister niemandem davon erzählt hatten, was, um ehrlich zu sein, nur ihren Verdacht bestärkte, dass niemand diese Toilettenkabinen jemals putzte.
Und obwohl sie wusste, dass es nicht stimmte, dass Izzy niemals so weit gehen würde, mit einem Lehrer zu schlafen, schon gar nicht, um eine Klasse zu überspringen, schämte sie sich so sehr für ihre Schwester, dass sie sie auf den Schulfluren mied und heute auf der Party nicht nach ihr Ausschau gehalten hatte.
Sie kannte Izzy. Sie liebte ihre kleine Schwester, war mit ihr durch dick und dünn gegangen, aber langsam verstand sie die Meinung, die andere über Izzy hatten und sie hasste es. Hasste es, dass ihre Schwester so einfach nachgab, dass Izzy ihre Vergangenheit gewinnen ließ und nicht einmal versuchte, sich anzupassen.
Sie hasste es, dass Izzy sie mit hinunterzog, so wie Mom sie immer in den Abgrund gezogen hatte.
Aber als sie an ihr Bett trat und Izzys (vielleicht) schlafendes Gesicht betrachtete, kamen ihr nach dem heutigen Abend beinahe die Tränen.
„Schlaf gut", flüsterte sie, ging wieder aus dem Raum und schloss die Türe.
„Ist sie auf ihrem Zimmer?"
Sie blickte auf und stellte überrascht fest, dass Andrew zwar im Türrahmen seiner Zimmertüre stand, aber noch nicht hineingegangen war.
Sie nickte. Dann nickte er. Irgendetwas stand in seinem Blick, das sie nicht so recht deuten konnte. Sie hoffte nur, dass es kein Mitleid war.
Sie war sich nicht sicher, wie sie weiter reagieren sollte, aber da drehte Andrew sich auch schon um.
„Gute Nacht", sagte er noch und schloss die Türe, bevor sie antworten konnte.
Sie ging leise ins Bad und rieb sich das Make-up vom Gesicht. Dann stieg sie unter die Dusche, um die pinke Farbe aus ihren Haarsträhnen zu waschen. Sie merkte, wie die Müdigkeit ihre Muskeln erschlaffen ließ und gab sich nicht einmal mehr die Mühe, ihre Haare trocken zu föhnen, sondern schlug sie nur in ein Handtuch und legte sich ins Bett.
Sie hasste es, dass sie in diesem Augenblick alleine war und spielte mit dem Gedanken, sich zu Izzy ins Bett zu legen, wollte sie aber nicht wecken. Stattdessen griff sich nach ihrem Handy, öffnete ohne nachzudenken ihr Kontaktbuch und wählte Jasons Nummer.
Die erste Träne floss und sie wischte sie energisch weg. Eigentlich rechnete sie nicht damit, dass er ans Handy ging, deshalb war sie umso überraschter, als er es tat.
„Hey", sagte er überrascht und sie musste beim Klang seiner Stimme lächeln.
„Hey, stör ich?"
„Nein, gar nicht, aber... es ist doch sicher schon nach Mitternacht bei dir, oder nicht?" Er klang verwundert und sie war zu müde, um auf die Uhr zu sehen.
„Ja, wahrscheinlich."
Eine kurze Pause entstand. „Alles in Ordnung?"
„Ja, wieso?"
„Du hast mich noch nie angerufen." Stimmt. Daran hatte sie gar nicht gedacht. Eigentlich hatte sie angenommen, Jason das erste Mal anzurufen, wäre mit Panikattacken und Schweißausbrüchen und zitternden Händen verbunden.
„Wie spät ist es bei dir?", fragte sie. „Bist du in New York?"
„Nein, Dubai. Halb drei. Am Nachmittag." Einen halben Tag. Er war einen ganzen halben Tag von ihr entfernt. Sie hasste es, auch wenn sie wusste, dass es ihr nicht geholfen hätte, wenn er jetzt in Palmer in seinem Elternhaus wäre.
„Hey, ist wirklich alles okay?", fragte er noch einmal.
Sie rieb sich über die Augen und merkte, wie nass ihr Gesicht bereits war. Dass ihre Stimme nicht preisgab, wie sie sich fühlte, überraschte sie. „Ja. Ja, es ist nur spät und ich kann nicht schlafen, aber alle anderen schlafen schon und... und ich dachte, wer wäre um diese Uhrzeit wach, wenn nicht jemand, der in einem anderen Bundesstaat lebt."
„Das ist fast eine Beleidigung. Hättest du nicht sagen können, dass du meine Stimme hören wolltest oder so ein Zeug?"
Sie musste lächeln. „Das sowieso."
Wieder entstand eine Pause, in der die Tränen über ihr Gesicht liefen.
„Du solltest schlafen", sagte er irgendwann.
„Ich will aber noch nicht. Ich will... ich will einfach-" Jetzt klang ihre Stimme doch erstickt und sie presste die Lippen zusammen.
Sie sagte sich, dass sie nur müde war. Dass der Tag lang gewesen war, dass Dinge passiert waren, die so nicht hätten passieren dürfen und sie darüber schlafen musste. Morgen würde die Welt wieder anders aussehen, bestimmt.
„Ist etwas passiert?", fragte er und sie hasste es, dass der Kloß in ihrem Hals so groß geworden war, dass sie nicht einmal mehr atmen, geschweige denn antworten konnte. Er sagte kein Wort mehr, während sie versuchte, sich zu beruhigen. Es war ihr schon immer schwer gefallen, sich wieder unter Kontrolle zu bringen, wenn der Damm erst einmal gebrochen war.
Irgendwann stieß sie den Atem aus. „Nein, alles okay. Es ist nur... spät", sagte sie und war stolz auf sich und ihre ganz und gar normal klingende Stimme.
„Dann solltest du schlafen", wiederholte er und sie konnte deutlich heraushören, dass er ihr nicht abnahm, dass es ihr gut ging.
„Ja", wisperte sie und wischte sich über die Nase. „Ja, du hast recht..." Sie wartete, ob er noch etwas anderes sagen wollte, aber das tat er nicht.
„Dann... Gute Nacht."
„Kannst du... mich anrufen, wenn du Zeit hast? In den nächsten Tagen?", fragte sie noch und biss sich auf die Unterlippe. Sie wollte das Gespräch noch gar nicht beenden, aber sie war so unendlich müde und ausgelaugt.
Sie meinte ein Lächeln in seiner Stimme zu hören, als er antwortete. „Versprochen."
Als sie auflegte, lächelte sie und kuschelte sich in die Bettdecke und obwohl ihr wieder die Tränen kamen, wusste sie, dass sie gut schlafen würde.
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