15
Sie hatte bereits ihre alte Schule anstrengend gefunden. Diese hier fand sie einfach nur zermürbend.
In ihrer alten Klasse hatte sie zumindest ein paar lose Freundschaften gehabt, Leute, die sie nicht verabscheut hatte. Hier kannten sich alle seit Jahren und sie war die Neue.
Auch nach ein paar Wochen gab es niemanden, der sich für sie interessierte und sie fürchtete sich bereits vor den ersten Partner- und Gruppenprojekten.
Gestern war sie noch lange wach gewesen und hatte Motive für ein Bild, das sie sprayen wollte, sobald Justin sie wieder einmal abholen würde, gezeichnet. Ihr Kopf war so voller Ideen gewesen, dass ihr schlafen unmöglich erschienen war.
Dafür war sie jetzt in der Schule unfassbar müde. Wenigstens hatte sie Mathe. Das einzige Fach, in dem der Lehrer, Mr. Teakin, erträglich war. Er redete gerade über die technische Verwendung von hyperbolischen Paraboloiden. Dieses Thema sollte erst nächstes Jahr behandelt werden, aber einer der Klassenklugscheißer war über den Begriff eines Paraboloids gestolpert und Mr. Teakin ging gerne auf Fragen seiner Schüler ein.
„Keiner?" Er grinste. „Dabei sehe ich sie euch doch immer während dem Unterricht heimlich essen."
Die Klasse lachte und der Junge, Felix, den sie schon in ihrer ersten Woche als den Klassenclown identifiziert hatte, warf Mr. Teakin eine Dose der Chips zu, die er geschickt auffing, öffnete und einen Kartoffelchip herausholte.
„Seht ihr? Die perfekte Form. Warum ist das so? Weil sie unfassbar stabil ist. Sie zerbrechen nicht so leicht, wie wenn sie gerade wären."
Sie legte ihre Fäuste übereinander auf den Tisch und ihr Kinn darauf. Sie schloss die Augen und hörte, wie Kreide über die Tafel glitt. Es kratzte und ihr fuhr ein unangenehmer Schauer über den Rücken.
Die ganze Stunde redeten sie darüber, warum Pringles die perfekte, unkaputtbare Form hatten. Sie gingen die Formel für das hyperbolische Paraboloid durch. Und als noch etwas Zeit war, beschrieb Mr. Teakin auch noch die Formel eines elliptischen Paraboloids.
„Elliptische Paraboloide sieht man häufig als stylische Überdachung von Gebäuden." Wieder lachten alle.
Die ganze Klasse hing an seinen Lippen, nur sie nicht. Gedanklich war sie schon beim nächsten Fach und beim nächsten und beim nächsten und dann in ihrem Bett, um zu schlafen.
Die Glocke kündigte die Pause an, sie öffnete sie Augen und alle packten ihre Sachen zusammen.
„Gut, die Hausaufgaben sind am Montag abzugeben, nicht vergessen!", rief er. Er gab ihnen die Hausaufgaben immer am Anfang der Stunde auf, damit er nicht darauf vergaß und sie am Ende der Stunde noch hektisch ansagen musste. Und auch, damit seine Schüler nicht ihre Pause damit vergeuden mussten, die Beispiele zu notieren. Er hatte noch nie seine fünfzig Minuten überzogen. Wenn es sein musste, hörte er mitten im Satz auf, das alleine genügte ihr, um ihn sympathisch zu finden.
Doch die Sympathiepunkte, die sie ihm zugestanden hatte, verschwanden, als er sie aufrief und bat, noch einen Augenblick zu bleiben. Sie bemerkte das Getuschel der übrigen Schüler, die sich auf den Weg nach draußen machten und vielleicht fragten, was Mr. Teakin wohl von ihr wollte.
Sie wusste genau, was er von ihr wollte. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen. Sie hatte die Hausaufgaben nie vollständig abgegeben, aber das war auch nie ihre Schuld gewesen. Entweder hatten sie heftige Schmerzen überkommen, sodass sie sich hatte hinlegen müssen, oder sie war zu müde gewesen oder etwas Anderes war einfach spannender gewesen.
Bisher hatte Mr. Teakin nichts dazu gesagt, nur einmal hatte er unter eines der schwierigeren Beispiele mit rotem Stift geschrieben: Interessanter Lösungsweg. Daneben hatte er ein Smiley gemalt.
Sie hatte den Zettel zu Hause in den Papierkorb geworfen.
Als sich der Klassenraum geleert hatte, setzte er sich an die Tischkante. Er konnte noch keine dreißig sein, dachte sie. Sie erkannte kein graues Haar in der braunen, kurzen Mähne, sein Bart musste heute Morgen wegrasiert worden sein und die Uhr, die auf seinem Handgelenk unter dem hellblauen Hemd hervorblitzte, war bestimmt keine Designeruhr, nur eine schlichte mit weißem, abgetragenem Stoffband.
Vielleicht konnte er mit seinen Schülern deshalb so gut umgehen, dachte sie. Weil er sich besser mit ihnen identifizieren konnte. Weil es noch gar nicht so lange her war, dass er selbst die Schulbank gedrückt hatte.
Er lächelte und kleine Fältchen bildeten sich um seine Augen.
„Darf ich fragen, wie es dir hier an unserer Schule geht?"
Er klang freundlich, aber sie steckte nur die Hände in die Bauchtasche ihres schwarzen Hoodies und zog die Schultern hoch. Sie wusste, wie fertig und müde sie aussah und es gab keine Möglichkeit, dass Mr. Teakin es übersah. Bestimmt dachte er, dass sie zu den Schülern gehörte, die jeden Abend auf Partys waren. Wenn sie mit Make-up etwas hätte anfangen können, dann hätte sie sich die Augenringe bestimmt weggeschminkt, aber sie hatte nur einmal vor drei Jahren an Halloween dunkles Make-up getragen. Das Schminken überließ sie, wie so viele andere Dinge, lieber ihrer großen Schwester.
„Ich habe eine Frage", fuhr er fort, als sie nicht antwortete. „Mir ist aufgefallen, dass du die Aufgaben, die ich euch für zu Hause gebe, nie vollständig machst. Aber du machst immer jene Beispiele, mit den ungünstigsten Zahlen. Die schwierigsten, würde manch einer sagen." War es Neugierde, die sich in seinem warmen Blick spiegelte? „Ich habe mich gefragt, wieso das so ist?"
Sie wusste nicht, was sie antworten sollte, also zuckte sie wieder nur stumm mit den Schultern, in der Hoffnung, dass er sie so bald wie möglich aus diesem Klassenraum entlassen würde.
Er rutschte von seinem Schreibtisch und umkreiste ihn einmal. „Weißt du, ich hatte vor... einem Jahr einen Schüler mit ähnlichem Verhalten. Er hat nur die schwierigsten Beispiele gelöst, niemals alle. Und bei seinen Klausuren hatte er immer die volle Punktezahl. Ich weiß nicht, wie deine Klausuren aussehen werden, wir hatten noch keine, aber ich könnte mir vorstellen, dass sich das Muster vervollständigt."
Er zog die Schreibtischschublade auf und holte ein Mathebuch heraus. Es war das für die zehnte Klasse. Eine Klasse über ihr. Er hielt es ihr hin und sie zögerte einen Augenblick, bevor sie es entgegen nahm.
