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Wenn Mia gewusst hätte, dass sie in einen ihrer Brüder verliebt war, dann wäre sie bestimmt ausgerastet.

„Ich hatte nie wirklich Freunde", hatte Mia ihr vor ein paar Wochen gestanden und sie hatte nur ungläubig den Kopf schütteln können. Mia war wunderschön und ein wirklich nettes, intelligentes Mädchen.

„Natürlich hatte ich Freunde", hatte Mia dann hastig hinterhergeschoben. „Nur eben keine, die... es interessiert hätte, wie es mir wirklich geht. Wäre ich im Krankenhaus gelandet, weil ich mir das Bein gebrochen hätte, hätten sie vielleicht Blumen und Pralinen geschickt und sonst nichts. Sie waren meine besten Freunde, wenn wir zusammen waren und gefeiert haben, aber ansonsten habe ich nie etwas von ihnen gehört, verstehst du? Diese Freundschaften hätten Distanz und Zeit nicht überstanden. Wirklich traurig, weil Filme und Bücher die Erwartungen für Freundschaften viel zu hoch schrauben."

Sie hatte sich schlecht gefühlt, weil sie sich auch manchmal so verhielt, wie die Menschen, die Mia beschrieben hatte. Bei Benny und Lauren hatte sie sich jedenfalls nicht mehr gemeldet, seit sie aus dem Eislauftraining ausgestiegen war. Die beiden hatten ein paar Mal probiert, sie anzurufen, aber sie hatte es ignoriert.

Mia hatte sie angelächelt. „Aber eine Freundin wie dich hatte ich noch nie."

Über die letzten Wochen hatten sich die beiden fast jeden Tag gesehen. Wenn nicht in der Schule, dann am Nachmittag fürs Lernen und an den Wochenenden fürs Shopping oder Kino. Sie hatte zwar kein Geld, um sich in den Läden, die Mia ansteuerte, etwas zu kaufen, aber es war ihr zu unangenehm, das zuzugeben. Deshalb tat sie meist so, als würde ihr einfach nichts gefallen und während Mia mit fünf Einkaufstüten nach Hause kam, ging sie selbst meist leer aus.

Mias Eltern hatten zu viel Geld, als dass sie ihre eigene Geldlosigkeit hätte zugeben wollen. Letzten Mittwoch erst, als die beiden in Mias Zimmer zusammen die Biologiehausaufgaben gemacht hatten, hatte Olivia ihre Tochter ins Wohnzimmer gerufen.

„Schatz, ich bestelle mir eben schnell eine neue Tasche!", hatte sie hinaufgerufen. „Möchtest du auch eine?"

Mia war nach unten gelaufen, hatte sie mit sich gezogen und mit ihr beraten, welche Designertasche sie nehmen sollte. Keine der Taschen hatte unter fünfhundert Dollar gekostet, aber sie hatte ihre Fassungslosigkeit versteckt und ihre Freundin akribisch beraten. Schließlich hatten sie sich für die hellblaue Chanel Tasche entschieden, die schon drei Tage später angekommen war und seitdem trug Mia sie jeden Tag, weil sie perfekt zu ihrer schneeweißen Jacke passte.

Sie hatte sich früher oft aus Spaß mit dem Schmuck und den Klamotten ihrer Mom aufgebrezelt und war mit Lauren zusammen durch die teuersten Läden der Stadt geschlendert. Nicht um etwas zu kaufen, sondern um so zu tun, als hätten sie sich irgendetwas davon leisten können. Ihre Mom hätte ihr bei einer Tasche, die fünfhundert Dollar kostete, den Vogel gezeigt, obwohl sie ihr beinahe immer jeden Wunsch erfüllt hatte. Mias Mom hätte höchstens im Tausenderbereich zu zögern begonnen, aber Olivias ausgewählte Tasche hatte achthundert Dollar gekostet.

Mias Eltern waren generell recht spendabel und hatten Mia und ihr einmal fünfhundert Dollar zugesteckt und gesagt, sie sollten sich in der Stadt einen netten Abend machen. Vermutlich auch, damit Olivia mit ihrem Mann alleine sein konnte (es war wohl eine Seltenheit, dass die beiden zur selben Zeit zu Hause waren), aber ihre Mom hatte sie und Izzy immer ohne Gewissensbisse nur aus der Wohnung geworfen, wenn sie einen Mann mit nach Hause genommen hatte. Manchmal hatte sie nicht einmal das getan und ungeniert auf dem Wohnzimmerboden gevögelt, während ihre Töchter zu Hause gewesen waren.

Aber wenn sie die zwei vorgewarnt hatte, dann waren sie durch die Stadt gestreift und sie hatte meist ihr ganzes Taschengeld ausgegeben, um sich und Izzy etwas zu trinken kaufen zu können. Und dann hatten sie ein paar Stunden irgendwo draußen in einem Park verbracht, manchmal auch bei Minusgraden. Sehr oft bei Minusgraden.

Dass Mias Freundschaften also auf Oberflächlichkeiten basiert hatten, weil ihr Haus der absolute Wahnsinn war, ihre Eltern ziemlich locker mit Geld umgingen und (laut Mia) ihre beiden Brüder absolute Frauenmagneten waren, besonders, wenn sie in ihren Pilotenuniformen nach Hause kamen, überraschte sie nicht sonderlich.

Und obwohl Mia ihre Brüder liebte, hatte sie das Gefühl, dass Mia neidisch war. Eifersüchtig auf etwas, das sie noch nicht benennen konnte. Aber Mia hatte mindestens schon dreißig Mal betont, wie toll sie es fand, dass sie sich mit ihr so gut verstand. Umso schlechter fühlte sie sich, weil sie das Gefühl hatte, dass Mia ihre Mauern herunterließ und ihr mehr und mehr zeigte, wer sie wirklich war. Mit jedem Tag.

Sie fühlte sich wie eine Betrügerin. Als würde sie Mia etwas vorspielen und das tat sie ja auch. Jede Sekunde. Jedes Mal, wenn sie sich dagegen entschied, Mia von ihrer Mom zu erzählen oder zu verraten, warum sie und Izzy bei Adam wohnten oder sie verschwieg, dass Izzy nur ihre Halbschwester war oder warum sie wirklich mit dem Eislaufen aufgehört hatte oder, dass sie sich in Mias Bruder verliebt hatte.

Mia fühlte sich ihr verbunden. Mia erzählte ihr alles aus ihrem Leben. Jede noch so kleine Kleinigkeit. Sie erzählte, was sie geträumt hatte, erzählte, dass sie noch nie einen Freund gehabt hatte, erzählte, dass sie manchmal überlegte, ob sie auf Mädchen stand, erzählte, dass sie weinen musste, wenn ein Lehrer einen schlechten Tag hatte und sie anschrie. Mia hatte bestimmt noch ein paar dunkle Flecken in ihrer Vergangenheit, die sie noch nicht preisgegeben hatte, aber die würde sie bestimmt auch noch ansprechen.

Sie hingegen war Mia genauso entfernt, wie jedem anderen Menschen auch. Jedem, außer vielleicht ihrer Schwester und selbst die wusste einiges nicht von ihr.

Izzy wusste zum Beispiel nichts von Clayton.

Sie war sich nicht sicher, wie das Ganze überhaupt angefangen hatte. Nach dem ersten Abendessen mit Mia und ihren Brüdern war sie am Abend ein bisschen auf Instagram unterwegs gewesen und war den beiden gefolgt. Mehr aus Langeweile und Automatismus, als mit Hintergedanken.

Als sie ein paar Tage später durch Zufall auf einen Werbepost eines neuen Restaurants in New York gestoßen war, das hoch oben über den meisten Häusern ragte und einen wunderschönen Ausblick über den Hudson River bot, hatte sie ihm den Post geschickt und geschrieben, dass er dieses Restaurant unbedingt für sie besuchen und ihr sagen musste, ob sich ein Abstecher dorthin lohnen würde, sollte sie je in den Genuss kommen, New Yorker Luft zu schnuppern.

Sie hatte nicht einmal mit einer Antwort gerechnet. Sie hatte nur gefunden, dass es eine nette Anerkennung an das Gespräch, das sie in der Küche geführt hatten, war. Sie hatte die Unterhaltung genossen und dazu stand sie und das wollte sie auch vermitteln.

Er hatte nicht geantwortet und sie hatte vergessen, ihm überhaupt geschrieben zu haben. Doch nach fünf Tagen hatte er ihr eine Bewertung geschickt, die so ausführlich und witzig gewesen war, dass Izzy auf ihr Zimmer gekommen war und gefragt hatte, warum zum Teufel sie so laut lachte.

Sie hatte sich sofort in ihn verliebt und sich überlegt, wie sie am besten an jemanden heran kommen konnte, der die meiste Zeit über in New York oder in einem Flugzeug saß. Von Mia wusste sie, dass er an Weihnachten frei bekommen hatte und seine Familie besuchen würde. Und sie wusste auch von ihr, dass er sich vor einigen Monaten von seiner Freundin getrennt hatte und diese wohl einen ziemlichen Sprung in der Schüssel hatte.

Sie hatte ihm für die Bewertung, die besser hätte ausfallen können, mit ein paar Lachsmileys bedankt und ihn gefragt, welche Restaurants er denn sonst empfehlen würde. Nicht, weil sie wirklich vorhatte, demnächst nach New York zu fliegen, sondern weil sie die schriftliche Konversation um jeden Preis weiterführen wollte.

Und genau das war auch passiert. Sie hatten über drei Wochen jeden Tag auf Instagram geschrieben und jedes Mal, wenn sie eine neue Nachricht von ihm bekommen hatte, hatte ihr Herz einen Satz gemacht. Sie wollte ihn so dringend wiedersehen, dass es beinahe wehtat, aber sie wollte Mia nicht fragen, ob er vor den Weihnachtsferien irgendwann vorbeikommen würde. Zum einen, weil sie die Antwort dazu schon kannte, zum anderen, weil sie nicht wollte, dass Mia Verdacht schöpfte.

Mia, die ihr so sehr vertraute und die sie so gerne mochte.

Mia, die längst mitbekommen hatte, dass sie in letzter Zeit glühte, wenn sie diesem geheimnisvollen Jemand schrieb, über den sie sonst kein Wort verlieren wollte. Mia hätte ihr den Kopf abgerissen, wenn sie gewusst hatte, dass es ihr Bruder war, mit dem sie täglich schrieb.

Izzy wusste als Einzige längst, was los war. Sie kannte ihre Schwester, erkannte, wenn sie verliebt war, erkannte, wenn sie etwas verheimlichen wollte. Sie hatte ihr mit keinem Wort verraten, dass es Jason war, der ihr so gute Laune machte und Izzy hatte auch nicht gefragt, aber sie wusste es bestimmt. Ihre Schwester war besser im Beobachten und Durschauen von Menschen, als jede andere Person, die sie kannte.

Und wenn sie nicht gerade an Jason dachte, oder daran, wie ein Wiedersehen mit ihm verlaufen würde, oder daran, dass sie unheimlich verliebt in ihn war, dann half sie Julia im Haushalt, die längst aufgehört hatte, sich dagegen zu wehren. Sie ging Andrew so gut wie möglich aus dem Weg, der gerne fünf Sekunden vor ihr ins Badezimmer schlüpfte und dreißig Minuten nicht mehr rauskam, sie im Regen extra lange vor der Schule warten ließ oder fiese Kommentar über ihre knappen Röcke und Kleider abgab, die gar nicht so knapp waren, wie sie fand.