Er setzte sich wieder auf die Tischkante. „Weißt du, im Lehrerzimmer reden sie viel über dich. Über dich und deine Schwester. Ich unterrichte auch Hannah und muss sagen, was Motivation und Ordentlichkeit angeht, ist sie dir um Längen voraus. Ich habe schon lange nicht mehr so bunte und feinsäuberlich geschriebene Hausaufgaben bekommen." Sie mied seinen Blick, weil sie wusste, dass ihre Schwester eine wunderschöne Handschrift hatte. Hannah schrieb mit Feder und jedes Wort war schön geschwungen und filigran. Wichtige Dinge unterstich Hannah mit bunten Highlightern und die Ergebnisse ihrer Matheaufgabe ringelte sie mit farbigen Finelinern ein.
Sie schrieb mit einem einzigen blauen Kugelschreiber und wenn sie in Eile war, konnten ihre Lehrer froh sein, wenn sie ihre u's und n's und w's noch auseinanderhalten konnten.
„Aber Hannah macht auch Fehler", fuhr er fort. „Ich habe dich noch nie einen Fehler machen sehen und frage mich, woran das liegt. Du lernst auch keine Formeln auswendig, du leitest sie ab, was mir sagt, dass du sie verstehst." Sie betrachtete den blauen Umschlag des Mathebuchs und fragte sich, worauf Mr. Teakin hinaus wollte. „Die anderen Lehrer sagen, dass Hannah ein echter Gewinn für unsere Schule ist und sich den Platz als Jahrgangsbeste verdienen wird. Über dich sagen sie das genaue Gegenteil."
Sie verzog in einem bitteren Lächeln die Lippen. Natürlich erzählten sich die Lehrer, dass sie eine faule Versagerin war, warum hätten sie auch etwas anderes sagen sollen? Genauso war es schließlich. So war es schon immer gewesen. Die Leute sahen Hannah und waren begeistert. Sie erwarteten von ihrer kleinen Schwester ähnlich hohes Potential und wurden jedes Mal bitter enttäuscht.
Mr. Teakin deutete auf das Buch. „Ich bin anderer Meinung. Ich weiß zwar nicht, wie du dich in den restlichen Fächern schlägst, aber ich glaube nicht, dass es Faulheit ist, die dich nur die Hälfte der Matheaufgaben lösen lässt, sonst würdest du die einfachen Beispiele wählen, die weniger Zeit in Anspruch nehmen, nicht die komplizierten." Als er nicht weiterredete, sah sie auf und merkte, dass er sie eingehend ansah. „Ich glaube, es ist Talent."
Talent. Noch nie hatte jemand von ihr behauptet, dass sie Talent hatte. Höchstens Justin, Cassy und Riley, wenn sie wieder etwas Großartiges gesprayt hatte.
Aber in der Schule? Sie schaffte es jedes Jahr mit Ach und Krach versetzt zu werden und das vermutlich nur, damit sich ihre Lehrer nicht noch länger mit ihr rumschlagen mussten.
„Ich will, dass du dir das erste Kapitel durchließt", sagte er. „Versuch, es alleine zu verstehen, löse ein paar Beispiele und wenn du Fragen hast, kannst du am Montag gerne zu mir kommen." Die Verwirrung musste sich in ihrem Blick widergespiegelt haben. „Das ist deine Hausaufgabe übers Wochenende."
„Was ist mit den anderen Beispielen?", fragte sie und es war vermutlich das erste Mal, dass Mr. Teakin ihre Stimme hörte, denn er sah beinahe überrascht aus.
In den Stunden hatte er sie nie aufgerufen. Er nahm nur Freiwillige dran. Und sie gehörte nicht zu den Freiwilligen. Sie gehörte zu den stillen Beobachtern und Aufpassern, aber außer Mr. Teakin duldetet das kein anderer Lehrer. Sie meinten, stille Schüler, seien unmotivierte und faule Schüler. Die anderen Lehrer schienen es zu lieben, ihr Fragen zu stellen, die sie nicht beantworten konnte und sie an die Tafel zu holen, wenn sie nicht antwortete, damit sie sie vor der ganzen Klasse bloßstellen konnten.
In Mr. Teakins Klasse hatte sie sich immer wohl gefühlt. Weniger bedroht. Fast schon sicher. Heute war das erste Mal, dass er mit ihr sprach und kein anderer war dabei, was vielleicht ein Mitgrund war, warum sie etwas gesagt hatte.
Er lächelte. „Die hättest du sowieso nur zur Hälfte gemacht."
Sie war sich immer noch nicht sicher, was Mr. Teakin damit bezwecken wollte, aber er deutete auf die Türe. „Ich hab dich lange genug aufgehalten. Du solltest gehen, sonst ist die komplette Pause rum. Danke, für deine Zeit."
Den restlichen Tag über dachte sie nur an das Mathebuch in ihrer Tasche. Als sie zu Hause war, spielte sie mit dem Gedanken, Mr. Teakins Aufgabe für sie einfach zu ignorieren. Sie war sich nicht einmal sicher, ob er ihr andere Aufgaben als den übrigen Schülern geben durfte.
Aber er war so freundlich gewesen. Seine Worte wollten ihr nicht aus dem Kopf gehen. Ich glaube nicht, dass es Faulheit ist. Ich glaube, es ist Talent. Sie verursachten ein seltsames, nie dagewesenes Gefühl in ihrer Brust. Nie hatte ihr jemand mehr zugetraut, als sie bisher geleistet hatte. Die meisten Leute trauten ihr weniger zu.
Und obwohl sie bis zum Abendessen hin versuchte, das Buch zu ignorieren, das sie nicht aus ihrer Tasche geholt hatte, brannte es ihr unter den Fingernägeln, einen Blick auf das erste Kapitel zu werfen. Aber gleichzeitig machte sich noch ein anderes unbekanntes Gefühl in ihr breit.
Die Angst, Mr. Teakin zu enttäuschen. Er glaubte, dass sie gut genug war, um Beispiele aus der Schulstufe über ihr lösen zu können. Dass sie sich ein ganzes Kapitel selbst beibringen konnte.
Das war mehr, als irgendjemand jemals von ihr erwartet hatte.
Was, wenn sie es nicht konnte? Dann war das der Beweis, dass alle anderen recht hatten. Dass sie faul und dumm und unbelehrbar war. Dass sie keinen guten Abschluss bekommen und auf kein College gehen würde, nicht, dass sie das sonderlich interessiert hätte.
Beim Abendessen fragte Julia wie immer reihum, wie der Tag gelaufen war und sie zuckte ihrerseits nur mit den Schultern und murmelte ein: „Wie immer."
Niemand fragte nach und sie war froh darüber, wieder unsichtbar zu sein.
Nach dem Essen setzte sie sich kurzerhand an den Schreibtisch und klappte das Mathebuch doch auf.
Kapitel eins, Algebra. Lineare Ungleichheiten. Sie las ein bisschen in dem Kapitel, studierte die vorgerechneten Beispiele und probierte sich schließlich an ein paar leichten Rechenbeispielen. Alles, was sie rechnete, schrieb sie auf ein kariertes Blatt, an dessen linker, oberer Ecke ihr Name stand. Schon nach dem zweiten Beispiel ging ihr auf, dass sie das Prinzip verstand und ging zu den jeweils letzten Beispielen, die immer die schwierigsten waren.
Es war Mitternacht, als sie das Buch zuklappte und sie hatte sechs Blätter beschrieben. Vorder- und Rückseite. Alles voll mit Rechenbeispielen.
Sie war zufrieden. Ein Gefühl, dass sie in Bezug auf die Schule schon lange nicht mehr empfunden hatte. Aber sie hatte getan, worum Mr. Teakin sie gebeten hatte, was er nun damit anfing, blieb abzuwarten.