Sie versuchte außerdem ein Auge auf Izzy zu werfen. Sie glaubte, dass sie in den letzten Wochen wieder vermehrt bei Justin gewesen war. Heimlich. Aber sie konnte es nicht beweisen, denn so gut ihre Schwester auch Geheimnisse aufdecken konnte, so gut konnte sie sie kreieren und behüten.

Adam war die meiste Zeit nicht zu Hause, er arbeitete in einer Bankfiliale, und so war sie zumindest nicht gezwungen, Versäumtes nachzuholen. Sie redete viel lieber mit Julia, während sie ihr beim Kochen oder Aufräumen oder Wäsche machen half. Oder sie spielte mit April, die ihre Welt aufhellte, weil sie so süß und unschuldig war und immer breit grinste und die Augen zusammen kniff, wenn sie mit ihr spielte. Sogar Andrew war erträglich, wenn er seine kleine Schwester auf dem Arm hielt.

Alles in allem fand sie also, dass die Zeit, die sie hier verbringen sollte, recht leicht rumzubiegen war. Sie genoss es sogar ein wenig.

„Es tut mir leid, wie er sich dir gegenüber verhalten hat", sagte Julia an einem Mittwochabend. Julia bügelte vor dem Esstisch, während sie auf der Couch saß und die Socken zusammenlegte.

„Was?", fragte sie verwirrt und Julia legte den Kopf schräg.

„Denkst du, ich merke nicht, wie mein Sohn sich dir gegenüber verhält?"

Ihr erster Gedanke war, dass Julia wusste, dass sie mit ihm geschlafen hatte, aber das konnte sie unmöglich wissen. Sie senkte den Blick zurück auf die Socken. Sie hatte schon seit längerem mit dem Gedanken gespielt, Julia zu erzählen, dass Andrew sie wie einen nervigen Mistkäfer behandelte, aber sie hatte gefunden, dass sie die Freundlichkeit von ihr und Adam ohnehin schon strapazierte.

Julia drehte Adams hellblaues Hemd auf dem Bügelbrett um. „Ich merke die Anspannung zwischen euch. So habe ich ihn bestimmt nicht erzogen. Er ist eigentlich sehr freundlich und offen, glaub mir. Es tut mir leid, dass er diese Seite im Augenblick nicht zeigt."

Oh, er hatte sie gezeigt, dachte sie. Nur war diese freundliche Seite eben nur gespielt gewesen. Dass Andrew wirklich ein netter Mensch sein sollte, wollte sie nicht so recht glauben.

„Du musst dich nicht entschuldigen, wirklich nicht", sagte sie trotzdem hastig. Sie fand, dass es Andrew war, der sich entschuldigen sollte, der erwachsen werden und das Problem, das er mit ihr hatte, begraben sollte, denn sie wusste nicht, warum er sie so hasste. Warum er sie ignorierte, wenn sie ihn bat, sie zu Mia zu fahren, wenn er mit voller Absicht den letzten Schokoladenpudding aß oder sich ihr Handyladekabel ausborgte, ohne zu fragen. Wenn er sich so auf der Couch ausbreitete, dass kein zweiter mehr Platz hatte und ihr sagte, dass sie ihm noch etwas zu trinken bringen sollte, weil sie nur Gast hier war. Wenn er in seinem Zimmer so laut Musik hörte, dass sie sich beim Lernen nicht konzentrieren konnte und wenn er sie zur Seite drängte, wenn sie ihm in dem Flur im Oberstock im Weg stand.

Er war kein Kind mehr, benahm sich aber trotzdem wie eines. Und sie begriff nicht, wieso. Alles, was er brauchte, hatte er hier. Eine Mutter, die ihn liebte, einen Vater, der ihn liebte, ein weiches Bett, gebügelte Wäsche, Strom und warmes Wasser und jeden Abend ein wahres Festmahl. Er durfte sich mit Freunden treffen, wann immer er wollte und wenn das Auto zur Verfügung stand, konnte er damit herumfahren.

Sie hatte das Gefühl, dass er all das mit Füßen trat und es machte sie wütend.

„Es ist nur..." Julia seufzte und begann, die Hemdärmel zu bügeln. „Vielleicht ist es meine Schuld, dass er sich so verhält. Ich weiß es nicht."

Sie griff nach dem nächsten Paar Socken. „Was meinst du damit?"

„Weißt du, ich war sehr jung, als ich erfahren habe, dass ich schwanger war. Gerade mal neunzehn. Und sein Vater, Elias, hat nichts davon wissen wollen und mich kurz vor der Geburt verlassen." Julia zog das gebügelte Hemd vom Brett und betrachtete es, bevor sie es sorgfältig über den Kleiderhaken stülpte. „Erst war ich froh, ihn nicht in Andrews Leben zu haben, aber als er vier Jahre alt war, hat Elias sich wieder gemeldet und wollte es noch einmal mit mir versuchen. Ich hatte das Gefühl, Andrew einen Vater schuldig zu sein." Sie hob die Augenbrauen. „Elias war nur kein guter Vater. Er war nie da, nicht für mich, nicht für Andrew. Er konnte keine Verantwortung übernehmen. Er wollte nicht helfen, eine Schule für Andrew zu suchen, er wollte keine Geburtstagspartys für ihn erlauben, keine Freunde durften bei ihm übernachten und er hat das ganze Geld, das er und ich verdient haben verspielt oder vertrunken. Das hat dazu geführt, dass wir ständig nur gestritten haben, bis Andrew acht Jahre alt war, und ich gefunden habe, dass er besser ohne Vater dran ist als mit Elias."

Ihr fiel auf, dass Andrews Socken alle schwarz waren mit seltsamen, bunten Motiven darauf. Pinke Donuts mit Streuseln, gelbe Ananasse, skifahrende Gurken, sonnenbrillentragende Hunde, grinsende Kakteen, violette Delphine...

„Elias hat das volle Sorgerecht beantragt mit der Behauptung, ich würde mich nicht ausreichend um Andrew kümmern."

„Das gibt's doch gar nicht!" Sie schüttelte den Kopf.

„Doch, leider. Aber das Gericht hat ihm nicht geglaubt, unter anderem, weil sogar seine eigene Mutter ihn als faulen, inkonsequenten, verantwortungslosen Idioten bezeichnet hat." Sie riss die Augen auf. „Und Andrew hat gesagt, dass er auf jeden Fall lieber bei mir bleiben will, als bei seinem Vater. Als das Gericht Elias angeboten hat, Andrew jedes zweite Wochenende unter Aufsicht zu sehen, hat er abgelehnt."

„Wieso das denn? Wenn er davor das volle Sorgerecht wollte?"

„Oh, er wollte es nicht um Andres Willen, oder weil er die Vaterrolle so sehr genossen hat", erklärte Julia. „Er wollte mich nur dafür bestrafen, dass ich ihn verlassen habe."

„Das war bestimmt nicht leicht", meinte sie mitfühlend, fühlte aber nicht sonderlich viel. Vielleicht, weil ihre Kindheit schlimmer gewesen war.

„War es nicht. Und es hat über ein Jahr gedauert, bis der Prozess beendet war. Ich wieder alleinerziehend, mit zwei Jobs. Von fünf Uhr morgens, bis zwei Uhr nachmittags habe ich bei der Post gearbeitet und Pakete versandfertig gemacht und von drei Uhr nachmittags bis elf Uhr nachts habe ich in einem Restaurant gekellnert. Andrew war also die meiste Zeit alleine. Zwei Mal die Woche war er bei meinen Eltern. Ich habe getan, was ich konnte, aber ich glaube nicht, dass Andrew diese Zeit als schön empfunden hat. Er hätte mich gebraucht, aber..." Das T-Shirt, das Julia jetzt bügelte gehörte Andrew. Das wusste sie, weil er es immer zum Schlafengehen trug. Immer, wenn er abends unter der Woche nach neun oder zehn noch im Wohnzimmer vor dem Fernseher saß, trug er dieses T-Shirt. „Er hätte mich gebraucht, aber er brauchte eben auch Essen, Kleidung, Schulsachen und... alles andere."

Jetzt machte sich echtes Mitgefühl in ihr breit. Sie wusste, wovon Julia redete. Sie hatte ihr Leben lang nichts anderes getan, als jeden Cent zehn Mal umzudrehen, wenn ihre Mom es nicht gekonnt hatte. Alles war so unfassbar teuer. Zumindest dann, wenn man kein Geld hatte. Sogar die kleinsten Dinge, um die sich viele Menschen keine Sorgen machen mussten. Zahnbürsten, zum Beispiel. Taschentücher, Radiergummis, Glühbirnen, geschweige denn neue Handys oder den Schullaptop, für den sie lange gespart hatten.

„Als er zehn Jahre alt war, habe ich Roman kennengelernt. Er war unglaublich und Andrew hat sich sofort in ihn verliebt, fast mehr als ich", schmunzelte Julia. „Roman hat Andrew abends ins Bett gebracht und ihn von der Schule geholt. Er hat ihm beim Modellauto basteln geholfen, ist zu Hause geblieben, wenn er krank war und hat sich zu Weihnachten als Weihnachtsmann verkleidet. Er hat ihm hinter meinem Rücken Schokolade zugesteckt und Fernsehen lassen."

Sie schmunzelte gegen ihren Willen. Obwohl Julia über Andrew sprach und sie Andrew nicht besonders mochte, fand sie die Vorstellung von einem kleinen Kind, das sich über Schokolade und den Weihnachtsmann freute, herzerwärmend. „Aber Roman wollte unbedingt ein eigenes Kind mit mir, auch deshalb, weil ihn seine Mutter sehr dazu gedrängt hat, ein eigenes Enkelkind zu bekommen. Ich habe Roman von Anfang an gesagt, dass ich nicht bereit bin, ein zweites Kind zu bekommen, nach allem, was ich mit Elias durchgestanden habe, solange ich mir nicht wirklich sicher bin, dass es funktioniert und er mich unterstützt. Ich habe mit Andrew die Hölle durch gemacht, als er ein Kind war. Aber Roman war sechsunddreißig und hat sich in den Kopf gesetzt, sofort ein eigenes Kind haben zu müssen. Und nachdem er und seine Familie mich fast acht Monate jeden Tag lang unter Druck gesetzt haben, noch ein Kind zu bekommen, habe ich Roman verlassen." Julias Blick wurde traurig, als sie das T-Shirt gekonnt zusammenfaltete und auf den Küchentisch auf Andrews andere T-Shirts legte. „Andrew hat das ziemlich hart getroffen. Es hat ihm gefallen, auch einen Vater zu haben, wie alle seine Freunde in der Schule. Einen Vater, der ein Vater sein wollte und nicht Elias war. Und der Gedanke an einen kleinen Bruder oder eine Schwester hat ihm auch gefallen."

„Lass mich raten", meinte sie. „Und dann kam Adam, ein Ritter in glänzender Rüstung."

Julia lachte auf und neigte den Kopf. „Wenn es so schnell gegangen wäre, hätte ich mir einiges erspart. Nein, nach Roman habe ich Dominic kennengelernt. Er war in einer Band, oder zumindest dachte er das. Mir hat das gefallen und ich habe mich Hals über Kopf in eine Beziehung gestürzt, die von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Andrew fand es natürlich toll, dass Dominic ihm das Schlagzeug- und Gitarrespielen beibringen wollte. Er hat Andrew sogar eine Gitarre gekauft, die er nie verwendet hat, weil Dominic es ihm nie beigebracht hat. Andrew hat bestimmt gedacht, dass es diesmal anders sein würde, aber unsere Beziehung hat nur ein Jahr gehalten, bevor Dominic mit seiner Band nach Europa reisen wollte, nach Stockholm, und mich gefragt hat, ob wir mitkommen. Das konnte ich natürlich nicht, ich hatte hier meinen Job, meine Freunde, meine Familie, mein Leben. Andrew auch. Und so ist diese Beziehung auch den Bach runter gegangen."