*
Als sie vierzehn gewesen war, hatte ihre Mutter sie für drei Wochen in ein Camp für schwer erziehbare Kinder gesteckt. Das Camp hatte sich Sunflower-Camp genannt und hätte eher darauf schließen lassen, dass es Achtjährigen das Reiten auf Ponys beibrachte.
Auf dem Prospekt, das ihre Mom von Izzys Klassenlehrerin bekommen hatte, waren lustige Freizeitaktivitäten angepriesen gewesen. Malkurse, Wassersport, ein Pferdestall in der Nähe und (sehr zu ihrem Missfallen) Gruppen- und Einzelgesprächstherapien. Das Ganze hatte ihre Mutter genügend Geld gekostet, sodass sie ihren Bruder um Kohle angebettelt hatte, um ihre Tochter für ein paar Wochen loszuwerden.
Sie hatte sich gefreut. Ein paar Tage weit weg von ihrer Mutter und ihrer Schwester mit völlig neuen Menschen, die sich noch keine Meinung über sie gebildet hatten. Vielleicht würde sie dort ihre Ruhe haben. Vielleicht gab es dort normale Therapeuten, die ihr helfen konnten, mit ihren oftmals unkontrollierbaren Stimmungsschwankungen umzugehen. Mit ihrer manchmal so intensiv aufkeimenden Wut, dass sie sich fühlte, als würde sie explodieren, wenn sie nicht etwas kaputt machte. Etwas Großes umstieß, wie den Kühlschrank oder den Tisch. Damit etwas kaputt ging. Etwas anderes als sie.
Damals hatte sie sich noch nach Hilfe gesehnt, heute war ihr bewusst, dass es keine Hilfe für sie gab. Ihre Zündschnur war eben verdammt kurz und hin nun einmal an mehreren Stangen Dynamit.
Obwohl sie die Tatsache genervt hatte, dass ihre Mom sie loswerden wollte, war sie nicht allzu wütend über die Umstände gewesen und hatte sogar ein wenig vorfreudig die Tasche gepackt.
Dass das Sunflower-Camp den falschen Namen für sich gewählt hatte, hatte sie nicht ahnen können. Es war ein absolutes Höllencamp gewesen und die drei Wochen in den Sommerferien durchzustehen, hatte sie alles gekostet.
Schon, als ihre Mom und Hannah in dem Auto wieder davon gefahren waren und sie die Mitarbeiter gesehen hatte, hatte sich in ihr das Gefühl breit gemacht, dass dieser Ort eher einem Gefängnis glich, als einem spaßigen Camp. Sie alle waren unfreundlich und grob gewesen und hatten eine solch negative, hasserfüllte Ausstrahlung, gehabt, dass sie sich instinktiv aufsässig hatte verhalten wollen. Sie hatte ihre Klauen ausfahren wollen, um sich zu schützen.
Die ersten Stunden war das nicht nötig gewesen. Sie war in einen langen, farblosen Flur mit etlichen weißen Türen geführt worden, mit den Zahlen eins bis zehn. Am Ende des Flurs führten Treppen nach oben und einmal hatte sie die anwesenden Kinder gezählt. Es waren achtundzwanzig gewesen.
Die dicke, blonde Frau und der große, hagere Kerl hatten sie in das Zimmer mit der neun geführt, hineingeschoben und die Türe hinter ihr abgeschlossen.
Es war ein karger Raum gewesen, ohne Fenster, nur ein Bett mit einer viel zu harten Matratze, ein flacher Polster und eine dünne Decke waren in dem Raum gewesen und gegenüber davon ein dunkler Kleiderschrank aus Holz. Das kalte Licht von den Röhrenleuchten an der Decke hatte den Raum noch einsamer wirken lassen.
Sie hatte ihre Tasche abgestellt und in ihrem ersten Instinkt nach ihrem Handy gegraben, bis ihr eingefallen war, dass sie ihres gar nicht dabei hatte. Handys waren verboten gewesen. Es hatte nur ein Telefon in dem ganzen Gebäude gegeben, das man einmal die Woche für fünfzehn Minuten hatte nutzen dürfen. Sie hatte sich dafür extra Hannahs und Justins Handynummer auf den Unterschenkel geschrieben. Justins Nummer war ein wenig verschmiert gewesen, aber sie hatte die Zahlen noch erkennen können, einen Kugelschreiber aus ihrer Tasche gezogen und weil sie kein Papier in dem Zimmer gefunden hatte, hatte sie die Nummern klitzeklein an die Wand neben dem Bett gekritzelt.
Weil sie sonst nichts zu tun gehabt hatte, hatte sie erst einmal die Kleidung, die sie eingepackt hatte, in den Schrank geräumt, ihr Buch herausgekramt, sich auf die harte Matratze gelegt, dessen Federn sie bei jeder Bewegung in ihrem Rücken gespürt hatte, gelesen und abgewartet.
Sie war längst mit dem Buch fertig gewesen und hatte sich zwei Pullover angezogen, weil es so kalt gewesen war, als sie das Klicken des Türschlosses gehört hatte und die dicke, unfreundliche Frau hereingesehen hatte.
„Abendessen", hatte die Frau gebrummt und sie hatte sich vorsichtig wie ein wachsames Tier bewegt, als sie aus dem Zimmer getreten war. Es war das erste Mal gewesen, dass sie ein paar der anderen Kinder gesehen hatte. Die meisten hatten nicht älter als siebzehn gewesen sein können und nicht jünger als zwölf. Alle waren von der dicken Frau und einer anderen kleinen Frau mit schwarzen Haaren, die sie im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, aus den Zimmern geklopft worden.
„Hey." Jemand hatte sie an der Schulter berührt und sie war so heftig zusammengezuckt, dass sie gegen die Wand getaumelt war, bevor sie in die schönsten blauen Augen geblickt, die sie je gesehen hatte.
„Sorry, wollte dich nicht erschrecken", hatte der Junge gemeint und war ein Stück von ihr abgerückt. Sie hatte nur die Augenbrauen ein Stück zusammengezogen, eine Mimik, die sie sich angewöhnt hatte, weil sie wusste, dass die meisten Leute sie dann in Ruhe ließen.
Doch dieser Kerl nicht. Er hatte seine Hände in die Hosentaschen geschoben und sie angestarrt.
„Neu hier, oder?", hatte er gefragt. Sie hatte sich umgedreht und war in die Richtung gelaufen, in die die anderen Kinder auch gegangen waren, in der Hoffnung, zu etwas Essbarem zu gelangen. Seit dem Frühstück hatte sie nichts mehr gegessen gehabt und ihr Magen hatte geknurrt.
„Ich bin Ryan." Er war neben ihr hergegangen. „Da ich nicht vermute, dass dich hier ein anderes Willkommenspaket erreicht hat, als das übliche, setze ich dich mal ins Bild."
Sie hasste es, ungebeten vollgelabert zu werden, aber weil ihre Mentalität schon damals Ignoriere-es-dann-verschwindet-es gewesen war, hatte sie nichts gesagt.
„Es gibt Regeln hier. Sie sagen dir die Regeln nicht, aber es gibt sie und wenn du dagegen verstößt, wirst du bestraft."
Bestraft.
Das Wort war unwirklich in ihrem Kopf widergehallt. Das hier war doch kein Gefängnis, hatte sie gedacht.