„Wie alt war Andrew?", wollte sie wissen.

Julia dachte nach. „Er muss... etwa zwölf gewesen sein. Vielleicht kurz vor seinem dreizehnten Geburtstag. Nach Dominic habe ich mir geschworen, nicht mehr so leichtsinnig zu sein, schon gar nicht, mit einem Kind im Haus, das durch mein Verhalten bestimmt Beziehungsgeschädigt werden würde. Aber ich, dämlich wie ich bin, habe das Schicksal noch einmal herausfordern müssen. Auf meiner Arbeit im Büro -ich habe eine Stelle bei einer Firma für Wohnungs- und Hausversicherungen bekommen- habe ich Grant kennengelernt. Er war fast fünfzehn Jahre älter als ich und ich habe wirklich geglaubt, dass er die Vaterrolle gut übernehmen könnte, weil er so reif war. Ich habe Andrew gefragt, ob er sich vorstellen kann, dass wir diese ganze Mann-im-Haus-Sache noch einmal versuchen. Er war sehr skeptisch, aber letztendlich einverstanden. Wir sind aus unserer kleinen Zweizimmerwohnung zu Grant gezogen, der in einer Vierzimmerwohnung gewohnt hat. Es war ein idyllisches Familienbild. Er hat genug verdient, sodass ich Teilzeit arbeiten und die restliche Zeit zu Hause verbringen konnte. Ich konnte bei Andrew sein und er hatte endlich den Vater, den er sich so lange gewünscht hat." Sie seufzte und stellte das Bügeleisen zur Seite. „Zumindest dachte ich das. Vierzehn Monate hat es gedauert, bis..." Sie konnte den Ausdruck auf Julias Gesicht nicht deuten, aber sie musste schlucken. Die Hände immer noch in einem schwarzen Paar von Izzys Socken (ihre Schwester besaß nur schwarze Socken), starrte sie Julia an und wartete darauf, dass sie die Geschichte fortführen würde.

„Bis Andrew mir gesagt hat, dass Grant ihn geschlagen hat. Dass er ihn immer geschlagen hat, wenn ich nicht zu Hause war. Andrew hat nicht einmal etwas falsch gemacht -nicht, dass ein Fehlverhalten Grants Reaktion gerechtfertigt hätte! Er hat ihn zu jeder Gelegenheit geschlagen. Wenn er vor dem Fernseher saß, anstatt seine Hausaufgeben zu machen, wenn er das Mittagessen nicht aufgegessen hat, weil er satt war, wenn er vergessen hat, seine Wäsche ins Bad zu bringen, wenn ihm etwas heruntergefallen ist... natürlich hat Grant ihn nur an Stellen geschlagen, an denen es niemand sehen konnte. Sein ganzer Oberkörper war blau... Er war vierzehn!" Julia drückte ihre Fäuste aufs Bügelbrett. Neben Julias Wut auf Grant, erkannte sie die Vorwürfe, die sie sich selbst machte. Die Vorwürfe, die sich auch ihre Mom an den Tagen machte, an denen sie begriff, was sie ihr und Izzy angetan hatte.

„Ich habe Andrew gefragt, warum er nicht früher etwas gesagt hat." Julia schloss die Augen. „Er hat gesagt: Weil du endlich glücklich warst, Mom. Diese Worte verfolgen mich jeden Tag. Er hat ein so unfassbar gutes Herz, dass er in Kauf genommen hätte, dass Grant ihn geschlagen hat, wenn es mich nur glücklich gemacht hätte."

Wer Andrew sein gutes Herz wohl herausgeschnitten hat, dachte sie.

„Was hast du getan?", fragte sie. „Als du es wusstest."

An der angestrengten Art, wie Julia einatmete, erkannte sie, dass es sie Überwindung kostete, das Vergangene wieder aufzurollen.

„Ich habe Grant noch am selben Abend damit konfrontiert. Ich habe ihm gesagt, dass ich ihn verlassen werde. Da hat er mich gepackt und... versucht, mich den Balkon hinunter zu schubsen."

Sie schlug sich die Hand vor den Mund. Ihre Mutter hatte ihr viele schlimme Dinge angetan, ihr und ihrer Schwester, aber ihre Mom hatte nie versucht, sie umzubringen.

Zumindest nicht, wenn sie klar im Kopf gewesen war.

„Andrew hat das alles mitbekommen. Wie wir gestritten haben, gebrüllt, einander geschlagen, wie... Er war es, der die Polizei gerufen hat. Ich habe gegen Grant keine Anzeige erstattet, ich wollte nur ein absolutes Kontaktverbot. Ich hatte gerichtliche Prozesse so satt und wollte einfach nur weg. Eine Zeit lang konnten wir wieder bei meinen Eltern wohnen, bis ich eine Vollzeitstelle gefunden hatte und mir eine eigene, kleine Wohnung leisten konnte. Dir Toilette war auf dem Flur. Ich habe mir geschworen, nie wieder einen Mann in diese Wohnung zu lassen. Nie wieder." Julia schüttelte den Kopf, während ihre Augen vielleicht immer noch sahen, was Grant ihr und Andrew angetan hatte. Dann griff Julia nach einer Jeans, die vielleicht Izzy gehörte, und legte ein Hosenbein aufs Bügelbrett, als sie seufzte.

„Ich war offensichtlich ein Magnet für Unruhestifter und Andrew war schon geschädigt genug. Ich habe es gesehen. Obwohl ich ihn sofort geschnappt und von Grant weggebracht habe, merke ich auch heute noch, dass er mir nicht verziehen hat, es... nicht bemerkt zu haben, denke ich. So geblendet gewesen zu sein von diesem perfekten Leben, das alles andere als perfekt war. Dass er mitansehen musste, dass Grant versucht hat, mich vom Balkon zu stoßen, aus dem fünften Stock! Er hat mir das alles niemals verziehen. Und er wird es vermutlich auch nicht."

Ihr fielen wieder die Socken in ihren Händen auf, aber ihre Finger fühlten sich taub und schwer an. Eigentlich hatte sie die ganze Zeit gedacht, dass Julia ein perfekter Mensch war. Die beste Mutter, die man sich nur vorstellen konnte. Eine Mutter, die sie sich immer gewünscht hatte und es immer noch tat.

„Andrew hat sich von mir distanziert. Er war viel bei Freunden. Er war oft die ganze Nacht lang fort. Ich habe es erlaubt, denn seine Noten haben kaum darunter gelitten, er... er war eigentlich ein guter Schüler."

Sie hob überrascht sie Augenbrauen. Sie hatte nur mitbekommen, dass Andrew sich bei einer Vier glücklich schätzen konnte.

„Als ich Adam kennengelernt habe, habe ich ehrlich nicht einmal im Ansatz gedacht, dass wir jemals zusammen leben, geschweige denn eine Tochter haben würden. Adam war oft dabei, wenn ich mich mit Freunden getroffen habe, weil er ein guter Bekannter und Arbeitskollege meiner besten Freundin war und ist. Ich habe in ihm nur einen netten Kerl gesehen, mit dem man sich gut unterhalten, auch mal zu zweit weggehen kann. Jemand, der mir hilft, die Wände neu zu streichen oder meinen Abfluss repariert. Aber wir haben uns immer öfter getroffen und das hat Andrew irgendwann mitbekommen."

Es war seltsam, die Geschichte zu hören, in der Adam seine neue Familie gefunden hatte, die ihm so viel besser gefiel, als seine alte. Sie konnte ihm das nicht verübeln. Wenn sie sich eine neue Familie hätte suchen können, hätte sie es auch getan.

Wer auch immer behauptet hatte, dass man sich seine Familie nicht aussuchen konnte, war ein kompletter Vollidiot.

Aber sie konnte sich denken, wie die Geschichte zwischen Andrew und Adam weitergehen würde, denn sie hatte eine kleine Schwester, die Andrew ähnlicher war, als die beiden ahnten.

Andrew und Izzy wechselten nie ein Wort miteinander. Sie machten sich ihre gegenseitige Abneigung auf andere Weise klar. Sie hatte Izzy, zum Beispiel, schon dabei erwischt, wie sie seine Zahnbürste ins Klo getaucht hatte und Andrew hatte Izzy einmal, als sie nicht hingesehen hatte, eine Menge Salz in den Tee gestreut. Sie hatte sein Lieblingscappy (das mit derm Logo der New Orleans Saints) in den Mülleimer geworfen, in dem verfaulte Essensreste ihr Unwesen getrieben hatten und er hatte aus ihrem neuen Buch das letzte Kapitel herausgerissen, damit sie es nicht zu Ende lesen konnte und nicht erfahren würde, wer der Mörder gewesen war.

So ging das schon seit Wochen. Sie steckte seine Unterhosen bei sechzig Grad in die Waschmaschine und behauptete dann unschuldig, es nur gut gemeint zu haben, wenn sie zwei Nummern kleiner wieder rauskamen. Er drehte seine Musikboxen direkt an die Wand zu Izzys Zimmer, und spielte auch nach Mitternacht noch irgendeinen Technosound, leise genug, dass er seine Eltern nicht weckte, aber laut genug, um Izzy in den Wahnsinn zu treiben.

„Aus Trotz, oder... was auch immer es war, hat Andrew begonnen, die Schule zu vernachlässigen und dieses Wissensloch, dass er sich zu der Zeit gerissen hat, konnte er nie wieder füllen, deshalb ist er ja auch sitzen geblieben. Er hat alle möglichen Mädchen nach Hause gebracht, mir aber nie eine davon vorgestellt. Die meisten habe ich kaum ein zweites Mal gesehen."

Nachdenklich faltete Julia die Jeans zusammen und legte sie auf den Stapel von Izzys Kleidung. „Manchmal glaube ich, dass er wollte, dass ich mich fühle, wie er sich gefühlt hat. Mit meinen ständig wechselnden Partnern. Ich habe mir mit Adam sehr viel Zeit gelassen. Ich konnte nicht schon wieder eine Beziehung eingehen, es ging nicht. Nicht, weil ich nicht gewollt hätte, denn Adam ist einer der großartigsten Menschen dieser Welt und ich habe ein solches Glück mit ihm."

Sie wandte wieder den Blick ab.

Des einen Glück ist, ist des anderen Leid, dachte sie.

Es tat ihr kaum noch weh, dass sie Adam nicht in ihrem Leben gehabt hatte. Aber es war nicht unbedingt leicht, mit dem Menschen unter demselben Dach zu leben, der sie und ihre Schwester und ihre Mom vor so langer Zeit verlassen hatte, ihr nie eine Erklärung geliefert und sich kaum gemeldet hatte. Zu sehen, wie er heute wie eine Made im Speck lebte und auf seine Gunst und seine Hilfe angewiesen zu sein.

„Ich konnte Andrew nicht schon wieder durch eine meiner Beziehungen schicken, die vielleicht wieder schiefgehen würden. Aber Adam hat gesagt, dass er uns beiden Zeit geben wird, so lange wir brauchen. Ich habe mit Andrew geredet, aber er wollte nicht wirklich auf das Gespräch eingehen, also habe ich Adam irgendwann zum Abendessen eingeladen, damit sich die beiden kennenlernen."