„Eine der Regeln ist, dass du dich aus Prügeleien raushalten sollst. Sollte dir nicht schwerfallen. Du siehst nicht gerade wie ein Schlägermädchen aus. Du bist klein. Was hast du verbrochen, dass deine Eltern dich hier her geschickt haben?"
Mittlerweile waren sie im Speisesaal angekommen. An einer Seite hatten sich die Kinder wie in der Schulkantine mit Tabletts und leeren Tellern und Besteck aufgereiht, um von den beiden Mitarbeitern hinter der Theke ihr Essen serviert zu bekommen. Sie hatte sich umgesehen, aber nirgends entdecken können, wo sie alle die Tabletts und das Geschirr gefunden hatten.
„Komm mit, da hinten sind die Teller", hatte Ryan gemeint und war vorausgegangen. Zögerlich war sie ihm gefolgt. Sie hatte keinesfalls den Eindruck erwecken wollen, dass sie seine Hilfe brauchte oder wollte.
Als sie noch immer nichts gesagt hatte, selbst, als beide in der Schlange gestanden hatten, er direkt hinter ihr, hatte sie gehofft, er würde sie in Ruhe lassen.
„Die zweite Regel ist, dass du besser auf das hörst, was sie dir sagen. Tu es am besten ohne Widerworte, sonst bereust du es noch. Oh, und heute ist Montag, das heißt, es gibt Grießbrei zum Abendessen. Falls du Grießbrei magst, kann ich dich nur enttäuschen. Der hier schmeckt, als hätten sie alte Zeitung mit Wasser in den Mixer getan und mit Zucker verfeinert. Aber du musst es essen, sonst kriegst du Ärger."
Als die Pampe auf ihrem Teller gelandet war, hatte sich Ryans Vorhersage bestätigt. Die langen Klapptische mit den Holzbänken waren schon fast vollständig besetzt gewesen und ihr war nichts anderes übrig geblieben, als sich neben ein Mädchen mit Piercings zu setzen, das etwa in ihrem Alter gewesen war. Ryan hatte sich auf ihrer anderen Seite niedergelassen und gegenüber von ihr hatte ein blasser, runder Typ mit schwarzem Cappy und Doppelkinn gesessen.
Sie hatte versucht, sich nur darauf zu konzentrieren, das pampige Essen hinunterzuwürgen, weil sie vor Hunger fast umgekommen war, aber jedes Mal, wenn sie hatte schlucken wollen, hatte bei ihr fast der Würgreflex eingesetzt. Diese Pampe war widerlicher gewesen als das Mikrowellenfutter, das ihre Schwester immer nach Hause brachte, wenn ihre Mutter wieder einmal nicht aus dem Zimmer kommen wollte.
„Was die Mitarbeiter angeht", war Ryan fortgefahren und sie hatte genervt ihren Löffel auf die Tischplatte scheppern lassen. Für sie hatte es kaum jemals etwas Schlimmeres gegeben, als nicht ihre Ruhe zu haben, nicht in ihren Gedanken bleiben zu dürfen, wenn sie es am dringendsten brauchte. Und dieser Ryan schien nicht nur eine lange, schlaksige Latte mit einer Narbe am Kinn zu sein, sondern auch unfassbar nervig und quasselig.
„Halte dich an den großen, dürren Kerl hinter der Theke. Sein Name ist Freddy. Er ist richtig nett zu uns allen. Und Jessy. Ich zeige ihn dir, wenn ich ihn das nächste Mal sehe." Sie hatte ihn genervt betrachtet. Er hatte sich vorgebeugt und wären seine Augen aus Glas gewesen, hätten sie ihr in diesem Moment in die Haut schneiden können.
„Eine Sache noch: Komm nicht auf dumme Gedanken. Hier gibt es keine Kameras. Keine Handys. Wenn sie dich bestrafen und zu weit gehen, gibt es keine Beweise. Dann steht dein Wort -das Wort einer Schwererziehbaren- gegen ihres. Halte dich einfach aus Schwierigkeiten raus."
Er hatte sich zurück zu seinem Essen gedreht und die Pampe so schnell ausgelöffelt, dass ihr alleine beim Zusehen schlecht geworden war und dann ein Glas Wasser hinuntergekippt, vielleicht, um den widerlichen Geschmack der Pampe loszuwerden. Ihr war der Appetit vergangen und sie hatte den Teller von sich geschoben, gerade, als sich ein Schatten über sie gebeugt hatte.
„Wieso isst du nicht?", hatte eine tiefe Stimme hinter ihr gebrummt. Sie hatte sich nicht umgedreht, aber sie hatte die Anspannung und das Unwohlsein in den Augen des Jungen bemerkt, der ihr gegenübergesessen und doppelt so schnell weiter gegessen hatte.
Sie hatte die Arme verschränkt und die Lippen aufeinander gepresst. Was für ein Spiel hier auch immer gespielt worden war, sie hatte nicht vorgehabt, es mitzuspielen. Schon gar nicht würde sie etwas essen, das ihr den Magen schlimmer verderben würde, als wenn sie gar nichts gegessen hätte.
„Hey, Mädchen, ich habe dich was gefragt!", hatte der Kerl geknurrt und der Junge mit dem Cappy hatte ihr unter dem Tisch hastig gegen das Schienbein getreten, aber sie war stumm geblieben. Sie hatte die Blicke aller Kinder in dem Raum auf sich gezogen. Es war mucksmäuschenstill geworden und keiner hatte es gewagt, Aufmerksamkeit durch ein Geräusch oder eine Bewegung auf sich zu ziehen.
„Denkst du, hier kommst du mit deinem sturen Benehmen durch?" Erst als er nach ihrem Arm gegriffen und sie von der Holzbank hochgezogen hatte, sodass sie gestrauchelt und beinahe auf den Boden gefallen war, hatte sich ihre Wut entfacht, die seit einigen Stunden in ihr gebrodelt hatte. Eine explosive Waffe, ein angsteinflößender Zustand, in dem sie nie Angst verspürte, auch nicht wusste, was Recht und Unrecht war, nur Zorn. Heißen, brodelnden Zorn und ein Gefühl des Hasses, als könne sie die ganze Welt niederbrennen.
„Fassen Sie mich nicht an!", hatte sie so laut gebrüllt, dass nicht nur die anderen Kinder, sondern auch der Mann mit der Glatze, der sie festgehalten hatte, zusammengezuckt waren. Mit einem kräftigen Ruck hatte sie dem Mann gegen das Bein getreten, sodass er sie mit einem wutentbrannten, schmerzerfüllten Laut losgelassen hatte.
Justin hatte ihr früh beigebracht, sich körperlich zu wehren und zu verteidigen und wenn sie sich nicht zusammengerissen hätte, hätte sie vielleicht begonnen, mit Fäusten auf den Mann einzuschlagen. Sie war so wütend gewesen, dass sie geglaubt hatte, ihr Herz würde ihr aus der Brust springen und damit sie nicht in Versuchung hatte kommen können, den Teller zu nehmen und ihm den restlichen Brei ins Gesicht zu klatschen, war sie aus dem Speisesaal gerauscht.
*
Am Montag gaben alle andern Schüler in Mathe nur ein einziges Blatt ab und sie alle sechs, womit sie sich ein leises Lächeln von Mr. Teakin verdiente, und am nächsten Tag bat er sie, erneut nach der Stunde einen Augenblick zu bleiben.
„Vielleicht vögelt sie ihn", flüsterte Rebeca ihrer Freundin zu, deren Name sie immer noch nicht kannte, weil sie nie ein Wort sagte, aber jetzt atmete das Mädchen gespielt schockiert auf und legte sich eine Hand an die Brust. Sie war nicht hübsch, aber Rebeca war es und vermutlich war das der Grund, warum ihre Freundin alles tat was Rebeca wollte und bei allem mitmachte, was Rebeca anstellte.
„Nein!", rief das Mädchen aus. Es hatte abstehende Ohren und erinnerte sie ein wenig an einen Affen. Sie hatte das Mädchen schon darüber reden hören, dass es sich mit achtzehn einer Ohrenoperation unterziehen wollte und ihre Eltern sich jetzt schon nach den besten Ärzten umsahen.
Die Gentrifizierung dieses Ortes führte offensichtlich dazu, dass die reichen Leute die armen verdrängten, dachte sie.
„Natürlich." Rebeca schenkte ihr im Vorbeigehen ein Lächeln, das giftiger war als jede Schlange aus dem Amazonas. „Einer wie ihr würde ich das durchaus zutrauen." Sie hielt Rebecas Blick stand, aber das beeindruckte das blonde Mädchen nicht.
Mr. Teakin bekam davon nichts mit, sondern sortierte seine Unterlagen und sie war froh, als die beiden Mädchen den Raum mit allen anderen verlassen hatten. Sie umklammerte den Riemen ihrer Schultasche, als sie nach vorne zu Mr. Teakin ging.
Was er ihr wohl über die Aufgaben, die sie gelöst hatte, sagen würde?
„Langweilt es dich?", fragte er, während er mit einem Tuch die Tafel säuberte. Sie verstand die Frage nicht, aber Rebecas Kommentar hallte noch in ihrem Kopf nach und sie konnte sich nicht ganz von den Gedanken daran lösen, also schwieg sie. Er drehte sich zu ihr. „Der Matheunterricht aus der Neunten. Langweilt er dich?"
Er legte das Tuch zur Seite und griff nach ein paar Zetteln, die auf seinem offenen Buch lagen und hielt sie ihr hin. Es waren ihre Hausaufgaben und als sie danach griff, um sie eingehender zu betrachten, sah sie die vielen roten Häkchen neben jeder einzelnen Aufgabe, die sie gelöst hatte.
„Ich habe zumindest noch nie so viele Aufgaben von dir erhalten", lächelte er. „Nicht einmal, wenn ich alle zusammenrechne, die du in diesem Jahr bisher abgegeben hast. Deswegen frage ich dich: Liegt es daran? Langweilt es dich?"
„Wieso fragen Sie?" Sie war sich nicht sicher, wie sie seine Frage beantworten sollte. Sie war sich nicht sicher, ob sie seine Frage beantworten sollte.
Er ordnete die Bücher und ein paar Arbeitsblätter und steckte sie vorsichtig in seine Tasche. „Nun, wenn du mir sagen würdest, dass der Unterricht zu leicht ist, würde ich dich im Gegenzug fragen, ob du in Mathe in die Zehnte möchtest. Ob du diese Klasse überspringen willst." Sie blieb stumm. „Und wenn du Ja sagen würdest, würde ich zum Direktor gehen und deine Eltern kontaktieren und um ihr Einverständnis bitten."
Meine Eltern, dachte sie und hätte beinahe gelacht. Ihre Mutter hätte das nie geglaubt und ihr Vater wäre überraschter darüber gewesen, dass er eine fünfzehnjährige Tochter hatte.
Mr. Teakin zog den Reißverschluss seiner Tasche hoch. „Aber die Entscheidung liegt bei dir." Er schien auf eine Antwort zu warten, die sie ihm nicht geben konnte. Sie war zu überrumpelt und schließlich nickte er. „Du kannst in Ruhe darüber nachdenken und mit deinen Eltern reden. Wenn du dich entschieden hast, gib mir einfach Bescheid. Es ist ein Angebot, das ich dir mache, aber du musst es nicht annehmen. Ich würde verstehen, dass es vielleicht zu stressig ist, an einer neuen Schule eine Klasse zu überspringen, um dich mehr anstrengen zu müssen." Er lächelte. „Wenn ich die Wahl hätte, würde ich mich auch für Freistunden, weniger lernen und glatte Einsen entschieden. Es liegt bei dir."
Er hatte es eilig und wollte den Klassenraum schon verlassen, aber sie hielt ihn zurück.
„Brauche ich denn das Einverständnis meiner Eltern?" Sie war sich nicht sicher, ob sie sein schräges Angebot annehmen wollte, aber es gefiel ihr nicht, dass ihre Zukunft offensichtlich so stark von anderen Personen abhing. Sie hasste es, abhängig von Erwachsenen zu sein, die sich nie um sie geschert hatten. Das war nicht fair. Sie hatte nicht danach gefragt oder darum gebeten.
Mr. Teakin drehte sich zu ihr. „Du bist noch nicht achtzehn, daher ja." Sie wandte den Blick ab. „Ist das ein Problem?"
Sie wollte ihm nicht erzählen, dass ihre Mutter in einer psychiatrischen Anstalt saß und sie ihren Vater nie kennen gelernt hatte -nicht einmal seinen Namen kannte. Ihre Mutter hatte nie über ihn geredet. Sie hatte sich zu sehr für ihn geschämt, so wie sie sich für ihre jüngste Tochter schämte.
„Wer ist für dich verantwortlich?", fragte er und drehte sich wieder mit seinem ganzen Körper und Aufmerksamkeit zu ihr. Erst als sie aufsah merkte sie, dass sie den Blick gesenkt und den Kopf hatte hängen lassen.
„Der Vater meiner Schwester", sagte sie leise und wollte den Ausdruck auf seinem Gesicht nicht sehen. Falls er verwundert war, ließ er sich nichts anmerken.
„Andrews Stiefvater?", hakte er nach und sie konnte sich seine Verwirrung nur vorstellen. Sie nickte. „Ich habe ein paar Mal mit ihm wegen Andrews Noten geredet, besonders, als Andrew sitzen geblieben ist. Er schien mir wie jemand, mit dem sich gut reden lässt."
Das konnte sie nicht beurteilen. Seit sie bei ihm wohnte, hatte sie vielleicht fünf kurze Konversationen mit ihm gehabt, die sich auf einsilbige Antworten ihrerseits beschränkt hatten.
„Denk einfach drüber nach", sagte er, bevor er aus dem Klassenzimmer verschwand.
Sie dachte darüber nach. Jeden Tag blätterte sie in dem Buch und überlegte, ob sie Mr. Teakins Angebot annehmen sollte. Alle wären überrascht gewesen, ihre Schwester vielleicht am meisten und es wäre eine tolle Gelegenheit, Hannah zu zeigen, dass sie nicht so faul und dumm war, wie sie immer gedacht hatte. Und es stimmte. Der Unterricht langweilte sie. Zumindest der Matheunterricht, in den meisten anderen Fächern kam sie nicht recht mit, weil sie sich über die letzten Jahre zu große Wissenslücken gerissen hatte.
Sie hätte mit Adam darüber reden müssen. Laut Mr. Teakin war das kein Problem, denn Andrew war in Mathe sitzen geblieben, obwohl Mr. Teakin sich große Mühe mit ihm gegeben hatte.
Sie reizte der Gedanke, etwas Besonderes zu sein. Nur einmal. Ihre Schwester hatte nie eine Klasse übersprungen, obwohl sie so viel lernte und immer Klassenbeste war.
Talent.
Was, wenn er sich in ihr täuschte? Sie war nie gut in der Schule gewesen, sie hatte sogar weniger als das Minimum gemacht und hatte meist auch die schlechtesten Noten der ganzen Klasse gehabt.