„Ist bestimmt gut gegangen", murmelte sie sarkastisch.

Julia schüttelte den Kopf. „Nein, aber das haben weder Adam noch ich erwartet. Andrew hat sich an jeden meiner Partner geklammert, als wäre er ein Hündchen, das einen Besitzer sucht. Er wollte endlich einen richtigen Vater haben, der mit ihm zum Eishockey fährt, ihm sein erstes Bier ausgibt und mit ihm über Autos redet. Jedes Mal wurde er enttäuscht und Grant hat diese Hoffnung und den Glauben daran, dass er je einen Vater haben wird, völlig zerstört. Obendrein war er ein pubertierender Fünfzehnjähriger mit einem Trauma, das er nie überwunden hat."

Jetzt fühlte sie sich schlecht. Vielleicht war es Schuld und die fühlte sich fehl am Platz an, weil Andrew sie so ungerecht behandelte, aber sie war da. Eigentlich hatte sie gedacht, Adam sei sofort, als er sie zum zweiten Mal verlassen hatte, bei Julia gelandet und hatte sich sein neues Leben hier aufgebaut. Sie fragte sich, was er in den Jahren zuvor gemacht hatte.

„Andrew hat Adam gehasst", fuhr Julia fort. „Wirklich. Er hat ihn sofort verabscheut und von sich gestoßen. Er wollte ihn nicht in unserer Wohnung, er wollte ihn nicht in unserem Leben und wenn ich mich mit ihm getroffen habe, hat er mich so wütend und verachtend und enttäuscht angesehen, dass ich ihn am liebsten einfach nur umarmt und ihm gesagt hätte, dass es mir leidtut, aber er ist jedes Mal auf sein Zimmer gerauscht und hat die Türe zugeschlagen. Das war sein Schutzschild, um nicht wieder verletzt zu werden."

Julia zog das nächste Hemd aus dem Wäschekorb und holte Luft.

„Aber Adam ist nicht gegangen, er ist geblieben. Vier Monate, fünf, sechs. Dann ein Jahr, plötzlich zwei. Wir sind zusammengezogen, obwohl Andrew sich bis aufs Blut gewehrt hat. Auf einmal war da jemand, der ihn zum Eishockey gefahren und ihm sein erstes Bier ausgegeben hat. Einer, der nicht aufgegeben hat, obwohl Andrew ihn deutlich hat spüren lassen, dass er ihn hier nicht haben wollte. Jemand, der nicht zugeschlagen hat, wenn er sich daneben benommen hat, jemand, der immer wieder nachgefragt hat, bis Andrew sich endlich geöffnet hat."

Sie biss unwillkürlich die Zähne zusammen und das nächste Sockenpaar legte sie mit Enttäuschung und Wut zusammen. Sie wünschte, dass Adam sich auch nur halb so viel Mühe bei ihr gemacht hätte. Oder bei Izzy. Aber er hatte es damals nicht getan und tat es auch jetzt nicht.

Was hatte sie falsch gemacht? Sie hatte sich nicht annähernd so schwierig verhalten, wie Andrew. Sie erinnerte sich daran, dass sie Adam immer um den Hals gefallen war, wenn er nach Hause gekommen war. Dass sie ihn nie aus ihrem Zimmer hatte gehen lassen wollen, nachdem er ihr und Izzy eine Geschichte vorgelesen hatte. Sie erinnerte sich sogar daran, dass er jeden einzelnen Abend, egal, ob sie schon geschlafen hatte oder nicht, noch auf ihr Zimmer gekommen und ihr und Izzy einen Gutenachtkuss auf die Wange oder die Stirn oder den Hinterkopf gegeben hatte.

Also, warum hatte er sie verlassen? Was hatte sie falsch gemacht, dass er sich nie wieder gemeldet hatte?

„Ich habe gedacht, Adam wäre schon viel länger bei euch", sagte sie schließlich, um von ihrem Kummer abzulenken.

„Wir sind erst seit einem halben Jahr verheiratet", lächelte Julia. „Es ist vier Jahre her, seit wir uns kennengelernt haben."

Sie legte das letzte Sockenpaar (eines mit Lamas mit Sombrero) in den Korb, stand auf und stellte ihn auf den Küchentisch.

„Wenn Andrew Adam verliert, dann weiß ich nicht, was das mit ihm machen würde, verstehst du?", fragte Julia ernst. „Ich glaube, dass er sich dir gegenüber deshalb so verhält. Adam ist der einzige Vater, den er kennt. Du bist seine leibliche Tochter und er hat Angst, dass du ihm Adam wegnehmen könntest."

Sie lachte bitter auf, obwohl sie es zu unterdrücken versucht hatte. Es war einfach hervorgebrochen. „Da muss Andrew sich keine Sorgen machen. Er ist schließlich nie von Adam verlassen worden, ich schon. Zwei Mal sogar." Sie fand, dass sie undankbar klang und ruderte zurück. „Versteh mich bitte nicht falsch, ich bin euch beiden unheimlich dankbar für das, was ihr für mich und Izzy tut, aber..." Ihr fehlten die Worte. Sie war einfach zu enttäusch und so schön Julias Geschichte für sie und Andrew auch geendet haben mochte, so hatte sie ihren bitteren Beigeschmack.

Julia nickte verstehend und lächelte leise. „Ich verstehe." Dann betrachtete Julia sie einen Augenblick lang. „Möchtest du zu deiner Freundin? Mia? Du hast mir so toll geholfen, den Rest schaffe ich alleine. Ich könnte Andrew bitten, dass er dich fährt."

*

Nachdem ihre Mom so kühn behauptet hatte, dass sie eines Tages wieder würde Eislaufen können, beschloss sie eines trüben Samstagnachmittags, in Sport-BH, Jogginghose und eng anliegendem T-Shirt joggen zu gehen. Ihr Krankenhausaufenthalt war nun schon mehrere Monate her und obwohl sie im Sportunterricht ihr ärztliches Testament vorgezeigt hatte und bei vielen Sachen nicht mitmachen konnte, vermisste sie die körperliche Bewegung. Sie wurde schnell müde, wenn sie ihren Körper nicht regelmäßig bewegte und ihre mentale Leistungsfähigkeit hatte in den letzten Wochen stark abgenommen, aber ihr Ehrgeiz war unerbittlich.

Sie vermisste den Schmerz in jedem Muskel nach einem harten Training. Die Limits, über die sie ihren Körper mit bloßer, geistlicher Willenskraft zwängen konnte. Die wohlige Erschöpfung in ihrem Körper, die nach einer kalten Dusche zu strotzender Energie wurde.

Andrew warf ihr einen abschätzenden Blick zu, als sie in Sportsachen das Haus verließ, aber sie versuchte ihn zu ignorieren und nicht darüber nachzudenken, dass er bestimmt dachte, dass sie nie Sport machte, dass sie meist faul zu Hause herumsaß und nach zehn Minuten völlig erschöpft wieder die Treppen hochschlurfen würde. Diese Gedanken befeuerten sie mit Energie.

Sie stöpselte sich ihre Kopfhörer in die Ohren, schaltete die Playlist ein, die sie immer beim Training gehört hatte und lief langsam los. Sie war lange nicht mehr gejoggt. Langes Gehen war an manchen Tagen schon schmerzhaft (sie dachte an die letzte Shopping-Tour mit Mia zurück, bei der sie nach drei Stunden vorgeschlagen hatte, dass sich die zwei doch in ein Café setzten könnten, weil sie einfach nicht mehr hatte gehen können). Zu laufen, zu joggen, hatte sie seit ihrem Unfall also nicht mehr gewagt.

Sie wusste, dass sie eine Physiotherapie gebraucht hätte. Eine, die länger andauerte, als die acht Stunden, die ihre Mom nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus hatte finanzieren können. Dass sie täglich ein paar Übungen für ihren Rücken und ihr Becken tun sollte, aber sie brachte es nicht über sich.

Leichte Dehn und Kraftübungen erinnerten sie nur daran, wie kaputt ihr Körper heute im Vergleich zu früher war. Dass sie nie wieder das Eis betreten konnte und wenn doch, dann würde sie nur noch den Bruchteil der Leistung erbringen können, die sie einmal erbracht hatte.

Beinahe automatisch fasste sie sich an die Narbe unter ihrem Auge und erhöhte das Tempo. Ihre rechte Hüfte ächzte. Ein brennender, gleißender Schmerz zog sich von ihrem Oberschenkel über die Hüfte bis ins Becken und in den unteren Rücken hinein. Sobald ihr rechter Fuß den Boden berührte und der linke sich abstieß und ihr gesamtes Gewicht auf dem rechten Bein lag und getragen und abgestoßen werden wollte, spürte sie diesen Schmerz, der ihr die Tränen in die Augen trieb.

Sie legte noch einen Zahn zu, hielt bei jedem Schritt vor Schmerz die Luft an.

Sie würde sich nicht von diesem verräterischen Körper unterkriegen lassen. Er sollte sich gefälligst zusammenreißen. Sollte erdulden, was sie ihm zumuten wollte. Sie hatte ihm jahrelang gegeben, was er gebraucht hatte, hatte sich Tag für Tag darum bemüht, ihm alle Vitamine und Mineralstoffe zu geben die er brauchte, genügend Schlaf, genügend Bewegung, genügend Flüssigkeit. Sie hatte nie geraucht, nie Alkohol getrunken, von Drogen ganz zu schweigen und das war der Dank? Dass er sich von diesem einen schicksalshaften Sturz, der sie immer noch in zu vielen Nächten heimsuchte, nicht erholen konnte?

Sie hätte ihren Körper am liebsten angebrüllt und legte in dem wahnsinnigen Gedanken, ihn für seine Unfähigkeit bestrafen zu wollen, noch ein paar Zähne zu, bis der Schmerz so überwältigend war, dass ihr das rechte Bein beim erneuten Auftreten einfach nachgab und sie auf den Boden fiel. Sie fing sich geschickt mit den Händen ab -im Hinfallen war sie gut, das hatte sie auf dem Eis oft genug getan und es war das Erste gewesen, was sie im Unterricht gelernt hatte. Richtig hinzufallen. Trotzdem glaubte sie, dass sie sich das rechte Handgelenk beleidigt hatte.

Tränen brannten ihr in den Augen und ein dicker Kloß bildete sich in ihrem Hals. Ihre Hände waren von den Kieselsteinen aufgekratzt, aber sie blutete nicht. Sie war nur wütend und traurig.

Sie konnte nicht einmal mehr zwei Kilometer laufen, ohne, dass ihr die Muskeln und Knochen und Gelenke versagten. Mühsam kämpfte sie sich auf die Beine und humpelte den Weg zurück nach Hause. Sie schleppte ihr rechtes Bein mehr, als dass sie es benutzte, weil jede Belastung durch die Überreizung in ihrem Becken so schmerzhaft war, dass ihr schwarz vor Augen wurde.

Sie keuchte, als sie sich auf der Veranda fallen ließ und ein Schluchzer brach aus ihr heraus, den sie mit vorgehaltener Hand erstickte. Jetzt wusste sie, warum sie es so lange hinausgezögert hatte, die Grenzen ihres neuen, kaputten Körpers zu testen. Sie hatte Angst vor dem Ergebnis gehabt und es war schlimmer als jede Schulnote, die sie hätte bekommen können.

Sie würde nie wieder eislaufen können.

Andrew sagte kein Wort, als sie sich mit tränenüberströmtem Gesicht und humpelnd und ächzend die Treppen hinauf schleppte.

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