Aber sie musste sich eingestehen, dass sie sich mit Zahlen wohler fühlte, als mit Buchstaben und Wörtern. Sie las zwar unheimlich gerne und viel, weil es ihr half, aus der düsteren Realität zu fliehen und die Leere in ihrer Brust zu füllen, und die Fülle in ihrem Kopf zu leeren, aber sie war nie gut darin gewesen, Aufsätze zu schreiben. Textinterpretationen. Zusammenfassungen. Normale Recherchearbeiten. Selbst Bildbeschreibungen waren in der Grundschule die reinste Hölle für sie gewesen, woran zu guter Letzt vielleicht ihre Legasthenie Schuld war, die nie diagnostiziert worden war. Sie vertauschte Buchstaben, überlas ganze Wortteile und hatte in Rechtschreibung immer eine miserable Note und es dauerte oft ewig, bis sie einen Aufsatz fertig hatte.
Sie war auch keine sonderlich schnelle Leserin, aber sie genoss es trotzdem.
Zahlen vertauschte sie aus irgendeinem Grund nie. Zahlen waren so völlig anders. Rechnungen waren anders. So logisch. Obwohl sie auf ihre Matheprüfungen immer positive Noten gehabt hatte, hatte sich ihre Zeugnisnoten wegen schlechter Mitarbeit und mangelnden Hausaufgaben immer den anderen Noten angepasst.
Je länger sie darüber nachdachte, was Mr. Teakin glaubte entdeckt zu haben, desto mehr fiel ihr auf, dass es ihr überhaupt nicht schwer fiel, Mathematik zu begreifen. Formeln, Gleichungen, das Prinzip dahinter. Wenn sie es einmal begriffen hatte, konnte sie nichts mehr überraschen, egal, mit welchen Zahlen man sie bewarf, machte sie keine Fehler, solange sie sich konzentrierte. Solange sie nicht noch Restalkohol intus hatte oder von einer Schmerzwelle überrollt wurde, dass sie mitten in der Prüfung nicht mehr weiter machen konnte, weil sich ihre Finger um den Stift verkrampften und sie ich nur auf ihre Atmung konzentrieren konnte, sich entschuldigte und sich auf der Toilette übergab, bis die Prüfung vorbei war und sie nur die Hälfte der Aufgaben gelöst hatte.
Sie hasste es, dass ihr Körper sie dermaßen im Stich lassen konnte. Das Schmerzen es schafften, ihre Denkprozesse abzuschalten.
Auch im Kopfrechnen war sie immer recht gut gewesen, aber das war mittlerweile ein wenig eingerostet, seit sie einen Taschenrechner verwenden durfte. Sie wäre bei ihren Hausaufgaben bestimmt deutlich schneller gewesen, wenn sie sich wieder mehr mit dem Kopfrechnen beschäftigt hätte.
Mit Adam reden...
Das schien ihr beinahe wie das größte Hindernis. Er war nicht ihr Vater, nur ein vorläufiger Vormund und sobald ihre Mutter aus der Klinik entlassen werden würde, würden sie und Hannah wieder bei ihr wohnen. Wenn sie wieder auf ihre alte Schule wechseln würde, würden die Lehrer sie nicht in der zehnten Klasse in Mathe unterrichten, weil sie ihre Schülerin kannten und dieselbe Meinung von ihr hatten, wie alle anderen Menschen auch. Dass sie faul und dumm war und ihr Leben zusammen mit den Kiffern der Schule wegwarf, obwohl sie nie in der Schule gekifft hatte. Ab und zu tauchte sie mit roten Augen auf, aber es waren ihre stille, zurückgezogene, ernste Art, ihre Unfähigkeit, sich im Unterricht einzubringen oder Freundschaften zu schließen, und ihre dunklen Klamotten, die unfrisierten Locken und die dicken silbernen Ringe, die die Leute Vorurteile schließen ließen.
Waren es überhaupt Vorurteile? War sie nicht wirklich so, wie alle immer behaupteten? Es stimmte schließlich, sie war nicht gut in der Schule, gab sich keine Mühe und würde bestimmt nie aufs College gehen. Sie wusste nicht einmal, welchen Job sie später einmal haben wollte.
Mit Adam reden...
Sie rieb sich die Schläfen und schlug das Mathebuch zu. Sie wusste nicht, wie sie auf ihn zugehen sollte. Er war nicht ihr Vater, sie hatte ihn das letzte Mal gesehen, da war sie ein Baby gewesen und sie erinnerte sich nur an den Moment, an dem sie auf seinen Schultern gesessen hatte und die Welt von hoch oben gesehen hatte. Sie hörte immer noch Hannahs Lachen und ihr Flehen, weil sie auch auf seinen Schultern hatte sitzen wollen, aber das waren die einzigen Erinnerungen, die sie an ihn hatte. Vielleicht waren sie nicht einmal echt.
Sie war sich sicher, dass er ihretwegen gegangen war. Sie war nicht seine leibliche Tochter gewesen und laut ihrer Mutter war sie ein anstrengendes Baby, Kleinkind und Grundschulkind gewesen und ein noch anstrengender Teenager.
Mit Adam reden... ihn um etwas bitten... Es drehte ihr beinahe den Magen um. Wie viele Worte sie wohl mit ihm würde wechseln müssen?
Beim Abendessen fiel wie immer Julias Frage reihum, wie Andrews, Adams und Hannahs Tag gewesen war. Weil sie selbst nie eine ausführliche Erzählung von sich gab und niemand mehr als eine einsilbige Antwort erwartete, fragte Julia sie zuletzt, deutlich hörbar, dass sie keine großartige Geschichte erwartete, aber sie fragte immer noch. Entweder aus Höflichkeit oder weil Julia hoffte, aus ihr eines Tages eine andere Antwort herauszubekommen. Falls Julia auf Letzteres hoffte, dachte sie, so würde sie sie heute nicht enttäuschen.
Als Julia sich zu ihr drehte und lächelnd fragte: „Und wie war dein Tag, Isobel?", legte sie die Gabel auf den Teller, senkte sie Schultern und versuchte, niemanden direkt anzusehen, als sie antwortete: „Mr. Teakin hat gesagt, dass ich in Mathe eine Klasse überspringen kann."
Es wurde so still auf dem Tisch, dass sie sich beinahe wünschte, es nicht angesprochen zu haben. Sie merkte das Gewicht von vier Augenpaaren auf sich und ihr Puls beschleunigte sich. Ihr wurde heiß.
„Wenn ich möchte", schob sie leise hinterher.
„Das kommt... unerwartet", brach es aus Julia schließlich hervor, die vielleicht überrascht war, dass sie tatsächlich in ganzen Sätzen sprechen konnte und nicht im Alter von vier Jahren mit begrenztem Grundwortschatz hängen geblieben war.
„Ist das ein Witz?", fragte Hannah und sah ihre Schwester an. „Er will, dass du in Mathe eine Klasse überspringst?"
Hannahs Reaktion überraschte sie nicht. Ihre Schwester gehörte zu den Menschen, die ihr nie mehr zutrauten als sie je bewiesen hatte. Hannah kannte ihre Faulheit, ihre Noten, ihre Einstellung. Aber sie hatte keine Lust vor versammelter Mannschaft auf die Frage ihrer Schwester einzugehen.
Sie holte Luft und sah zu Adam, der ihren Blick stumm erwiderte. Seit langem hatte sie ihm nicht in die Augen gesehen. Sie fand es einschüchternd, Leuten in die Augen zu sehen, wenn es nicht sein musste. Sie schaffte es nur, wenn sie wütend war. Wenn sie der Zorn übermannte und sie wie ein Tier im Käfig zu kämpfen begann, dann sah sie Leuten in die Augen. Dann bekamen die Leute Angst vor ihr und ließen sie im Normalfall in Ruhe.
Aber im Augenblick fühlte sie sich nicht zornig. Nicht wütend, nicht einschüchternd, sie fühlte sich beobachtet und so, als würden alle vier Personen auf diesem Tisch sie belächeln. Als würden alle vier denken, dass Mr. Teakin einen Vollschuss hatte. Oder dass sie log. Dass es unmöglich war, dass dieses stille Mädchen intelligent genug war, um eine Klasse zu überspringen. Noch dazu in Mathe, einem Fach, das die meisten Schüler hassten, in dem die meisten Probleme hatten.
„Ich brauche dein Einverständnis", sagte sie. Kurz und knapp auf den Punkt gebracht. Mehr musste sie nicht sagen, oder? Von jetzt an reichten hoffentlich wieder ihre drei am häufigsten verwendeten Gesten: Das Nickten, das Kopfschütteln und das Schulterzucken.
Adam hob die Augenbrauen, setzte sich auf und warf Julia einen überforderten Blick zu. „Oh, ich... also... wenn -wenn Mr. Teakin meint, dass du das kannst...", begann er stockend und sie senkte den Blick wieder auf ihren Teller. „Ich werde einmal mit ihm reden." Weil er sich nicht vorstellen konnte, dass sie die Wahrheit sagte. Weil er Mr. Teakin ins Gewissen reden wollte, dass die zehnte Klasse in Mathe bestimmt zu schwer für sie wäre.
„Ich werde ihn morgen anrufen und einen Termin für ein Gespräch vereinbaren."
Mehr konnte sie wohl nicht verlangen. Als sie noch einmal aufsah, fing Julia ihren Blick auf und lächelte. „Naja, wer weiß? Vielleicht kannst du Andrew ja irgendwann noch Nachhilfe geben."
Julia meinte es nur gut, aber sie hatte das Gefühl, dass sie sich über sie lustig machen wollte.
Andrew stieß ein genervtes: „Ha ha", aus und alle begannen wieder zu essen, während sie versuchte, keine weitere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
*
Eine Woche später saß sie mit Mr. Teakin im Zimmer des Direktors. Das Gespräch zwischen Adam und Mr. Teakin war offenbar gut gelaufen (sie hätte zu gerne Mäuschen gespielt und gewusst, was die beiden Erwachsenen über sie zu sagen hatten, wenn sie nicht dabei war) und Adam hatte zugestimmt, nicht aber, ohne sie noch einmal zu fragen, ob sie sich das wirklich zutraute. Dabei hatte er sehr skeptisch ausgesehen, was nur dazu beigetragen hatte, dass sie noch dringender die Klasse überspringen wollte, um ihm zu beweisen, dass sie es konnte.
Ob sie sich das wirklich selbst zutraute, war eine Frage, die sie sich immer noch jeden Tag selbst stellte, aber sobald Mr. Teakin sie so voller Vertrauen anlächelte und ihr sagte, dass sie die richtige Entscheidung traf und es ihr in der anderen Klasse Spaß machen würde, glaubte ihm ein kleiner Teil von ihr. Er unterrichtete auch die zehnte, sonst hätte sie bestimmt nie zugestimmt.
Nur Mr. Oyenusi, der Direktor, ein sehr schwarzer, korpulenter Herr mit kleinen runden Brillengläsern, breiter Nase und einem so großen Kopf, dass er jeder Wassermelone Konkurrenz gemacht hätte, war nun noch zu überzeugen. Seine grauen Haare waren ganz kurz geschoren und sein Doppelkinn erzitterte mit jedem Wort, das er sagte. Aber seine Stimme klang nicht halb so streng, wie er aussah. Er klang die meiste Zeit über besorgt oder nachdenklich.
„Ihre zehnte Klasse ist doch schon recht weit mit dem Stoff", sagte er nun. Bestimmt hatte er gehört, was die anderen Lehrer über sie zu sagen hatten. Natürlich war er skeptisch. „Glauben Sie, dass Isobel den Stoff der neunten Klasse so schnell aufarbeiten und dem neuen Stoff folgen kann?"
Daran hatte sie gar nicht gedacht und plötzlich wurde ihr flau im Magen. Würde sie es schaffen, sich ein ganzes Jahr Mathe selbst beizubringen? Würde sie überhaupt mithalten können mit der anderen Klasse? Was, wenn sie sich irrte und gar nicht so gut in Mathe war? Wenn Mr. Teakin sich irrte? Wenn sie in den anderen Klassen noch weiter zurückfiel?
Was, wenn Mr. Teakin sich täuschte? Wenn er in ihr nur etwas Besonderes sehen wollte, weil sie das komplette Gegenteil von etwas Besonderem war? Weil es für alle anderen ein Schock sein würde, wenn sich herausstellte, dass sie gute in Mathe war. Was, wenn er nur an sie glaubte, weil er schon einmal einen Schüler mit ähnlichem Verhalten gehabt hatte und eine Begabung in ihr zu entdecken versuchte, die gar nicht da war?
Mr. Teakin ließ sich von der Frage des Direktors kein Bisschen aus der Fassung bringen.
„Es ist eine Herausforderung, ohne Frage. Aber ich habe vollstes Vertrauen darin, dass Isobel dem gewachsen ist."
„Und wie kommen Sie zu dieser Annahme, wenn ich fragen darf?" Mr. Oyenusi verschränkte die Finger ineinander und wuchtete seine kräftigen Unterarme auf den alten Holztisch. „Ich höre doch, was die anderen Lehrer sagen." Er warf einen Blick auf sie, die stumm auf dem Stuhl saß und sich am liebsten unsichtbar gemacht hätte. „Ich möchte Sie keinesfalls verurteilen, aber der Schulwechsel alleine ist doch bestimmt schon Herausforderung genug, oder?"
Sie schwieg. Bestimmt hatte er recht. Bestimmt war sie nicht gut genug. Die zehnte Klasse in Mathe würde sie nicht überleben. Und wenn sie sie doch überlebte, würde sie in allen anderen Fächern untergehen.
„Ich habe mir fast gedacht, dass Sie das sagen", lächelte Mr. Teakin und deutete auf ein paar zusammengeheftete Blätter, die vor ihm auf dem Tisch lagen. „Ich habe hier die letzte Klausur der neunten Klasse vom letzten Jahr. Isobel hat vieles davon noch nicht gelernt, aber ich bin mir sicher, dass sie alle Aufgaben lösen kann."
Eine viel zu kühne Behauptung, stellte sie fassungslos fest und schluckte schwer. Die letzte Prüfung der neunten Schulstufe. Sie hatte noch nicht einmal die erste Klausur der Neunten geschrieben, woher wollte Mr. Teakin wissen, dass sie dazu einfach so in der Lage war? Sie blickte erschrocken auf die zusammengehefteten Seiten.
Mr. Oyenusi klatschte in die Hände und machte eine ausladende Handbewegung. „Gut. Ich habe gerade nichts zu tun und bin bereit, mich sofort überzeugen zu lassen. Haben Sie Ihren Taschenrechner dabei, Isobel?"
Ihr Atem geriet ins Stocken. „Jetzt?" Sie wollte sagen, dass sie jetzt nicht einfach so eine Prüfung halten konnte, ohne sich den Stoff der neunten Klasse überhaupt angesehen zu haben. Das ging nicht, das konnte niemand von ihr erwarten, auch Mr. Teakin nicht. Sie würde sich völlig blamieren. Nur Fehler machen und Mr. Oyenusi würde ihre verfrühte Versetzung nicht erlauben. Sie würde Mr. Teakin enttäuschen und Hannah und Adam würden recht behalten, aber bevor sie richtig begriff, was vor sich ging, war sie auf ihrem Stuhl näher an den Pult des Direktors gerutscht, der ihr Platz geschafft hatte, hatte die Prüfung vor sich liegen und Stifte und Taschenrechner lagen bereit, um von ihr verwendet zu werden.
Während Mr. Oyenusi die Stoppuhr auf seinem Handy startete und ihr sagte, dass sie zwei Stunden Zeit hatte, starrte sie unbewegt auf die Papiere.
Die vielen Zahlen und Buchstaben und Zeichen, die sich vor ihren Augen verdrehten und plötzlich keinen Sinn mehr ergaben. Sie glaubte, vergessen zu haben, was eine eins und was eine fünf war. Minus und Plus schienen ineinander zu fließen. Sie lachten sie aus. Die Zahlen lachten sie aus. Nie im Leben würde sie auch nur eine einzige Aufgabe lösen. Ihre Finger verkrampften sich um den Stift, während sie auf die erste Frage starrte. Die erste Aufgabe, die in ihrem Kopf einfach keinen Sinn ergab, egal, wie oft sie sie auch las.
Beobachtet, sie wurde beobachtet. Ihr Versagen wurde beobachtet. Enttäuschend, sie war genauso enttäuschend, wie ihre Mutter es immer vorhergesagt hatte. Sie sollte aufhören, Mr. Teakin sagen, dass sie es sich anders überlegt hatte. Sie spürte heiße Tränen in ihren Augen brennen und glaubte für einen Augenblick, keine Luft mehr zu bekommen, als Mr. Teakin die unsägliche Stille zerriss und mit locker lustigem Unterton sagte: „Ich glaube, es würde ihr leichter fallen, wenn wir nicht wie zwei alte Aasgerier über ihr kreisen und sie in Grund und Boden starren."
Mr. Oyenusi gab ein kehliges Lachen von sich. „Da haben Sie vielleicht recht. Einen Augenblick."
Sie versuchte sich auf ihre Atmung zu konzentrieren. Sie erstickte nicht, sie bekam ausgezeichnet Luft, kein Grund zur Panik. Trotzdem glaubte sie, dass man ihr die angespannten Nerven deutlich ansehen konnte.
Mr. Oyenusi tippte etwas in seinen Rechner, der vielleicht älter war als jeder Dinosaurier. „Der Musikraum ist gerade für die nächsten zwei Stunden frei. Und es besteht keine Schummelgefahr, denn die Instrumente geben keine mathematischen Lösungen her." Er lachte und Mr. Teakin nickte.
„Sehr gut, dann schlage ich vor... dass wir Isobel dort diese Aufgaben lösen lassen. Alleine und Ruhe."
Sie atmete erleichtert auf. Alleine. Unbeobachtet. Das war gut. Alleine war gut.
Eigentlich hatte sie keine Prüfungsangst, aber sich so plötzlich und unvorbereitet mit nie gekannten Aufgaben vor zwei Erwachsenen beweisen zu müssen, hatte ihr die Luft zum Atmen geraubt und sie war unendlich dankbar, dass Mr. Teakin das erkannt hatte. Andere Schüler mochten damit keine Probleme haben, sie dafür umso mehr.
Sie war noch nie im Musikraum gewesen und außer bunter Plakate, vieler Instrumente und ein paar Einzelpulten gab es auch nicht sonderlich viel zu sehen.
Sie setzte sich an den hintersten Tisch, rückte die Prüfung und die Stifte und ihren Taschenrechner zurecht und Mr. Oyenusi bat um ihr Smartphone, damit sie nicht schummeln konnte. Sie händigte es ihm bereitwillig aus.
„Da das alles eine sehr spontane Aktion ist, haben Sie wohl keinen Schummelzettel dabei", lachte er. „Wir werden Sie jetzt alleine lassen. Sie haben zwei Stunden Zeit, über der Türe hängt die Uhr."
„Ich werde in der Halbzeit einmal nach dir sehen, in Ordnung?", fragte Mr. Teakin und lächelte sie aufmunternd an. Da war es schon wieder. Dieses unumstößliche Vertrauen, dass sie jedes einzelne Beispiel wirklich lösen würde.
Sie nickte.
„Gut. Dann viel Erfolg!", meinte Mr. Oyenusi freudig und die beiden verschwanden aus dem Musikzimmer und ließen sie alleine mit einer Prüfung die sie eigentlich unmöglich bestehen konnte.
Sie nahm den Stift erneut in die Hand und las sich die erste Aufgabe durch, die wesentlich mehr Sinn ergab, als noch vor zehn Minuten und viel leichter war als befürchtet.
Und dann begann sie zu rechnen.
*
Zwei Stunden später saßen sie alle drei wieder in Mr. Oyenusis Büro. Mr. Teakin hatte ihm die Lösungen für die Prüfung überreicht, damit er selbst ihre Ergebnisse damit abgleichen konnte.
Er bekam den Mund vor Staunen kaum noch zu. „Unglaublich..." Nach der letzten Aufgabe legte er die Lösungen und ihre inoffizielle Prüfung zur Seite und sah sie beeindruckt an. „Kein Fehler."
Das war nicht ganz richtig. Bei drei Aufgaben hatte sie Rechenfehler gemacht, diese aber sofort bemerkt, weil das Ergebnis einfach keinen Sinn ergeben hatte. Es hatte sich auf zwei Vorzeichenfehler und einen Kommafehler beschränkt.
Manche Ergebnisse hatten so seltsam ausgesehen, dass sie sich sicher gewesen war, sich verrechnet zu haben, aber beim zweiten Durchgang war sie auf dasselbe Ergebnis und zu der Erkenntnis gekommen, dass es stimmen musste. Die Ankreuzfragen hatten sie vor eine größere Herausforderung gestellt, denn obgleich ihr die Praxis leicht fielt, hatte sie von der Theorie noch nie gehört und wahllos mit Zahlen und Rechenbeispielen herumexperimentiert, um die theoretischen Aufgaben lösen zu können.
Viele der Aufgaben hatte sie noch nie gesehen, das stimmte schon, aber die Aufgabenstellungen waren deutlich gewesen und hatten ihr einen Leitfaden für das gegeben, was von ihr verlangt worden war.
Es war nicht leicht gewesen, aber irgendwie hatte es Spaß gemacht und jetzt war sie sich sicher, dass sie die neunte Klasse problemlos würde überspringen können.
Mr. Teakin zwinkerte ihr stolz zu und sie spürte ein Lächeln in ihr aufsteigen, auch, wenn es nicht hervorbrach. Eine Aufregung, dass sie vielleicht doch etwas Besonderes war. Dass sie einmal in ihrem Leben besser sein durfte, als ihre Schwester.
„Was sagen Sie?", fragte Mr. Teakin den Schuldirektor, der als Letzter seine Zustimmung geben musste.
In seinen Augen lag immer noch eine begeisterte Bewunderung, als er nickte und sagte: „Ich glaube, wir täten Isobel einen großen Gefallen mit einer Versetzung."
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